DER POP BTHVN

 

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD.[1]

Nr. 381

Man wüsste heute wohl kaum, wo Savoyen liegt, wenn es nicht ein berühmtes Skigebiet wäre und ein nicht weniger berühmter Prinz aus dem Hause Savoyen einst die Türken aus Europa vertrieben hätte und schließlich in einem früher sehr bekannten Lied von den kleinen Jungen aus Savoyen berichtet würde, die sich mit ihren dressierten Murmeltieren durch Europa bettelten.  Goethe soll sich in so einen verlausten und verkrätzten Jungen dichterisch verguckt haben, so dass er ihn in seine Komödie ‚Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern‘ auch mit dem Namen seines Murmeltieres aufnahm. Beethoven wiederum las den Text und schrieb, ebenso wie zu der Tragödie Egmont die Schauspielmusik[2]. Das Lied ging in den Volksliedschatz ein, später in das Repertoire der Jugendbewegung und Lebensreformer um die 19. Jahrhundertwende. Dann tauchte es mit seiner schelmischen Sozialkritik ein bisher letztes Mal in der Friedens- und Singer-Songwriter-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf. Wer nicht glauben kann, dass die Melodie von Beethoven stammt, höre zum Vergleich den dritten Satz des ersten Klavierkonzerts, wo er mit dem gleichen slawisch-romantischen Wechsel zwischen Dur und Moll spielt. Eine ganz kleine Ecke von Beethoven ahnt also eine Winzigkeit von Tschaikowski voraus.  Wer nicht glauben kann, dass die Melodie von Beethoven stammt, überprüfe in diesem Jahr sein Beethovenbild.

Goethes Schwank oder Posse wirkt heute etwas verstaubt, am lebendigsten sind noch das Mädchen, das Eier und Milch verkauft und um das sich der Zigeunerhauptmann und sein Bursche streiten, und der Knabe Marmotte [ICH KOMME SCHON DURCH MANCHE LAND], der die Menschen auf dem Jahrmarkt mit seinem Lied und mit seinen Kunststücken erfreut. Er ist so eindringlich, obwohl sein Auftritt in der Weltliteratur winzigst ist, dass es im neunzehnten Jahrhundert ein Standardsujet für Gemälde gab, auf dem seine Tränen, nicht aber seine Krätze dargestellt waren. Die Reichen verkitschen sogar das Elend der Armen, während die Armen in den Hochglanzmagazinen die Allüren der Reichen bewundern. Trotzdem ist es erstaunlich, welch langwährende Wirkung ein so kleines, allerdings auch sehr schönes Lied haben kann. Es spielt mit dem Hunger, gleich zweimal mit der Erotik einer Jungfer und genauso mit Dur und Moll. Beethoven ist eben nicht der Held auf einem Sockel, wenn er auch nicht der Gelegenheitskomponist war wie Bach, Händel oder gar Scarlatti und Haydn.  Trotz der sechsundfünfzig Wohnungen in dreißig Wiener Jahren ist er nicht das ungehobelte Genie gewesen, das im Leben nicht zurechtkam. Er hatte viele Freunde, aber vor allem auch Freundinnen, Briefwechselpartner, Mäzene, Kollegen, allein bei der Uraufführung der siebten Sinfonie spielte ein Dutzend berühmter Musiker aus ganz Europa mit! Und er hat eben nicht nur tiefgründige Großmeisterwerke, sondern auch sehr schöne Petitessen wie dieses Lied geschrieben, das immerhin auch nach mehr als zweihundert Jahren weit bekannter ist als das ziemlich veraltete und vergessene Theaterstück seines Kollegen Goethe, dem es entstammt. Goethe und Beethoven haben sich im Kurpark von Teplitz getroffen und dort promenierte auch die kaiserliche Familie, Beethoven ging mittendurch und ließ sich grüßen, Goethe katzbuckelte am Rande mit gezogenem Hut. Aber obwohl Beethoven der Meinung war, dass es genügend Adlige, dagegen nur einen Beethoven gäbe, hat er zeitlebens bedauert nur van und nicht von zu heißen. Andererseits hatte Goethe in seinem Großherzog nicht nur einen Gönner, sondern auch einen gleichrangigen Freund gefunden, der ihn und Schiller sogar auch noch mit dem von belohnte.

Weithin wird Beethoven auf seine Vertonung der Worte Schillers aus dessen Ode an die Freude reduziert. Sie wird inflationär zu Staatsanlässen und neuen Jahren gespielt, dient außerdem als Europahymne.  Das ist das KLEINENACHTMUSIK- oder KREUZIMGEBIRGESYNDROM.  Manche Kunstwerke verkommen zu Postkarten oder Erkennungsmelodien. Dafür können die Kunstwerke nichts.

Wir hören die neunte Sinfonie nicht als Sinfonie, sondern als dreisätziges Vorspiel zur Ode, und die Ode als Hauptbestandteil des vierten Satzes. Aber so ist es nicht. Jeder der drei Sätze ist eine eigene Sinfonie über ein Element des vierten Satzes. Und der vierte Satz ist ein Gesamtkunstwerk, das Beethoven hier gemeinsam mit Schiller, der leider schon lange tot war, entworfen hat. Die Millionen stürzen nieder, weil sie eben nicht die Freude als die mögliche Triebfeder und Tochter aus dem Elysium, dem vorchristlichen Paradies, erkennen und den Schöpfer der Welt – ein Prinzip, kein Mensch – auch nicht einmal ahnen wollen. Diese Erkenntnisse waren für Beethoven nicht neu, als er sich an die Verwirklichung seines lang gehegten Plans machte, den Schillertext zu vertonen. Schon 1795, also fünfundzwanzigjährig, schrieb er an einen Jugendfreund aus der Bonner Zeit, der inzwischen als Diplomat nach Russland aufbrach, dass er auf die Zeit hoffe, in der es nur Menschen geben wird.

Heute haben wir den kleinen Jungen namens Marmotte, er heißt so wie sein tanzendes Murmeltier, als Stellvertreter der Menschheit benannt. In den nächsten zweiundfünfzig Wochen wollen wir weitere Menschen in Beziehung zur Musik von Beethoven setzen.

Es ist zu befürchten, dass das neuerliche Beethovenjahr, sein 250. Geburtstag im Dezember, zu einer weiteren Inflation führen wird. Was uns früher alles fern war, ist uns heute näher als nah, und was und früher alles rar war, verkommt zur Inflation. Ob man dieser Inflation ausgerechnet mit einer neuen Textfolge wird entgegensteuern können, mag bezweifelt werden, aber nicht, bevor es probiert wurde.

[1] Brief an Heinrich von Struve, 17. September 1795

[2] Opus 52 Nr. 7

PFINGSTEN UND DIE TELEOLOGIE

 

Nr. 244

Makro- und mikroperspektivisch gehen wir immer von uns aus. Wir beurteilen oder verurteilen den Fremden nach unseren Maßstäben. Gott und Tier und Pflanze müssen wir erst in der Vorstellung zu Menschen machen, damit wir sie verstehen. Auch Prozesse stellen wir uns anthropomorph vor: das berühmte Bild von der kaputten Uhr, die ein blinder Uhrmacher wieder zusammensetzen muss, ohne dass er sie vorher gekannt hat. Die Uhr ist ein von Menschen geformter und mit Zwecken ausgerüsteter Gegenstand, also, folgern wir, muss die Nachtigall, die vor unserem Fenster singt, ebenfalls ein Gegenstand sein, den jemand hergestellt und verzweckt hat. Der Baum, so haben wir es in unserer mittelalterlichen Schule gelernt, ist dazu da, uns Sauerstoff zu liefern. Es ist verzwickt, dass wir uns die Welt immer nur andersherum vorstellen können, eben von uns aus gesehen.

Adam Smith, der Vater der Nationalökonomie, erklärte das wahre Wesen des Bäckers, der, wie wir, nichts will, als sich erhalten. Ein Rechtsanwalt oder ein Zeitungsschreiber hat, außer dass er sich erhalten will, auch noch seinen gesellschaftlichen Status als Ziel. Der alte Bach schrieb am Samstagabend für den Sonntag, nicht für den Weltruhm. Der Weltruhm war die Zugabe. Und Beethoven, 1809 auf dem Gipfel seines Ruhm, las in der Zeitung, dass das letzte lebende Kind des alten Bach in Not lebt, überwies prompt 307 Gulden, eine stattliche Summe, die alle ihre Probleme löste und Erwartungen übererfüllte, wie sie ebenso prompt mit Freudentränen in den Augen Beethoven antwortete. Es geht um Versorgung. Die Arbeitsteilung bringt immer kompliziertere Verwicklungen hervor, umso wichtiger festzustellen, dass Lord Zuckerberg nicht die Weltherrschaft wollte, sondern ein leichtes Leben. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht dem Bäcker und Bach und Beethoven und Lord Zuckerberg dankbar sein können und sogar sollen. Wir können auch dem Baum dankbar sein und seine Würde achten. Aber er ist nicht in einem blinden Uhrwerk für uns erschaffen worden, damit wir ihn verheizen. Andererseits müssen wir uns auch nicht wegen all unserer Schuld verkriechen, nur weil wir die einzigen sind, die Schuld erkennen. Wir bleiben eine Art unter Arten und richten Schaden und Nutzen an, wie wir ihn verstehen. Allerdings ist selbst unser wissenschaftlicher Verstand nicht in der Lage, alle Ursachen oder alle Folgen eines einzigen Gegenstandes oder einer einzigen Erscheinung zu erfassen.

Es wäre natürlich schön und wünschenswert, wenn unsere Vernunft uns hinderte, noch mehr Schaden anzurichten als die sprichwörtlichen alttestamentarischen und aktuellen Heuschreckenschwärme, die ganze Dörfer und Landschaften auffressen können. Wir würden schon wieder gern die falsche Frage stellen: vielleicht hat selbst die Inflation der Heuschrecken einen Zweck? Baruch d’Espinoza ist aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgeschlossen worden, weil er schrieb, dass ein Gott, der einen Zweck hat, keinen Sinn hat. Der Sprachgebrauch war allerdings noch hundert Jahre nach Spinoza, wie wir ihn meist nennen, ungenau: Ende, Zweck und Sinn fielen mehr oder weniger zusammen. Der Streit allerdings, ob den Dingen ein Zweck schon innewohnt, tobt von der Antike bis heute munter fort. Insofern ist es nicht peinlich, zu einer Partei zu gehören. Viel spricht für intelligent design, aber wahrscheinlich noch mehr dagegen. Wir haben hier schon oft geschrieben,. dass die intelligenteste Lösung dieses Streits von Darwin selbst stammt, der ihn auf den Gipfel trieb, nämlich, dass Gott nicht nur die Welt der Dinge, sondern auch die Welt der Prozesse, das methodische Material lieferte, die Evolution in der Schöpfung schon anlegte. Selbst Einstein, der nicht in die Synagoge ging und Gott mit physikalisch-philosophischen Scherzen* eher ausschloss, stellte sich einen menschengestaltlichen Gott vor, der würfelt oder nicht würfelt. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht jeder Religion und vor allem jedem religiösen Menschen mit großer Achtung und Ehrfurcht begegnen sollen. Allerdings bleibt zu bezweifeln, ob all diese religiösen Vorstellungen nicht in den nächsten tausend Jahren mit der Kunst und der Philosophie zusammenfallen werden. In der Kirche Santa Maria Novella in Florenz, gleich neben dem Bahnhof, ist das berühmteste Bild von Masaccio zu sehen, das die Trinität mit nur zwei Teilnehmern zeigt: Gottvater und Gottes Sohn. Aber wo ist der Heilige Geist, fragt man nicht nur zu Pfingsten. Und Masaccio hat die Antwort auf seinem Bild gegeben, das genauso Kunst wie Philosophie wie Religion ist. Der Geist ist die Perspektive.

Aus dieser Allgegenwart der Teleologie ergeben sich zwei Erscheinungen der modernen Welt: die Vermenschlichung der Maschinen und die Verschwörungstheorien. Beides gibt es in zunehmender Form seit dem Mittelalter. Wir erinnern an den Schachautomaten von Johann Nepomuk Mälzel, der aber Schachtürke hieß und ein Fake war, allerdings so grandios, dass die geistreichsten Schriftsteller der Zeit all ihren Geist bemühen mussten, um das Rätsel nach vielen Jahren zu lösen. Sein Nachfolger ist das Smartphone, das so vielen Menschen Menschenersatz ist. Für Beethoven baute Mälzel übrigens den Metronom. Seitdem wechselte die Priorität in der Musik von der Melodie und der Harmonie zum Rhythmus.

Verschwörung ist heute nicht mehr nur Brunnenvergiftung, die es aber auch noch gibt. Der Vorwurf der Verschwörung richtet sich wieder einmal gegen die Eliten, die mit der Demokratie ein neues Gesellschaftsmodell entwarfen. Früher litt das Volk unter den Führern, heute leidet es unter dem Führermangel. Jeder, der sich nicht selbst führt, muss leiden. Das gilt auch für Schmerz und Krankheit. Rousseau hat das als erster erkannt, hatte aber gleichzeitig furchtbare Angst vor Verfolgung und Erkältung. So ist der Mensch. So sind wir.

 

 

* Einstein soll einem Kardinal, der ihn für die Kirche gewinnen wollte, gesagt haben, dass er einträte, wenn der Kardinal zwei Fragen beantworten könne, erstens, ob Gott allmächtig, und zweitens, ob er demzufolge fähig sei, einen Stein (EIN STEIN) zu machen, den er selbst nicht heben kann.