DIE BTHVN EMANZIPATION

Nr. 382

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?*

 

Als der junge Beethoven 1792 von Bonn nach Wien zu einem Studienaufenthalt aufbrach, von dem er übrigens nie zurückkam, brach die europäische Menschheit zu einer ähnlich dimensionierten Veränderung des gesamten Lebens auf, wie wir sie heute erleben. Wir können deshalb gut verstehen, dass und wie den Menschen das Staunen im Halse steckenblieb. Damals ging es auf der einen Seite um das, was wir heute Menschenrechte nennen, auf der anderen Seite um eine beinahe nicht vorstellbare Technisierung der menschlichen Existenz.

Beethoven war mit einem der großen Erfinder seiner Zeit eng befreundet, Nepomuk Mälzel. Wir kennen ihn als den Konstrukteur des Metronoms, eines einfachen mechanischen Uhrwerks, das den Takt der Musik misst oder antizipiert. György Ligeti, der 1967 den Beethovenpreis der Stadt Bonn erhielt, schrieb 1962 ein Poem für 100 Metronome, das zeigt, dass alle Präzisionsinstrumente falsch gehen. Es gibt keine Gleichzeitigkeit. Es gibt keine Hierarchie. Mälzel konstruierte aber auch einen Schachautomaten, der ein mechanisch-kommunikatives Meisterwerk, aber gleichzeitig ein double fake war, indem Mälzel die Urkonstruktion gekauft und nur verbessert hatte und indem in dem Apparat ein Schachspieler verborgen war, was viel später Edgar Allan Poe nur durch Beobachtung und Argumentation nachweisen konnte, ein seltener Fall der Kraft der Worte. Die damaligen Menschen begegneten Maschinen, die sie nicht verstanden, sie standen einer Welt gegenüber, wie Professor Hegel in Berlin verkündete, die sie selbst nicht gemacht hatten. Es verband sich auch am Beginn des mechanisch-industriellen Zeitalters der moderne Begriff der Maschine mit dem des Dämons. Ganz so hatten die alten Griechen auf ihrem Theater unliebsame Probleme durch den deus ex machina, den Gott aus der (Theater-)Maschine lösen lassen.

Beethoven erlebte – und vielleicht erklärt von Nepomuk Mälzel, übrigens weltberühmt durch seine Automaten, die keine fakes waren, er war im gleichen Jahr wie Beethoven nach Wien gekommen – den Beginn der Eisenbahn, der Dampfschifffahrt, der Luftschifffahrt, des Liverpool-Kapitalismus und der Verkündung der Menschenrechte durch die amerikanische und französische Revolution. So wie heute waren das zunächst Ereignisse, die nur in den – ebenfalls soeben erst erfundenen – Zeitungen verkündet wurden und die man im täglichen Leben vergebens suchte, andererseits war jedem denkenden Menschen klar, dass sich die Welt soeben tatsächlich änderte.

Während das neunzehnte Jahrhundert in Beethoven den genialen Nerd sah, der auf seinen Flügeln, die damals noch Pianoforte hießen, sempre forte herumhämmerte und im täglichen Leben zum Scheitern verurteilt war, unterstützt wurde diese Lebensuntüchtigkeit durch seinen extremen Alkoholismus und die dadurch – mit – verursachte Taubheit, sehen wir heute eher den emanzipierten Bürger.

Mit Ausnahme weniger Denker, etwa Rousseau und Alexander von Humboldt, ging man von einer natürlichen hierarchischen Ordnung aus, die qualitative und vor allem unveränderbare Unterschiede beschrieb. Demzufolge war der Bürger ein besserer Handwerker, wenn nicht überhaupt der Handwerker, der dem Adel zu dienen hatte. Allerdings gab es immer Ausnahmen, Adlige, wie Friedrich II. von Preußen oder eben Humboldt, die das anders sahen, oder Bürgerliche wie Goethe, denen es gelang, ganz nach oben zu kommen. Aber noch Beethoven haderte mit dem kleinen Buchstabenunterschied seiner Herkunft, er wäre gern ein von Beethoven gewesen. Schließlich hat er den fehlenden Buchstaben durch Selbstbewusstsein ersetzt. Der Bürger ist also jemand, der Herkunft durch Leistung ersetzt. Das ganze folgende neunzehnte Jahrhundert würde zeigen, dass die bedeutendsten Denkfehler der Menschheit Identität und Definition sind. Rousseau zeigte den Wilden, so nannte man damals die nichteuropäischen Menschen, als moralisch höherstehend, Darwin zeigte Wal und Fledermaus als Säugetiere und das Säugetier Mensch als Teil und nicht Vorstand der Natur. Napoleon riss, wir hören es heute nicht mehr so gerne, die Standesschranken nieder und erklärte alle Menschen für Brüder, was Schiller dann für die Neuzeit kodifizierte und Beethoven in die allgemeingültige Form goss.

Der Bürger war ein riesiger Brocken im Emanzipationskuchen, an dem seit der Renaissance gebacken wurde. Bonner Freunde berichteten Beethoven sicherlich von einem anderen Schritt zur Verbrüderung: erfreute Bürger schlugen mit Beilen das Tor zum Bonner Ghetto ein, nachdem die französische Besatzung die Juden zu freien Bürgern erklärt hatte. Im benachbarten Frankfurt stieg nicht nur Bürger Goethe auf, sondern auch die ein Jahrhundert lang finanzmächtige Familie Rothschild, vor der die Neurechten heute noch zittern, so mächtig war ihr Ruf.

Beethoven hat die Widmung seiner dritten Sinfonie** rückgängig gemacht, als ihr Namensgeber, der Bürgergeneral, sich als Kaiser definierte. Aber solche Bezeichnungen – Eroica, die Heldenhafte – und solche Widmungen sind ohnehin Zeitgeist und nicht Grundlage der Interpretation. Die rechte Interpretation ist das, was wir hören. Man muss nicht Musik oder Wissenschaft studieren, um Musik zu verstehen: Rap kam aus den New Yorker Ghettos und ist heute so populär wie damals in Wien Beethoven. Verdi griff einem Leierkastenmann in die Kurbel, weil ihm das Tempo nicht gefiel, und heute kann jeder Mensch auf der Welt ALL YOU NEED IS LOVE pfeifen.

Heute kann man sich zuhause ganz sicher fünfzig verschiedene Aufnahmen der dritten Sinfonie anhören und man denkt bestimmt nicht an Napoleon oder Nichtnapoleon. Vielleicht hört man im vierten Satz zwei Themen oder Motive miteinander abwechseln. Sie werden beide ausgeführt, das starke, strahlende, große und das softe Thema, das den Menschen weichzeichnet, fragil, empathisch. Dann donnert wieder die Emphase dazwischen: sei Held, Held, Held. Aber das kleine weiche Thema summt: bleib Mensch, bleib Mensch, bleib Mensch. Der afrodeutsche Rapper Filimon Mbrhatu rappt: Mensch ist Mensch und Papier ist Papier. Er meint seinen nicht vorhandenen Pass, obwohl er doch offensichtlich vorhanden ist. Wo ist der Unterschied zu Beethoven?

Beethoven hat die beiden Themen dann so zusammengeführt, übereinander gelegt, wie es vor ihm – aber ganz anders – nur Bach konnte. Der Mensch ist nicht definierbar, reduzierbar, schon gar nicht durch seine Identität oder Herkunft. In seinem Inneren widerstreiten immer verschiedene Prinzipien oder Geiste. Wir erleben es gerade jetzt: das Analoge lässt sich durch das Digitale nicht austreiben. Im Mittelalter sang man: so treiben wir den Winter aus, durch unsre Stadt zum Tor hinaus, aber wir wissen und auch Beethoven wusste, dass es leider nicht geht, denn er hatte das Jahr ohne Sommer, 1815, miterlebt. Der Osten lässt sich durch den Westen nicht vertreiben, so schallt es aus Sachsen. Die Autoritären, die Menschen töten, bekämpfen die Liberalen, die auf Einsicht hoffen. Und so ist immer alles offen: Beethoven, dritte Sinfonie, vierter Satz.

 

*1795, Brief an Struve

**opus 55, Es-Dur, 1805

PFINGSTEN UND DIE TELEOLOGIE

 

Nr. 244

Makro- und mikroperspektivisch gehen wir immer von uns aus. Wir beurteilen oder verurteilen den Fremden nach unseren Maßstäben. Gott und Tier und Pflanze müssen wir erst in der Vorstellung zu Menschen machen, damit wir sie verstehen. Auch Prozesse stellen wir uns anthropomorph vor: das berühmte Bild von der kaputten Uhr, die ein blinder Uhrmacher wieder zusammensetzen muss, ohne dass er sie vorher gekannt hat. Die Uhr ist ein von Menschen geformter und mit Zwecken ausgerüsteter Gegenstand, also, folgern wir, muss die Nachtigall, die vor unserem Fenster singt, ebenfalls ein Gegenstand sein, den jemand hergestellt und verzweckt hat. Der Baum, so haben wir es in unserer mittelalterlichen Schule gelernt, ist dazu da, uns Sauerstoff zu liefern. Es ist verzwickt, dass wir uns die Welt immer nur andersherum vorstellen können, eben von uns aus gesehen.

Adam Smith, der Vater der Nationalökonomie, erklärte das wahre Wesen des Bäckers, der, wie wir, nichts will, als sich erhalten. Ein Rechtsanwalt oder ein Zeitungsschreiber hat, außer dass er sich erhalten will, auch noch seinen gesellschaftlichen Status als Ziel. Der alte Bach schrieb am Samstagabend für den Sonntag, nicht für den Weltruhm. Der Weltruhm war die Zugabe. Und Beethoven, 1809 auf dem Gipfel seines Ruhm, las in der Zeitung, dass das letzte lebende Kind des alten Bach in Not lebt, überwies prompt 307 Gulden, eine stattliche Summe, die alle ihre Probleme löste und Erwartungen übererfüllte, wie sie ebenso prompt mit Freudentränen in den Augen Beethoven antwortete. Es geht um Versorgung. Die Arbeitsteilung bringt immer kompliziertere Verwicklungen hervor, umso wichtiger festzustellen, dass Lord Zuckerberg nicht die Weltherrschaft wollte, sondern ein leichtes Leben. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht dem Bäcker und Bach und Beethoven und Lord Zuckerberg dankbar sein können und sogar sollen. Wir können auch dem Baum dankbar sein und seine Würde achten. Aber er ist nicht in einem blinden Uhrwerk für uns erschaffen worden, damit wir ihn verheizen. Andererseits müssen wir uns auch nicht wegen all unserer Schuld verkriechen, nur weil wir die einzigen sind, die Schuld erkennen. Wir bleiben eine Art unter Arten und richten Schaden und Nutzen an, wie wir ihn verstehen. Allerdings ist selbst unser wissenschaftlicher Verstand nicht in der Lage, alle Ursachen oder alle Folgen eines einzigen Gegenstandes oder einer einzigen Erscheinung zu erfassen.

Es wäre natürlich schön und wünschenswert, wenn unsere Vernunft uns hinderte, noch mehr Schaden anzurichten als die sprichwörtlichen alttestamentarischen und aktuellen Heuschreckenschwärme, die ganze Dörfer und Landschaften auffressen können. Wir würden schon wieder gern die falsche Frage stellen: vielleicht hat selbst die Inflation der Heuschrecken einen Zweck? Baruch d’Espinoza ist aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgeschlossen worden, weil er schrieb, dass ein Gott, der einen Zweck hat, keinen Sinn hat. Der Sprachgebrauch war allerdings noch hundert Jahre nach Spinoza, wie wir ihn meist nennen, ungenau: Ende, Zweck und Sinn fielen mehr oder weniger zusammen. Der Streit allerdings, ob den Dingen ein Zweck schon innewohnt, tobt von der Antike bis heute munter fort. Insofern ist es nicht peinlich, zu einer Partei zu gehören. Viel spricht für intelligent design, aber wahrscheinlich noch mehr dagegen. Wir haben hier schon oft geschrieben,. dass die intelligenteste Lösung dieses Streits von Darwin selbst stammt, der ihn auf den Gipfel trieb, nämlich, dass Gott nicht nur die Welt der Dinge, sondern auch die Welt der Prozesse, das methodische Material lieferte, die Evolution in der Schöpfung schon anlegte. Selbst Einstein, der nicht in die Synagoge ging und Gott mit physikalisch-philosophischen Scherzen* eher ausschloss, stellte sich einen menschengestaltlichen Gott vor, der würfelt oder nicht würfelt. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht jeder Religion und vor allem jedem religiösen Menschen mit großer Achtung und Ehrfurcht begegnen sollen. Allerdings bleibt zu bezweifeln, ob all diese religiösen Vorstellungen nicht in den nächsten tausend Jahren mit der Kunst und der Philosophie zusammenfallen werden. In der Kirche Santa Maria Novella in Florenz, gleich neben dem Bahnhof, ist das berühmteste Bild von Masaccio zu sehen, das die Trinität mit nur zwei Teilnehmern zeigt: Gottvater und Gottes Sohn. Aber wo ist der Heilige Geist, fragt man nicht nur zu Pfingsten. Und Masaccio hat die Antwort auf seinem Bild gegeben, das genauso Kunst wie Philosophie wie Religion ist. Der Geist ist die Perspektive.

Aus dieser Allgegenwart der Teleologie ergeben sich zwei Erscheinungen der modernen Welt: die Vermenschlichung der Maschinen und die Verschwörungstheorien. Beides gibt es in zunehmender Form seit dem Mittelalter. Wir erinnern an den Schachautomaten von Johann Nepomuk Mälzel, der aber Schachtürke hieß und ein Fake war, allerdings so grandios, dass die geistreichsten Schriftsteller der Zeit all ihren Geist bemühen mussten, um das Rätsel nach vielen Jahren zu lösen. Sein Nachfolger ist das Smartphone, das so vielen Menschen Menschenersatz ist. Für Beethoven baute Mälzel übrigens den Metronom. Seitdem wechselte die Priorität in der Musik von der Melodie und der Harmonie zum Rhythmus.

Verschwörung ist heute nicht mehr nur Brunnenvergiftung, die es aber auch noch gibt. Der Vorwurf der Verschwörung richtet sich wieder einmal gegen die Eliten, die mit der Demokratie ein neues Gesellschaftsmodell entwarfen. Früher litt das Volk unter den Führern, heute leidet es unter dem Führermangel. Jeder, der sich nicht selbst führt, muss leiden. Das gilt auch für Schmerz und Krankheit. Rousseau hat das als erster erkannt, hatte aber gleichzeitig furchtbare Angst vor Verfolgung und Erkältung. So ist der Mensch. So sind wir.

 

 

* Einstein soll einem Kardinal, der ihn für die Kirche gewinnen wollte, gesagt haben, dass er einträte, wenn der Kardinal zwei Fragen beantworten könne, erstens, ob Gott allmächtig, und zweitens, ob er demzufolge fähig sei, einen Stein (EIN STEIN) zu machen, den er selbst nicht heben kann.