DEJA VU

Vor ein paar Tagen rief mich unser Pfarrer an und fragte, ob ich am Sonntag im Gottesdienst Orgel spielen könnte. Er selbst und sein neuester Aushilfsorganist seien im Urlaub. Ich spielte, aber leider wieder einmal frisch, aber nicht perfekt. Während der Predigt, die mich nicht besonders berührte, weil ich nicht glaube, dass Mose oder Yesus als historische Personen fassbar und demzufolge gültig interpretierbar seien, vielmehr ist nur ihre Rolle im Menschheitsdenken interessant: als Begründer des Monotheismus und der Menschlichkeit, der Abkehr von Rache und Strafe. Sollten dagegen Mose und Yesus historische Persönlickeiten sein, dann braucht es keinen Glauben, dann sind ihre Denksysteme bedeutende Denksysteme, aber keine gottgegebene Religion. Während dieser Predigt stand ich an der Balustrade der Orgelempore, zählte die Gottesdienstbesucher, es waren dreizehn, und sah in der letzten Reihe eine Frau, die auf dem Liedblatt mitschrieb. Schrieb sie die Predigt mit, machte sie sich Gedanken wie ich, etwa dass die Wendung des Menschen zur Menschlichkeit zwar durch Reformation und Buchdruck, dann durch Aufklärung* und Demokratie verstärkt, schließlich durch den Sozialstaat unterstützt worden, aber immer noch weit davon entfernt ist, verstanden und verwirklicht zu werden? Wer liebt schon seine Feinde? Wer geht – genötigt – zwei Meilen statt einer? Wer wartet mit seiner Empörung auf den fehlerlosen ersten Steinwerfer?

Die gutgekleidete, etwas mehr als mittelalte Frau in der letzten Kirchenbank – ich sah sie leider  nur von oben – schrieb mit einem Bleistift auf das Liedblatt. Und plötzlich sprang die Erinnerung fast sechzig Jahre zurück: als ich auf einer letzten Kirchenbank gesessen hatte und für einen Zuträger der Stasi** gehalten worden war.

Auf einem Orgelkurs im Havelberger Dom hatte ich eine Pfarrerstochter kennengelernt, die ich besuchen wollte. Ich glaube heute nicht, dass einer von uns beiden an eine ernsthafte Beziehung dachte. Eher war es ein Ausprobieren, ein Überprüfen der Erzählungen in der jeweiligen Wirklichkeit. Ich fuhr tatsächlich zu ihr, aber sie nicht zu mir. Am Havelberger Dom wirkte damals Kirchenmusikdirektor Herbert Basche, der eigentlich für die Kirchenmusikschule der Bekennenden Kirche in Stettin-Finkenwalde vorgesehen war. Durch den Krieg und durch – vielleicht – Intrigen, vielleicht aber auch durch unterschiedliche Talente und Interessen wurde diese Kirchenmusikschule nach dem Krieg nach Greifswald verlegt und von Hans Pflugbeil und seiner Frau Annelise aufgebaut und geleitet. Ihr Sohn war Physiker und dann Bürgerrechtler. Hans Pflugbeil hatte im Krieg durch eine schwere Verwundung den rechten Arm verloren. Er hat sich dann das gesamte Orgelrepertoire für die linke Hand und das Pedal angeeignet, so dass der Laie im Greifswalder Dom keinen oder kaum einen Unterschied hörte. Insofern ist er ein spätes Pendent zu Paul Wittgenstein, der allerdings in seinem doppelten Irrtum begeistert in den ersten Weltkrieg gezogen war. Pflugbeil ging gezwungen in den zweiten. Um diesem möglichen Schicksal zu entgehen, hat sich der Berliner Domkantor und bedeutende Komponist Hugo Distler in seiner Dienstwohnung in der Berliner Bauhofstraße mit  Gas das Leben genommen. Wittgenstein stammte aus einer Wiener Milliardärs-Familie und war der Bruder des Musik- und Philosophiegenies Ludwig Wittgenstein, der in seinem Realschuljahr in Linz auf einen anderen Knaben getroffen war, der wie er ganze Opern pfeifen konnte: Adolf Hitler. Die Legende geht, dass er aus dieser Knabenfeindschaft für sich den Auftrag generierte, den Wehrmachtscode der ENIGMAMASCHINE (enigMAMAschine) zu knacken. Sein Bruder Paul hingegen hat aus einer Mischung von Verbitterung und Trotz ein Riesenrepertoire für die linke Hand geschaffen. Er bezahlte bedeutende Komponisten für Werke, die nur für ihn und seine linke Hand bestimmt waren, das berühmteste Beispiel ist Ravels Klavierkonzert D-Dur, das gigantisch-virtuos und düster-tragisch zugleich ist.

Herbert Basche dagegen bekam mit dem Havelberger Dom ein – auch historisch – bedeutsames romanisch-romantisches Ensemble mit übergroßer Strahlkraft, aber mit der D-Kirchenmusiker Ausbildung die allerletzten Brosamen. Er tröstete sich mit imposanten improvisierten Choralvorspielen und Bachinterpretationen, bei denen ich ihm die Noten blättern durfte. Er konnte mich nicht besonders gut leiden, aber niemand anderes in unserem Kurs war als page turner geeignet. Leider habe ich auch nicht besonders viel gelernt, aber das lag weder an ihm noch an unserem gespannten Verhältnis, sondern lediglich an meinem Talentmangel.

Dagegen hat mich das spätromanische Bauensemble, vor allem aber der wuchtige und riesige Dom selbst, berührt und eingenommen. Noch heute ist der Kreuzgang für mich eine Metapher für Gedankengang. Noch heute erstarre ich in Ehrfurcht vor der Baukunst und Hocherhabenheit der drei Schiffe, in denen die sich verabschiedende Romanik mit der frischen Gotik streitet. Der Lettner ist für mich heute noch unerreichte Kunstfertig- und Symbolhaftigkeit. Viel später lernte ich die Werke der besten Berliner Akustikarchitekten August Orth und Hans Scharoun kennen, hier aber gab es namenlos himmelsgleiche Akustik. Die Orgel von Gottlieb Scholtze, dem Wagnerschüler aus Neuruppin, erschien mir unter den Händen des von mir sehr verehrten Meisters nicht nur als unerreicht, sondern als unerreichbar. Aber auch der Blick über die kleine, damals baulich etwas verkommene Stadt, die Insellage, die Mittelalterstruktur, die damals schon überflüssige Stadtkirche, deren Scholtze-Orgel jetzt endlich, in diesem Jahr, restauriert worden ist, all das hat mir eine Idylle hergezaubert, die auch durch die Schelte des Meisters DU MUSST DIE TASTE EINFACH DRÜCKEN nicht beschädigt werden konnte. Sie hält noch heute vor und jedes Jahr einmal fahre ich nach Havelberg.

In das Dorf, in dem die Pfarrerstochter lebte, kam ich an einem Passionssonntag früh, aber zu spät, um den Beginn des Gottesdienstes mitzuerleben. Deshalb war ich auch nicht dort. Die Kirchentür knarrte und quietschte. Alle drehten sich nach mir um. Anfang der 60er Jahre wurden im Westen blaue Mäntel aus Nylon Mode, von uns NATO-PLANE genannt. Da unsere weitläufige Westverwandtschaft nur standardisierte Lebensmittelpakete schickte, blieb mir nichts anderes übrig, als meine Mutter um das ostdeutsche Gegenstück, einen DEDERON-MANTEL zu bitten. Mit dem rauschte ich in die schöne kleine Dorfkirche. An den Namen des Dorfes kann ich mich nicht erinnern. Sorbische Frauen sangen ein furchtbar trauriges Passionslied, das sechzehn Strophen hatte. Viel später, nach der Wiedervereinigung, hörte ich in der Sebastiankirche im Berliner Wedding ein ganz ähnliches kroatisches Lied. Das sangen die Frauen aber nicht nur wegen Yesus, sondern vor allem auch, weil ihr Pfarrer, von dem, es hieß, dass er sehr reich sei, wieder einmal betrunken war und nicht kommen konnte. Die Frauen warteten kurzweilig mit dem überlangen Lied.

Damals in dem Dorf bei Cottbus hat das ellenlange Lied bei mir eine kurze und leider nicht sehr intensive sorbische Phase ausgelöst. Vielleicht hatte sie ihren Ursprung schon in Lübbenau. Die Pfarrerstochter freute sich nach dem Gottesdienst, dass ich da war. Es war auch wohl eine ziemliche logistische Leistung, am Sonntagmorgen vom nördlichen Ostberliner Rand in den Spreewald zu gelangen. Ich war zum Mittag eingeladen und der Pfarrer erzählte, wie schnell und intensiv er vor dem vermeintlichen Stasispitzel in der letzten Reihe gewarnt worden war. Wir waren amüsiert und erleichtert.

Erst jetzt, durch das harmlose Erlebnis in der Brüssower Kirche, versuchte ich herauszufinden, in welchem Dorf ein Pfarrer G. amtierte. Es war nicht möglich. Stattdessen ergab sich, dass der Bruder meiner Pfarrerstochter später nicht nur selber Pfarrer, sondern ein bekannter Bürgerrechtler wurde, der zusammen mit Markus Meckel im Pfarrhaus zu Schwante die SPD-Ost neu geründete. Meckel und Pflugbeil wurden Minister, G. Fraktionsvorsitzender.

Nur der Havelberger Basche ist aus dem Leben und den Annalen verschwunden. Noch nicht einmal eine von der Ost-CDU 1983 herausgegebene Broschüre über die Kirchenmusik in der DDR erwähnt ihn. Nur auf einer CD der ehemaligen Berliner Domorganistin Martina Pohl findet sich ein Werk, das nur in einer handschriftlichen Version von Herbert Basche existiert. Und so zeigt sich, dass jede biografische Notiz zugleich auch ein Denkmal für andere Menschen ist.  

*das englische Wort für Aufklärung enlightenment zieht die gerade Linie zurück bis zur Sonnenanbetung Echnatons und Tutenchamuns, die beide, Vater und Sohn , auch ein schönes Sinnbild für das Auf und Ab, das Hin und Her, das Erscheinen und Verschwinden der alten und der neuen Götter und Welten sind. Damals schon!

**Staatssicherheitsdienst der DDR