script

Eine Betrachtung zu Weihnachten

Wenn wir wüssten, wer unser Script schrieb, würden wir auch nicht anders leben. Es ist genau so wie mit den Warumfragen, die wir nicht beantworten können; weil es eine unendliche Menge von Antworten gibt, von denen wir glauben, dass sie unser Leben erleichtern, die uns aber eigentlich nur ablenken oder ablenken sollen, wie im Falle des Warums auf dem Grabstein. Es bleibt sich gleich, ob Gott unser Script verfasste, und das von Milliarden Ameisen, oder die so genannte Umwelt, unter der man früher nur die Nachbarn verstand, heute dagegen die Natur, oder die Gene, was bedeuten würde, dass wir doppelt in der Hand unserer Eltern und Voreltern sind, die ihre Probleme auch gern damit lösen, dass sie uns für fehlerhafte Kopien ihrer selbst halten. Oder sind wir selbst die Verfasser unseres Scripts? Seit der Aufklärung legt sich uns dieser Gedanke sozusagen von selbst nahe. Wir wären gerne die Verfasser unseres Scripts, weil wir dann vor uns und vor anderen besser dastünden. Das gilt aber leider nicht nur für den erfolgreichen Teil unseres Lebens: für unsere Anpassung, für unsere Mitwirkung, für unsere Taten und Rettungsaktionen. Das gilt dann aber auch, so wie die Hochzeitsformel nahe legt: in guten und in bösen Tagen, für unser Versagen, für unseren Widerstand, für unsere Untaten und für all das Kontraproduktive, das wir tun.

Die Warumfrage ist die personalisierte Schuldfrage. Wenn wir selbst schuld zu sein glauben, laden wir unserer armen gequälten Seele eine Last auf wie Hamlet , die sie nicht tragen kann. Und wie Hamlet müssen wir dann nicht nur überlegen, was wir tun sollten, um einen moralisch oder aktionistisch zukunftsfähigen Zustand wieder herzustellen, sondern wir müssten uns mit der Frage quälen, wie wir hätten verhindern können, dass es soweit gekommen ist, wie es kam. Die Hälfte unseres Lebens verbringen wir – wenn wir glauben, dass wir für unser Script verantwortlich sind – mit Rechtfertigungen. Wir suchen Gründe, warum wir dennoch richtig sind, obwohl alles falsch ist. Oder, noch viel schlimmer, warum wir falsch sind, wenn doch alles richtig ist.

Richtig und falsch sind die unrichtigen, die veralteten und vereinfachten Kategorien. Nur wenn wir statt von einem Durchschnitt von einer Norm oder einem zu verwirklichenden Ideal ausgehen, der neue Mensch oder dergleichen, fällt ein Teil der Menschen durch das Raster der selbst ernannten Kontrollbehörde. Der Satz also ‚es gibt kein richtiges Leben im falschen‘ ist falsch, weil es kein richtiges Leben gibt. Denn nur in Gesellschaften, in denen einfache Antworten akzeptiert werden, kann es diese Kontrollinstanzen geben. Während die Religionen Trost spenden, sagt die Aufklärung eigentlich nur: suche deinen Weg, den es nicht gibt, aber wenn du ihn nicht findest, dann werden wir dir mit Hoffnung und Trost aushelfen. Das solidarische Modell ist genetisch verankert im Kindchenschema, sozial verankert im Kain-Abel-Paradigma: ja, ich soll meines Bruders Hüter sein, nicht, weil er auch mein Hüter ist, sondern weil sich die Welt nicht nur verbessert, sondern überhaupt erst bewohnbar wird, wenn wir aufeinander achten. Zu unseren Brüdern gehören aber auch die Ameisen. Davon sind die Geschichten voll, aber auch unsere realen Biografien, sofern es sie überhaupt gibt.

Denn wir sind nicht nur das, was wir selbst über uns denken, fühlen und glauben, nicht nur das, was andere über uns denken, fühlen und glauben, sondern auch die Überschreibungen, Verschränkungen, Schnittmengen, Schnitte, akuten Verletzungen, verheilten Narben, Wunschträume, wir sind unser permanentes Wunschdenken, wir sind unsere permanente Enttäuschung.

Das ist der Unterschied zum Script. Wir sind eher ein Palimpsest, eine Festplatte, auf der schon einmal etwas anderes stand. Wir hängen nicht nur an dem Weihnachtsglück aus Kindertagen, sondern auch an dem Schmerz, den uns andere oder wir selbst zufügten. Dieser Schmerz ist nicht nur oft eine willkommene Erklärung, sondern wahrscheinlich genau so oft tatsächlicher Handlungsimpuls. Was Galilei vom Pendel fand, gilt genau so vom menschlichen Handlungsantrieb: er ist träge, aber seine Trägheit drängt nicht nur nach Stillstand, sondern verharrt auch gleichermaßen in der Bewegung.

Einerseits gilt natürlich weiterhin, dass des Menschen Leben erst nekrologisch logisch wird. Zum Schluss wird es erst stimmig geredet, so lange geglättet, bis es eine zu Tränen rührende Geschichte wird und in seiner Gesamtheit auf einen Stein passt: WARUM.

Andererseits haben wir die Möglichkeit, unser Leben vorher, bevor es auf Stein gemeißelt wird, schon anzunehmen, und zwar nicht in der Differenzbestimmung zum Ideal, sondern genau so wie es ist. Mit dem Aussehen haben wir es leichter, es ist leichter zu korrigieren, aber die Korrektur ist auch leichter wieder rückgängig zu machen. Trotzdem gibt es wahrscheinlich keinen Menschen, der mit seinem Aussehen zu jedem Zeitpunkt zufrieden ist. Zwar lässt sich Verhalten auch korrigieren, aber nicht rückgängig machen. Schon ein Wort ist nicht zurückholbar. Insofern modelliert der Computer nicht das menschliche Kommunikationsverhalten. Wir haben weder eine ENT noch eine ESC taste, aber wir können verdrängen, vergessen, ignorieren, schweigen, lachen, überlegen tun, unterlegen tun. Wir sind kein Computer, der das letzte update haben muss und ständig darauf wartet, dass jemand die ESC taste drückt, damit wir ihn wieder so gut finden wie zuvor.

Die menschliche Antwort auf alle Schwierigkeiten ist Liebe. Sie ist gleichzeitig der einzige Maßstab, den nicht wir anzulegen berechtigt sind, sondern den das Leben selbst anlegt. Man kann sich die nächsten Sätze sparen: jeder Mensch wird geliebt, weil jeder liebt und umgekehrt. Auch hier sind wir aber eher unzufrieden. Es gibt immer Geschichten von größerer Liebe und größerer Enttäuschung, als wir sie erlebt haben, immer ist es nur ein broken hallelujah. Weihnachten ist ein falsches Ideal, aber eine gute Erinnerung an die mangelnde Kraft des Palimpsests.

Die freudsche Entdeckung, dass unser ICH von einem ÜBERICH und einem ES überlagert ist, ist äußerst hilfreich, aber sie meint Dimensionen, Ausdehnungen, nicht Zwangsjacken.

Die Absicht eines Textes wird sich nicht erfüllen. Wer einen Text liest, wird sein Koautor. Das Script eines Menschen, wer es auch geschrieben hat, kann sich nicht erfüllen, weil wir immer an ihm mitschreiben, unsere Angst diktiert die Ahnung. Und die so genannten Fakten sind nichts weiter als das Lametta des Lebens. Ein Baum ist nicht durch seine Schönheit schön, sondern durch sein Sein.

MENSCHEN KANN MAN NICHT WÄHLEN

Nr. 168

Dass man sich seine Eltern nicht aussuchen kann, dürfte allen bekannt sein. Man ist hineingeworfen in ein Elternhaus, und daraus sind ganz sicher die Begriffe von Schicksal, Vorbestimmtheit, aber auch Geborgenheit und behüteten Wege entstanden. Trotzdem ist es nicht sinnvoll, sich einen anderen Vater, weil er im Familienverband oft die fragile Rolle hat, oder eine andere Mutter zu wünschen, weil dieser Wunsch der Selbstverneinung gleichkommt. Es ist so, als wollte man seine Eltern umbringen, bevor man selbst gezeugt wurde. Man muss sich selbst anzunehmen lernen.

Die Kinder wurden früher so lange geprügelt oder gedemütigt, bis sie so wurden oder so zu sein vorgaben, wie es die Eltern als Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft wollten. Sicher hat es immer schon Eltern gegeben, die sich dem Mainstream widersetzt hatten und bei ihren Kindern alle Fünfe gerade sein ließen. Das wird immer eine Minderheit gewesen sein, genauso wie die traumatisierende Erziehung durch die Schwarze Pädagogik Ausnahme blieb. Gewalt wird heute in der Erziehung mehrheitlich abgelehnt, und langsam dämmert uns, wie sehr wir von anderen Menschen lernen können. In Afrika gibt es das schöne Bonmot, dass man zur Erziehung eines Kindes immer ein ganzes Dorf braucht. Das will sagen, selbst die besten Eltern sind Versager, weil das wahre oder wirkliche Wesen eines Menschen nicht erkennbar ist. Das Wesentliche kann nur erahnt werden. Keinen Menschen, noch nicht einmal uns selbst, können wir genau kennen. Es bleibt immer ein Lernen, und auch deswegen ist lernen immer besser als regeln. Als bestes Instrument der Erkenntnis erweist sich die Liebe oder wenigstens die Empathie.

Daraus folgt, dass man sich seine Kinder auch nicht aussuchen kann. Sie suchen sich selbst ihren Weg. Aber auch das Suchen muss man erst einmal finden. Mit jedem Fund entfernen sich die Kinder von den Eltern, aber nur um sie dann ganz wiederzufinden. Bis auf wenige Ausnahmen ist es uns nicht gegeben, uns weit von unseren Ursprüngen zu entfernen. Wir bleiben immer der Apfel, wenn wir vom Apfelbaum stammen, selbst wenn wir ihn oder uns reformieren, deformieren, programmieren, revolutionieren, zur Mutation oder Konversion zwingen oder bringen.

Genauso evident ist die Zufälligkeit von Nachbarn, Kollegen, sogar Freunden und Geliebten, die mathematisch und von ihrem Ergebnis her gesehen mit der Vorbestimmtheit zusammenfällt: wir können sie uns nicht aussuchen. Erkenntnisse kann man drehen und wenden, um einige kommt man nicht herum, im Gegenteil, sie breiten sich über die Dinge aus, die nicht voraussehbar war: zunächst hielt man die Antipoden für Ungeheuer, dann entdeckte man durch den berühmten Apfel die Gravitation, schließlich die Massenanziehung und dann die Äquivalenz von Masse und Energie. Einstein ist viel berühmter als seine Lehre. Und so ist es auch mit der Erkenntnis über den Menschen: zunächst ging man von einer universellen, generalisierten aus, doch je tiefer wir eindrangen, umso mehr erkannten wir, das wir nicht erkennen können. Wir waren oder sind füreinander bestimmt, sagen zwei Liebende, und das heißt doch nichts anderes, als dass es gestimmt hat. Über die Ursache sagt das nichts. Auf die Verwandtschaft von Bestimmung und Stimmung hat schon Shakespeare hingewiesen, von dem auch die mathematischste aller Liebesdefinitionen und Weisheiten über den Menschen stammt, die sicher nicht zufällig in seiner größten und schönsten Liebestragödie steht: the more I give the more I have [Romeo and Juliet II2] .

Da das Skript nicht erkennbar ist, müssen wir uns mit den Narrativen behelfen. Und all die Narrative der ältesten und entferntesten, aber auch der nahen und nächsten  Kulturen sagen eigentlich nur zweierlei: geben ist besser als nehmen, tu einem anderen nur an, was du dir selbst antust. Das setzt die mögliche Anonymität des anderen voraus und es lässt Raum für Transzendenz, denn das andere kann auch gut ein höheres sein, der Lenker aller Dinge, wie es in der Barockdichtung und im Koran so schön heißt. Jedoch: ein Narrativ ist endlich, die Natur dagegen ist unendlich, auch die Natur des Menschen.

Wir müssen in der und mit der Natur leben, die wir vorfinden. Alle Rechthaberei führt uns nur ins Leere. Alle Menschenmäkelei – und auch dieses Wort ist ein barockes Zitat – ist sinnlose Menschenfeindschaft. Ein Menschenfeind ist immer auch ein Feind von sich selbst, ein Opfer also, kein fröhlicher Sucher. Das Leben besteht aus suchen. Allerdings sollten wir keine Antworten suchen, sondern nur Fragen. Allerdings sollten wir nicht die Welt infrage stellen oder unsere Mitmenschen, sondern uns selbst und unsern Weg. Mit den Navigationsgeräten, vom Kompass bis zum Tomtom, ist uns eine schöne Metapher für das Irregehn gegeben. Wir gehen notwendig in die Irre, aber das Lächeln eines Mitmenschen kann uns in unserer Sackgasse trösten. Wer mir ein Wort beibringt, dem diene ich tausend Jahre [Ali ibn Abi Talib]. Das ist ein dem Apfelbaum ganz ähnlicher Gedanke. Der Apfelbaum mag sogar von Unwissenden und Irrenden gefällt worden sein, aber längst hatte der Geschmack der Äpfel Mensch und Tier erfreut, hatte die Kerne die Botschaft des Apfelbaums in alle Welt getragen.

Immer wieder hört man. Der ist schlecht, jener böse, dieser versteht mich nicht, der ist unwissend und rachsüchtig. Immer wieder muss man dagegen andenken: ich will das Gute, warum tue ich es nicht, ich war böse, lass mich das nächste mal besser sein, lass mich so reden, dass man mich versteht, lass uns wissen verbreiten wie Apfelkerne, lass uns Rache auch nur als Ahnung ablehnen und ablehnen. All diese wunderschönen Metaphern oder Wahrheiten – wer weiß es? – von der engen Pforte und dem schmalen Weg, von dem Pfad, der schmal wie ein Haar und scharf wie ein Messer ist, aber allein zum Guten führt, alle anderen fallen siebzig Jahre tief, lasst sie uns endlich beherzigen und glauben. Der Glaube an Gott ist immer auch der Glaube an Menschen. Der Glaube an Menschen ist immer auch der Glaube an Gott. Das ist der Kern.