FRANKFURT ODER ÇANAKKALE

 

Nr. 251

Solch eine Stadt müsste jedes Land haben, aber nicht als Museums- oder Gedenkstadt, sondern mit all den kaputten Menschen darin, die nicht ausbleiben, wenn eine Stadt so sehr und eigentlich für immer zerstört ist. Im Osten Deutschlands gibt es überflüssigerweise einige solcher Städte, die dem heutigen Besucher weh tun. Das Mitleid treibt uns die Tränen ins Gesicht, wenn wir Anklam sehen, das von der deutschen Luftwaffe in den allerletzten Tagen des Krieges als Strafe dafür zerstört wurde, dass es kampflos sich ergeben wollte, wie schon vorher die Nachbarstadt Greifswald. Friedland in meckelnburg ist sogar zweimal der Erdboden gleichgemacht worden, im dreißigjährigen Europa- und im zweiten Weltkrieg. Aber keine war so wichtig, dass ihre Zerstörung die ganze Nation berührte, zumal sie schon dadurch bekannt ist, dass es den Namen zweimal gibt und man immer den Fluss dazusagen muss, über den zu gelangen der Grund für die Gründung dieser Stadt war. Die Stadt im Osten hatte das Pech, dass sie nach der Zerstörung eben im äußersten Osten lag, zur geteilten Grenzstadt wurde und die Führung der DDR keinen Grund sah, die Stadt etwa historisch wieder aufzubauen. Statt dessen wurden die gleichen Neubaublocks hingeworfen wie in Bratislava oder Stettin oder Braşov, von denen man sie dann in der Folgezeit nicht besonders gut unterscheiden konnte. Die beiden berühmtesten Bürger der Stadt haben mit ihr nichts zu tun, der eine, Kleist, ist hier geboren, der andere, Carl Philipp Emanuel Bach, hat hier studiert aber keinen Abschluss gemacht. Der eine hat ein sehr schönes Museum, der andere eine sehenswerte Konzerthalle. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt sind sonst das alte Rathaus mit einem bemerkenswerten Südgiebel und eine Kirchenruine.

Nach der Wiedervereinigung bekam die Innenstadt zwei Einkaufszentren, die an Hässlichkeit und Öde kaum zu überbieten sind. Deshalb sind sie auch immer leer, vielleicht und hoffentlich außer Weihnachten. Selbst die Junkies und Alkis, die es reichlich gibt, versammeln sich lieber im angrenzenden Kleistpark und vor dem leerstehenden Kino. Das ist so ein Kulturpalast, den es in der DDR als Typenbau gab und der Trost spenden sollte über all die Kultur, die es außer billigen Büchern, nicht gab. Aber auch bei den billigen Büchern fehlte einiges: Hesse und Grass, Mann und Maus*.

Wenn wir einen Dichter von solcher Sprachgewalt wie Kleist hätten, dann sollte er schreiben: Anekdote nach dem letzten preußischen Kriege über eine Stadt als lebendiges Mahnmal. In solch einer Stadt kann auch der letzte rechte Ignorant sehen, dass Kriege nicht nur keine Gewinner, sondern ewige unabsehbare Folgen haben. Der Schaden wäre beinahe nicht so groß, wenn es die Stadt gar nicht mehr gäbe. Aber das geht natürlich nicht, weil es immer Menschen gibt, die an ihrer Heimtatstadt hängen, und, beinahe noch wichtiger, weil es immer Menschen gibt, die bis hierher geflohen sind und nicht mehr weiter können. Ihnen ist es gleichgültig, wie eine Stadt aussieht, wenn sie nur Dächer oder wenigstens Schlupfwinkel hat. Und wir reden hier nicht über die Antike.

Statt dessen gibt es solche Gedenkorte wie Çanakkale. Das ist eine Stadt und ein Landkreis an den Dardanellen, wo die Türken im Bündnis und unter dem Befehl der Deutschen gegen die Entente eine wichtige und opferreiche Schlacht gewonnen haben. Ein junger Oberst des osmanischen Heeres machte zum ersten Mal von sich reden: Mustafa Kemal. Im zweiten Weltkrieg gab es einen jüdischen Witz, der ging so: Hitler ist wütend auf die jüdischen Generäle. Wieso, der hatte doch gar keine. Eben. Aber die Türken in Çanakkale hatten einen: der deutsche Oberbefehlshaber der türkischen Armee, Marschall des Osmanischen Heeres und deutscher General der Kavallerie, Otto Liman von Sanders hatte einen jüdischen Großvater namens Liepmann. Für uns ist das nicht wichtig, aber sowohl in Deutschland als auch in der Türkei gab es in der Folgezeit reichlich Antisemiten, und die sollten wissen, wem der grandiose Sieg in Çanakkale zu verdanken war. General Liman von Sanders ging, was den Ruhm betrifft, ziemlich leer aus, den ernteten vor allem Mustafa Kemal und Enver Pascha.

Über der grandiosen Gedenkanlage, die über der seit der Antike berühmten Meerenge thront, vergessen viele Besucher und viele Türken, dass trotz dieses Sieges der Krieg auf deutscher und türkischer Seite nicht nur verloren, sondern das ganze Reich unter ging. Das war in der Türkei die Stunde des Generals Mustafa Kemal, der dann in der Namensreform zurecht den Ehren- und Nachnamen Atatürk, Vater der Türken, erhielt, weil er in nicht einmal zwei Jahrzehnten die Türkei zu einem modernen demokratischen Rechtsstaat machte. Die lateinische Schrift wurde eingeführt, alle lernten lesen und schreiben, europäische Nachnamen und Gesetze brachten das Land schnell auf den Stand Europas. Aber alle Reformen, die Menschen betreffen, brauchen immer Generationen. Was man einsieht, wird nicht Gewohnheit, was man als Zwang empfindet, sieht man noch nicht einmal ein. Seit Atatürks Tod im Jahre 1938 gibt es ein Auf und Ab von Demokratie, Säkularisation und Religion. Unter Erdoğan, der einen wirtschaftlichen und zunächst auch einen demokratischen Aufschwung zu verantworte hatte, tritt eine Geschichtsvergessenheit oder sogar -verdrängung ein, die nicht zu verantworten ist. Der deutsche General Liman von Sanders hat zum Beispiel energisch, auch unter Androhung militärischer Gewalt gegen den Genozid an den Armeniern protestiert, der, weil er gegen Russland gerichtet war, sonst aber vom Deutschen Reich und von Österreich-Ungarn toleriert wurde. Das war der Grund für die Entschließung des Bundestages. Abdülhamid II., der die Verfassung außer Kraft setzte und seinen Namen für die ersten Massaker an den Armenier hergab (Hamidische Massaker), wird plötzlich zum Helden und Vorbild für Erdoğan. Tausende türkische Jugendliche sehen billige Propagandafilmchen, in denen der kritisierte Sultan und Kalif Abdülhamid II. erscheint und didaktisch fragt: wem hast du alle das Gute zu verdanken? Da er einen Teil der Tanzimat-Reformen zurücknahm, ist Abdülhamid, sind aber vor allem aber seine Söhne, die letzten Sultane, verantwortlich für den endgültigen Niedergang des osmanischen Reiches, des kranken Mannes vom Bosporus.

Auch die Deutschen hatten solch eine übertriebene und einseitige Gedenkstätte aus dem ersten Weltkrieg: das Tannenberg-Denkmal, eine gigantische Großanlage militaristischen Gedenkens an Friedrich II., der pietät- und stillos dahin umgebettet worden war, und an Hindenburg, der angeblich die Schlacht bei Tannenberg gewonnen hatte. Sie ging im zweiten Weltkrieg wie die gesamten deutschen Ostgebiete verloren. In den letzten siebzig Jahren ging auch der Sinn für den Krieg, die Freude an gewonnenen Schlachten und der Militarismus verloren. Gründe dafür sind natürlich nicht vorrangig die vorhandenen oder nicht vorhandenen Gedenkstätten, sondern die Demokratie, die Bildung, der Wohlstand. Zur Bildung gehört natürlich auch das historische Wissen.

Übrigens hat jener damals noch unbekannte junge Oberst später als Staatspräsident eine bemerkenswerte Rede zu  Gedenken an die vielen Opfer der Schlacht bei Çanakkale gehalten, in der er sagte: Im Gedenken an die Opfer  gibt es keinen Unterschied zwischen den Johnnies und den Mehmets, gemeint waren die britischen und die türkischen Soldaten. Erdoğan hat diese Sprechweise pervertiert. Er fragt nur noch die Hälfte der Mehmets.

 

 

*Isaak Maus, 1748-1833

ENTITÄTEN UND ID ENTITÄTEN

 

Nr. 215

Nichts ist mit nichts identisch, auch nicht mit sich selbst. Diesen Satz würde die Hälfte der Bevölkerung unterschreiben, aber die andere Hälfte könnte aufschreien: außer mir, und mein Nachbar denkt das gleiche. Die Gruppenbildung wird heute durch die Echowirkung der neuen und für praktisch jeden verfügbaren Medien erleichtert und verstärkt. Wirft jemand seine Wahrheit in den Raum, so springt sofort jemand herzu, der sie bestätigt. Sie bestätigen sich beide und finden bald einen Dritten, der die Welt auch so sieht. Die Gruppen lesen über lange Zeiträume nur ihre eigenen Botschaften. Es wäre falsch zu sagen, dass ihre Begriffe postfaktisch wären. Sie haben mit Fakten nichts zu tun. Es sind zu Fakten stilisierte Ängste, Befürchtungen und Vorstellungen, die zu Gewissheiten werden, je mehr sie sich wiederholen.

Man begreift, wenn man die Gegenwart genau betrachtet, den Hexenwahn besser. Er war, so wie diese eigenartigen Echos heute, eine Mischung aus tatsächlicher Angst und Denunziation. Denunziation ist auch Ablenkung von der eigenen Verantwortung und von der eigenen Angst. Das ist verständlich. Aber Denunziation ist auch so ziemlich das Niedrigste, besonders wenn sie mit der scheinbaren Allmacht von Kirche oder Staat kombiniert auftritt und den Denunzierten zum hilflosen Opfer einer omnipotenten Ranküne macht. Die Denunziation im Verbund mit der Macht ist die Verschwörung, die als Projektion von den Denunzianten den Denunzierten vorgeworfen wird. Wer anders hat mit dem Teufel gebuhlt als der Nachbar oder die Nachbarin, die die Nachbarin dem Feuer oder der Vierteilung auslieferte? Hoffentlich erinnern sich die Reformationsfeierer im nächsten Jahr, dass im protestantischen Minden viermal soviel Hexen verbrannt wurden als im katholischen Köln. Es verbessert oder modernisiert sich nie alles gleichzeitig. Manches bleibt aus guter alter Gewohnheit beim alten. Fast alle der Dutzenden Abspaltungen von den Protestanten waren Fundamentalisten. Nur die zurück gehen, wissen den Weg.

Die Krise der Demokratie, nicht ihr Ende, scheint nicht auf einem Mangel an Lebensmitteln zu beruhen. Die deutsche Kanzlerin betont, dass es uns nie besser ging als gerade jetzt, aber sie trifft damit nicht das Defizit, unter dem ihre Nichtwähler leiden. Ich wohne in einer Kleinstadt im äußersten Nordosten Deutschlands. Wenn hier in einer Diskussion Kritik vorgebracht wird, dann reagiert die führende Gruppe reflexartig mit immer derselben Argumentation: aber wir haben doch das Schwimmbad, die Freilichtbühne, das Parkfest und die neue Straße. Die neue Straße ist vierzig Jahre alt, von daher kommt auch die führende Gruppe. Aber sie versucht, wenn auch mit überholten Mitteln, die Identität, oft auch Heimat genannt, zu bewahren. Dagegen werden die Kreisreformen, die es hier seit über hundert Jahren gibt, die Identitäten der Menschen immer weiter abbauen. Ein paar Jahre später jedoch besteht wieder die Chance, dass genügend Neubürger die alte Zugehörigkeit nicht mehr kennen.

Wenn sich große gesellschaftliche Systeme im Umbruch befinden, reagieren die Menschen panisch. Aber dann sollten Institutionen da sein, die die Menschen beruhigen, ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Aber diese Institutionen müssen sich gerade auch in diesem Moment zum Reformieren zurückziehen. Der Staat schließt gerade dann seine Luken, wenn er am meisten gebraucht wird. Wir stehen konsterniert vor dem Häuschen mit dem Schild: Geschlossen aus Betriebsablaufgründen. Aber da drinnen wird nicht nachgedacht, sondern es werden die alten Schilder neu sortiert: Politikverdrossenheit, Modernisierungsverlierer, postfaktisches Zeitalter als Ersatz für schnelllebige Zeiten. Ein Schild wurde entsorgt: Alternativlosigkeit. Am besten ist: in Zeiten wie diesen.

Aber es geht nicht darum Politiker dafür zu schelten, dass sie auch nur Menschen sind, dass sie auch nur zwei Hände und einen Kopf haben. Es ist eher erstaunlich, dass es immer wieder Menschen gibt, die es für ein bisschen Macht und bei uns in Deutschland nicht so viel Geld auf sich nehmen, ihr ganzes privates Leben zu destabilisieren, um nicht zu sagen zu zerstören. Und bei weitem nicht jeder von ihnen kommt in die Geschichtsbücher, was ein weiteres Motiv wäre. Viele verderben sich auch noch die Spanne zwischen dem Ende der Wirkmächtigkeit und dem Geschichtsbucheintrag.

Ein winziges Detail aus der jüngeren Geschichte mag veranschaulichen, dass der Zusammenhang zwischen ökonomischem und politischem Wohlbefinden schon lange nicht mehr entscheidend ist. Elena Ceaucescu rief ihrem Mann, dem stürzenden Diktator auf dessen letzter, scheiternder Kundgebung zu: Gib ihnen hundert mehr, denn der Lohn war in kommunistischen Diktaturen ebenfalls vom Staat diktiert. Bekanntlich haben die beiden den Tag nicht überlebt. Die letzte Rentenreform in Deutschland hat ebenfalls keine stabilisierende Wirkung auf CDU und SPD. Bedauerlich ist, dass es keine Aussicht auf eine andere Koalition gibt. In Großbritannien haben ebenfalls die älteren Wähler dafür gesorgt, dass die Taschenlampen ausgegraben wurden, um den Weg zurück zu finden: zurück aus Europa. Ein weiteres Ergebnis des Brexit könnte sein, dass die seit 1701 bestehende Personalunion des englischen Königshauses mit dem schottischen beendet wird.

Wir können uns tatsächlich unserer Identität nur rückwärtsgewandt versichern, da niemand die Zukunft voraussehen kann. Die Industrialisierung wurde nicht nur als Bedrohung gesehen, sondern fand sogar in einer ästhetischen Bewegung die wir heute noch schätzen, ihre Begleitung, nämlich in der Romantik. Und im allgemeinen Sinne ist Romantik heute immer noch: sich aus der allzu mobilen Welt zurückziehen, eine Kerze ins Fenster stellen und am besten zu zweit träumen. Es gab vehemente Widerstände gegen die Mobilitätsschübe durch die Eisenbahn und durch das Automobil, gegen die Entfremdung durch die Industrialisierung und die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Massenproduktion, der wir die Globalisierung verdanken. Es gab Proteste gegen die Amerikanisierung der Populärkultur in den zwanziger Jahren, die im Rassismus der Nazis ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Es gab in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg ein aus heutiger Sicht völlig unverständliches, fast pathologisches Festhalten  an alten, absolut untauglichen Werten, die keine waren: Prügelstrafe, Zuchthaus, Ächtung, Verbote gegen Amerikanisierung, Verweiblichung, Gleichmacherei, lange Haare, enge Hosen. Jugendliche wurden in beiden deutschen Ländern als halbstark bezeichnet von Männern, die ihre Arme und Beine und den Krieg verloren hatten. Wenn James Dean im Kino weinte, schrien diese Männer in ihrem Nazijargon etwas von Verweichlichung.

Obwohl es höchst unangenehm ist, mit Trump und Frauke Petry zu leben, letztlich beunruhigend ist es nicht. Sie werden vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das familiär-politische Korruptheitsbündel der Trumps, Erdoğans und Putins dieser Welt ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es so gestrig ist und eine Identität vorspiegelt, die es nie wirklich gegeben hat.