DAS IST ES. DEUTSCHLAND, DAS SIND WIR SELBER.

 

Nr. 368

Man hätte Deutschland so vereinigen sollen, dass der Osten den Westen domestiziert, aber auch wieder so, als wenn er selber schon der Westen gewesen wäre. Und den Kapitalismus sollte man einfach mit menschlichem Antlitz gestalten. Du gehst in dein Kaufhaus, nimmst dir, was du brauchst, die Kassiererin sagt: schon gut. Auch dein Arbeitgeber winkt müde ab: bleib zuhaus. Da hinten steht Götz Werner und winkt mit 1000-€-Scheinen.

Schon in der DDR, als sie noch gar nicht wackelte, gab es diesen Trend: Neckermannreisen und Sozialversicherungsausweis. Immer mehr Nichtrentner konnten im Laufe der achtziger Jahre in den Westen reisen, und sie berichteten, dass dort in Bochum einerseits die Hölle herrsche, andererseits das Paradies. Und genau so empfanden viele – wahrscheinlich andere – die DDR UNSER HEIMATLAND, so die arhythmisch-rhythmische Variante der FDJ-Sprechchöre, wenn irgendwo ein Politbüromitglied herein getragen oder geschoben wurde. Die bestgepflegten Greise hatten erreicht, wovon sie früher geträumt hatten. Damit muss man gar nicht das Jagdschloss in Wolletz oder das graue Einfamilienhaus in Wandlitz meinen. Sie hatten die Macht. Das war ihr Fetisch. Andererseits ignorierten sie jedes Problem, also glaubten sie ihre Bevölkerung nicht nur wohlverwahrt, sondern auch wohlversorgt. Im GUNDERMANNfilm gibt es diese berüchtigte Begegnung mit Werner Walde, dem Cottbuser Bezirkssekretär, die das zeigt: was wollt ihr denn, ihr habt doch alles, die Schwierigkeiten kommen von außen.

Dieses Erklärungsmuster ist uns geblieben. Irgendjemand muss immer schuld sein. Die Ikone des linken Vereins mit dem schönen proletarischen Namen Wagenknecht tritt immer wieder damit an: Schuld an der Misere sind die Konzerne, ist der kalte Kapitalismus. Die Misere muss erst herbeigeredet werden. Die Gegenüberstellung lautet ja nicht Hartz IV oder unter der Brücke schlafen, und Hartz IV gibt es keinesfalls nur im Osten, sondern auch besonders schlimm in Bochum. Die Gegenüberstellung Wagenknechtscher Prägung lautet: ob es nicht erniedrigend sei, von den Jobcenterbeamten sanktioniert zu werden. Ihre Antwort auf diese Frage lautet immer gleich: Banken enteignen.  Unsere gemeinsame Antwort sollte aber sein: Ja, es ist demütigend, besser ist es arbeiten zu gehen. Die Wagenknechtsche Konstellation scheint zudem davon auszugehen, dass alle Menschen im Osten Hartz IV beziehen, besonders die Rentner. Aber weder die Rentner in ihrer Gesamtheit noch der gemeine Ostmensch sind arm. Sie sind – statistisch gesehen – etwas ärmer als ihre, wie man leider nur früher sagte, als wir noch geteilt waren, Schwestern und Brüder im Westen. Gemessen an ihrer eigenen Vergangenheit sind sie aber viel, viel reicher, auch reicher als ihre Schwestern und Brüder jenseits der Oder-Neiße-Grenze.

Man hätte die Wiedervereinigung nicht besser oder auch nur anders gestalten können. Nur selten in der Geschichte kann etwas aktiv und bewusst, rational und vielleicht noch dazu demokratisch ‚gestaltet‘ werden. Meist passiert die Geschichte, weil zuviele Faktoren zu einem Ereignis beitragen, sagen wir (wie immer) 1000 und nehmen wir einen besonders guten Politiker, sagen (wie immer) Willy Brandt. Dann kann er ein Zeichen setzen, niederknien, eine neue Ostpolitik  wagen, nach Erfurt reisen. Aber er konnte – leider, leider – nicht dafür sorgen, dass sein schöner Spruch JETZT WÄCHST ZUSAMMEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT, der uns damals allen das Wasser in die Augen trieb, schneller als, sagen wir, in hundert Jahren verwirklicht werden kann.

Dass am 1. September 1939 alle Menschen in Deutschland, besonders die Männer, aber vor allem auch die Frauen, Mütter, Schwestern, Verlobten, Freundinnen, Krankenschwestern, gesagt hätten: NEIN, NICHT SCHON WIEDER, ist genauso unwahrscheinlich, wie dass alle Menschen an einem Tag ihr Geld als Bargeld von der Bank abholen. Soviel Geld gibt es nicht, soviel Einigkeit gibt es nicht. Es gibt noch nicht einmal eine Schulklasse in Deutschland, die einstimmig beschließt, die Klassenfahrt nach Lloret de Mar zu machen. Wie Geschichte wirklich funktioniert, konnte man viel besser am 9. November 1989 sehen: ein Staat (und nicht ein Land oder eine Heimat) brach zusammen, weil irgendwelche Tattergreise die Zettel verwechselten oder ihre Schlaftabletten nicht finden konnten. Der Staat ist nichts als die Büroklammer einer Gesellschaft.

Es gibt Länder mit enteigneten Banken, es gibt Länder ohne nennenswerte Industrie, es gibt Länder mit Regierungen, die ihre Politik besser erklären als die Bundesregierung MERKEL IV. Aber keines dieser Länder ist insgesamt erfolgreicher. Die USA und China haben größere Volkswirtschaften als Deutschland, aber will wirklich eine signifikante Menge Menschen aus Deutschland dorthin wechseln? Ich erinnere nur an den erschossenen Austauschschüler aus Hamburg. Da ging es um eine Büchse Bier. Auch wenn es mir immer wieder Kritik einbringt: China ist weder die gewünschte noch die tatsächliche Zukunft der Welt. China wird einfach untergehen. Saudi Arabien ist gerade dabei.

Ein funktionierendes und wohlgefälliges Staats- und Gesellschaftssystem (schon das Wort ‚System‘ klingt zu sehr nach Konstruktion) wächst ganz langsam. Das Projekt der deutschen Einheit braucht hundert, vielleicht sogar zweihundert Jahre. Schon vor der deutschen Teilung gab es ein statistisches Gefälle zwischen Nord und Süd, Ost und West. In den ostpreußischen oder uckermärkischen Dörfern gab es vor hundert Jahren Armut, in Bochum dagegen Wohlstand. Gerechtigkeit ist ein Ideal, genauso wie Freiheit, dennoch nehmen sie real in der Gesellschaft zu. Flaschensammler gab es schon in der DDR, man kann bezweifeln, dass sie nur ein Armutszeugnis sind.

1989 waren wir alle überfordert. Ein winziger Fehler hatte zu einem politischen Erdrutsch geführt. Jeder war auf seine Weise desorientiert. Der Kalte Krieg war zuende, die Sowjetunion brach in sich zusammen, Grenzen verschwanden, Völker wanderten ein- und aus. Aber heute verlangen Unrealisten, dass die damaligen Politiker schon damals gewusst hätten, was wir selbst heute nur erahnen können: Zusammenhänge, Netzverflechtungen, Strömungen, Einflüsse. So ungern man es (immer wieder) sagen muss: der Koloss Kohl war ein Pragmatiker der Macht und als solcher der richtige Mensch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Der Schwachmatiker Lafontaine dagegen hat zurecht alle Wahlen verloren. Wahrscheinlich ist sein Anteil am Untergang der deutschen Sozialdemokratie größer als sein Rache- und Geltungsbedürfnis. Seine Gattin Wagenknecht, mit dem schönen proletarischen Namen und dem rosa Luxemburgkleid, radelt auf ihrem 10.000-€-Fahrrad durch das arme Saarland und überlegt, was man im Osten noch zur Misere erklären könnte. Auch sie hat eine Partei in den Ruin gestürzt. Das alles ist weder schade noch traurig: jegliches hat seine Zeit. Traurig ist, dass im Osten Deutschlands nicht nur das Erklärungsmuster gleich geblieben ist, sondern auch die Parolensucht. Eine Parole müsste doch irgendwann einmal richtig sein, glaubt man hier. Politik im Osten ist ein bisschen wie Lotto: man tippt immer die selben Zahlen (Parolen) und verliert.

Statt dessen gilt: Im Lotto kannst du nichts gewinnen, mit einem Lächeln kannst du alles gewinnen. Liebe Mitschwestern und Mitbrüder im Osten: lächelt. Seid doch endlich einmal froh, dass es keine Grenzen mehr gibt, aber dafür Baumärkte (reißt mal eure alten Schuppen ab!), dass ihr ein gutes Auto habt, ein Haus, eine freundliche Wohnung (selbst die einst grauen Plattenbauten leuchten in vielen Kleinstädten), freut euch, dass ihr nach Mallorca reisen könnt, aber fahrt bitte auch einmal woanders hin. Seid stolz und nicht wehleidig. Baut Leuchttürme statt Tränenteiche und Jammertäler! Lest Heine!

 

 

‚Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswanderer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlandes rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren.‘

Heinrich Heine, Vorrede zum ersten Band des ‚Salon‘,

Werke, Band 12, S. 21, Leipzig 1884

BANLIEU

Nr. 363

Oben und unten sind genauso untauglich gewordene Begriffe wie Gewinner und Verlierer. Sie stammen aus der unsolidarischen Ständegesellschaft, inzwischen gibt es eine durch das Bildungssystem gestützte soziale Durchlässigkeit, die vor hundert Jahren absolut unvorstellbar war. Die Hälfte aller Menschen macht Abitur und in den Berufsschulen gibt es Büros, die Türöffner oder ähnlich heißen, die Menschen aufsammeln, die bisher durch alle Auffangeinrichtungen gefallen sind. Trotzdem belassen gerade die Demokratie und die mit ihr als Ideal verbundene Freiheit Menschen im Zustand der Unbildung, die theoretisch nicht identisch mit Unwissenheit ist, in der Praxis aber wohl. In der Ständegesellschaft war das unten, das waren die Verlierer, die den Hof fegten, bevor es Hartz IV oder ähnliche Leistungen gab. In Köthen in Sachsen-Anhalt gibt es zwei berühmte Familien, die jeder in Deutschland kennt: die Familie Bachs, des weltgrößten Komponisten, und Familie Ritter, die sich aller Bildung und Fürsorge durch Leberzirrhose entzieht. Sachsen-Anhalt hat zur Freude der Berliner das bundesweit schlechteste Bildungsergebnis.

Das ist nicht neu. Neu ist aber, dass sich jemand dieser bedauernswerten und bedauerlich kaum erreichbaren Gruppe bemächtigt. Wir können nicht bestreiten, dass es Xenophobie tatsächlich gibt. Aber wir wissen auch, dass sie fast nur reziprok auftritt: je mehr Fremde es gibt, desto geringer ist die Angst, je abgeschotteter und verlorener eine Region ist, desto ängstlicher sind ihre Bewohner. Diese Angst musste man aufgreifen und durch den seit altersher vorhandenen Abscheu gegen die Regierenden ergänzen. Dabei wird absichtlich Bürokratie mit dem Staat, also der Organisationsform des Gemeinwesens verwechselt. Die Kritik an der zum Ausufern neigenden Bürokratie stammt von Max Weber und nicht von Bernd Höcke. Die hoch verdienstvolle Gorki Theaterkolumne hat jüngst aufmerksam gemacht, dass der so genannte Bremer Skandal, also das angebliche Durchwinken jesidischer Flüchtlinge nach der Überprüfung eine Fehlerquote von 0,7% erbrachte, während die vorsorglichen negativen Asylbescheide zu 20% falsch sind. Obwohl die Tatsachen einfach verdreht wurden und der Staat in seiner Intention mit der ausführenden – und gut ausführenden – Bürokratie gleichgesetzt wurde, bleibt bei den Wählern dieser Gruppe hängen, dass Menschen begünstigt wurden, die nicht sie waren. Alle Argumentationen greifen schon deshalb nicht, weil sie in einem sachlichen, teils auch wissenschaftsnahen, bürokratischen Ton vorgetragen werden, den diese Gruppe nicht versteht und nicht verstehen will. Die Partei, dies sich dieser Gruppe angenommen hat, greift dagegen diesen pöbelhaften Ton auf, dessen emotionale Schärfe den Mangel an Argumenten übertönen soll.

Auch die Dresdner Pegidarentner, die keinesfalls überwiegend zu dieser Gruppe gehören, übernahmen freudig diesen Ton, mit dem sie endgültig ihren jahrzehntelangen Opportunismus aufzugeben glaubten. Tatsächlich haben sie nur die Gruppe gewechselt, werden jetzt von Bachmann, Höcke, Kalbitz und Gauland instrumentalisiert. Plötzlich ist es erlaubt, die da oben nicht nur zu kritisieren, sondern mit Pejorativen zu belegen, die im familiären Kreis längst gebannt schienen. In Dresden wurde der Bundeskanzlerin auch der Lynchgalgen gezeigt, eine uralte Tradition der Rassisten. Die Rasse, die jetzt bekämpft wird, sind die Oberen. Anders als in Amerika stammen bei uns die Regierenden keineswegs oft aus der Klasse der Oberen. Gerhard Schröder beispielsweise kommt aus einer Siedlung, die heute eher am Rand der Gesellschaft, nicht nur am Rand einer Kleinstadt zu finden wäre. Folgerichtig, so scheint es, ist der einzige Milliardär in einer deutschen Regierung von Nazis erschossen worden. Die heutigen Nazis greifen auch diese antikapitalistische Stimmung begierig auf. Damit treten sie im Osten Deutschlands das Erbe der linken Partei an, ergänzt um den pöbelhaften Ton. Würde man also die AfD nach alten Parteikriterien einzuordnen versuchen, so könnte man sie als Nationalbolschewisten bezeichnen. Vorbilder sind nicht nur die Gebrüder Strasser, sondern auch Slobodan Milošević, während Sarah Wagenknecht mit ihrer schon vom Namen her nationalbolschewistischen Initiative klar gescheitert ist.

Es gibt die Angst abzusteigen, es gibt die Angst, dass die Abgestiegenen sich den engen Raum teilen müssen, es gibt Xenophobie. Aber auf der anderen Seite gibt es immer jemanden, der das für seine Zwecke zu nutzen versteht, der instrumentalisiert, der populistische Sprüche in pöbelhafter Sprache hinausschleudert und übrigens auch keine Achtung vor den Gedanken anderer hat. Das ist kein tragfähiges politisches Konzept und wird sich auf Dauer nicht durchsetzen, weder hier noch anderswo. Die zweite Regierung mit nationalistischer Beteiligung ist soeben gescheitert, nach Österreich nun auch Italien. Sie werden alle scheitern, sowohl am Wählerwillen als auch – Gott sei Dank – an ihrer scheinbar als Fluch vererbten Inkompetenz.

Das eigentlich Tragische in diesem Jahr – und man kann befürchten, dass es bei der nächsten Bundestagswahl noch einmal so kommt – sind die Versuche der Parteien mit diesem zurecht als widerwärtig wahrgenommenen Problem fertigzuwerden. Auf der einen Seite ist die AfD demokratisch gewählt, auf der anderen Seite aber missbraucht sie die Demokratie und deren Geld auf die schändlichste Weise. Manche rennen ihrer Schaumschlägerei hinterher, wie leider auch die neue Vorsitzende der CDU. Andere versuchen ernsthaft die Rückgewinnung verlorener Verlierer.

Am Freitag vor der Landtagswahl hat sich der stellvertretende und – wie zu befürchten ist – designierte Vorsitzende der SPD in ein abseitiges Banlieu begeben. Die alte Bedeutung des heute eindeutig konnotierten Begriffs war das Stadtbild von weitem, das Weichbild einer Stadt. Die Hauptstadt der Uckermark, die immer noch eine der größten gotischen Kirchen – demnächst sogar fertig rekonstruiert – besitzt, wird aber dennoch gekennzeichnet durch fast endlose Neubauviertel, die aber schon fast ein halbes Jahrhundert hier stehen. Wahrscheinlich wollte die SPD die Menschen erreichen, die sich hier abgehängt fühlen. Aber es kam eine Handvoll überwiegend ältere Damen auf dem Fahrrad, dazu die Stadtprominenz, angeführt vom SPD-Bundestagsabgeordneten, der seit Jahren durch seine Visionslosigkeit geradezu schockiert. Die Adressaten waren wie immer ausgeblieben. Es gab mehr Kuchen als Kaffee, aber diese Kuchenbüffets sind auf allen Veranstaltungen absolut identisch. Daraus folgt, dass die ältlichen Frauen das Rückgrat dieser Art politischer, religiöser und künstlerischer Kultur sind. Der Kuchen war bemerkenswert gut. Dazu war der künftige Vorsitzende der ältesten und größten Partei Deutschlands mit zwei gepanzerten Mercedes-S-Klasse-Limousinen und einem dicklichen Polizisten auf dem Motorrad hundert Kilometer aus Berlin angereist:

LOVE WAS SUCH AN EASY GAME TO PLAY – YESTERDAY.

In derselben Woche hat das Handelsblatt eine Studie der Universität Mainz veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die vier gesundheitlich lebenswertesten Regionen im Nordosten Deutschlands liegen. Der in dieser Hinsicht beste Postleitzahlbezirk hat die Nummer 17. Schauen Sie nach und kommen Sie her!