MISSTRAUEN

Nr. 398

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?* Beethoven an Struve, 1795

Wenn also der schüchterne und nüchterne Maurerlehrling (siehe Nr. 397 vom 3.5.2020 ) im grauen Ostberlin und der große Beethoven, unabhängig voneinander und mit der denkbar größten Differenz zwischen zwei Menschen ausgestattet, auf das gleiche Denkergebnis kommen, muss etwas daran sein. Der Maurerlehrling in Ostberlin wollte einen damals und heute gängigen Spruch eigentlich nur zitieren. Vielleicht hat er sich nur geirrt, aber dann war es ein solcher Irrtum wie bei Kolumbus. Kolumbus fand den falschen Kontinent, aber mit dem richtigen, damals brandneuen Weltbild. Der Maurerlehrling fand das brandneue Weltbild, nach dem er gar nicht gesucht hatte, aber nach dem er sich so sehnte.

Das Merkwürdige an der Welt ist doch, dass sich die sogenannten Alternativen des gleichen Weltbildes bedienen, wie die von ihnen abgelehnten und oft heftig bekämpften alten Systeme. Kapitalismus, Kommunismus und Faschismus haben – in bezug auf die Produktion – die fast identische Meinung zum Menschen als Faktor. Auf diese Implementierung des Menschen in die von ihm selbst geschaffene Maschinenwelt wies schon Feuerbach mit seinem etwas weltfremden Begriff der Entfremdung hin. Er erscheint uns heute weltfremd, weil die wenigsten Menschen aus den herrschenden Bedingungen aussteigen können. Sieht man sich in den jeweils alternativen Szenen der verschiedenen Jahrhunderte um, so unterliegen sie – im Vergleich zum jeweils geschmähten mainstream – nur leicht modifizierten Gruppenbedingungen. Wirkliche Eremiten gibt es wohl eher selten, und die früheste Satire auf einen Eremiten, der seine Absurdität zu einem sexuellen Vorteil ausbauen konnte, steht im Decamerone von 1348, einem Pestbuch.

Alle diese Weltbilder betonen den Mangel an Vertrauen und den Egoismus des Menschen, der es angeblich verhindert, eine bessere Gesellschaft zu bauen, die andererseits von allen Alternativen als Ideal gepriesen wird. Wir erinnern nur an den programmatischen Zeitungsnamen ‚Neues Deutschland‘, womit gemeint war, dass jetzt alles anders wird. Tatsächlich beruhte aber diese Gesellschaft wie die meisten vorherigen und folgenden auf dem Vertrauen zu Geld und Gut, nicht aber auf dem Vertrauen zum Mitmenschen, der, wie sich Beethoven schon als junger Mensch  wünschte, keiner weiteren Qualifikation bedürfte, als Mensch zu sein.

In dem dummen Spruch, dass Vertrauen zwar gut, Kontrolle aber besser sei, der damals Lenin, heute wer weiß wem zugesprochen wird, wahrscheinlich Einstein, der die meisten Zitate für sich beanspruchen kann, fast so, als sei er im Hauptberuf Zitatenschreiber gewesen, – in dem dummen Spruch kommt doch nur die alte, von uns schon immer beschworene Polarität von Freiheit und Ordnung zum Ausdruck. Natürlich bedarf jede Gesellschaft einer gewissen Ordnung. Aber jede Ordnung hat auch die Tendenz sich zu verselbstständigen. Max Weber entdeckte früh, dass die Bürokratie, das Organ der Ordnung, sich am liebsten mit sich selbst beschäftigt. In jeder Verwaltung gibt es ein Amt 1, auch oft Hauptamt genannt, das die Löhne, Gehälter und Pensionsansprüche der Beamten regelt. Übrigens muss man an dem schönen alten Wort BEAMTER nur einen Buchstaben weglassen, um ihn zu modernisieren und abzuschaffen: BEAMER. Ein Beamter projiziert die Ordnungsvorstellungen einer Gesellschaft auf jedes DIN A 4 Blatt, das selbst der Inbegriff jeder Ordnung und Bürokratie ist, genial und absurd zugleich: 1: √2.*

Die Absurdität dieses Weltbildes besteht darin, dass wir zum Schluss glauben, dass der Mensch wählbar und konstruierbar sei. Wenn wir ihn als Produktionsfaktor sehen, als Maschinenteil definieren und ihm gleichzeitig Empathie ab- und grenzenlosen Egoismus zusprechen, dann sind wir in der Ordnungsfalle. Es ist leicht und passiert immer wieder, dass wir uns ein Instrument schaffen, dessen Opfer wir dann werden.

Der Ramadan, jede Fastenzeit jeder Religion oder Ideologie, dient dem Verzicht, der Demut, der Reduktion nicht nur des Körpergewichts, sondern auch auf das Wesen des Menschen: selbst wer wenig hat, hat noch genug, um es teilen zu können. Die diätetische Falle des Ramadan besteht aber darin, dass das Fastenbrechen fast schon ein Synonym für Völlerei geworden ist, so wie Weihnachten und Ostern und Grillabend.

Das Gleiche gilt für das Fernsehen oder das Telefon: aus einem Instrument wurde eine Herrschaft. Das ist übrigens auch bei den Herrschern so: unsere Ahnen installierten sie als Führungsinstrument, aber wir willfahren ihnen als allwissende, allkönnende und ausschließlich wohlmeinende Halbgötter oder aber als inkompetente, unfähige und korrupte Marionetten. Allmacht und Ohnmacht schlössen sich gerne aus, aber sie sind gleicher als gleich, weil sie beide auf Macht statt auf Vertrauen beruhen.

Freiheit, das andere menschliche Ideal**, beruht dagegen, wie die Liebe, auf Vertrauen, die nicht nur keiner Kontrolle bedarf, sondern durch Kontrolle zerstört wird.

Als spätes Kind und früher Jugendlicher war mein Lieblingsbuch Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Wahrscheinlich gefielen mir die Freiheit, Unabhängigkeit und auch die Einsamkeit dieses fähigen Menschen. Aber mir fiel nicht auf, dass er im Laufe seiner achtundzwanzig Inseljahre ein perfektes System der Ordnung erschuf, von der er mehr und mehr abhängig wurde. Folgerichtig versuchte er dann, einen völlig freien Menschen zu domestizieren. Der Tom-Hanks-Film CAST AWAY zeigt diese Abhängigkeit, aber auch die Beliebigkeit der Dinge, als Satire auf den Helden der Aufklärung Robinson.

Das Merkwürdige am Vertrauen, an der Freiheit und an der Liebe ist, dass wir sie fast nur emotional von ihren hässlichen Zwillingsschwestern, Miss Trust, Miss Order und Miss Ego, unterscheiden können. Der Mensch oder die Menschin, die wir lieben oder von der oder dem wir uns geliebt glauben, kann vielleicht einfach nur nicht kochen oder hielt nach ein paar passablen Genen Ausschau.

Man kann sich Menschen nicht aussuchen, auch diejenigen nicht, die nichts als Menschen sein wollen und Vertrauen der Kontrolle vorziehen. Es ist leichter zu leben, wenn man sich nicht nur Regeln gibt, sondern auch Töpfe, in die man seine Mitmenschen glaubt sortieren zu können. Drei große Töpfe zerbrachen: der Rassentopf, ein besonders hässliches Exemplar, der Klassentopf, der sich hier auf dem Lande sogar architektonisch manifestiert hat, und der besonders üble Sexustopf.

Zum Schluss kommt ein schönes Zitat aus dem guten neuen und sehr empfehlenswerten Buch*** von Rutger Bregman IM GRUNDE GUT, die Antwort nämlich, warum der Schimpanse im Käfig sitzt und der Neandertaler ausgestorben ist: weil wir freundlicher sind.

*dem Schöpfer der Papierformate, Walter Porstmann, war ein früherer Blog gewidmet

**no deal but ideal

***was hier zu besprechen unnötig ist, da wir seine Thesen schon seit langem, vor allem aber in den zehn Jahren des Blogs rochusthal.com vertreten

 

 

PEACE IS A WAY OF LIFE

 

Friedensnobelpreis für Dr. Abiy Ahmed Ali

Nr. 378

Es gibt immer Kritiker, es gibt immer Besserwisser, es gibt leider immer auch Attentäter. Die absurdeste Kritik an Friedensnobelpreisträger Williy Brandt stammte von Adenauer, Brandt sei nur unehelich. Später haben sie im Wahlkampf ein gentleman agreement gegen solche populistischen Scheinargumente geschlossen.

Auch gegen den Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea, die immerhin einen dreißigjährigen Bruderkrieg geführt haben, gibt es Einwände aus der eritreischen Diaspora, aus Äthiopien selbst und – natürlich – aus Europa. Vielfach sind die Einwände nichts als fatalistische Befürchtungen. Niemand kann die Zukunft voraussehen. Tatsache ist, dass Äthiopien im Moment mit 10% nicht nur die höchste Wirtschaftswachstumsrate in Afrika, sondern sogar weltweit hat. Das ist ein Hoffnungsschimmer, nicht das Ende der Armut.

Kooperationen mit Deutschland und China führen allerdings zu Investitionen, die der Armut entgegenwirken werden. Der erste Weg der neuen Kommissionspräsidentin der EU führte zur Afrikanischen Union nach Addis Abebea. Die Hälfte aller Minister in Äthiopien sind junge, promovierte Ministerinnen. Auch der erste äthiopische Milliardär ist eine Milliardärin. Das ist deshalb so wichtig, weil die Rolle der Frau und die Rolle der Traditionen weitgehend parallel verlaufen und die nächsten Generationen mitbestimmen. Es sieht aber ganz so aus, als ob PM Abiy Ahmed eine solche jähe Wendung der Geschichte sein und veranlassen könnte, auf die so viele Menschen in Afrika hoffen. Dagegen spricht, dass er selbst aus dem militärischen und politischen Establishment kommt, das sich gewöhnlich – wenn überhaupt – nur millimeter- und sekundenweise bewegt. Dafür spricht seine Herkunft aus dem größten, aber nicht dominanten Volk der Oromo, während die letzten hundert Jahre unter amharischer Herrschaft standen, in Eritrea unter der Herrschaft der Tigrinya, die in Äthiopien Tigray heißen. Wie in fast allen afrikanischen Ländern gibt es auch in Äthiopien genügend ethnisches Konfliktpotenzial für tausend Kriege. Abiy Ahmed spricht neben seiner Muttersprache Oromo auch amharisch, tigrinisch, französisch und englisch, wovon sich ein illustres Publikum in Oslo überzeugen konnte.

Dagegen gibt es in beiden Ländern keinen Streit zwischen den beiden großen Religionen. Die ersten Christen Äthiopiens stehen in der Bibel*, und die ersten Muslime waren über das Rote Meer geflohen (!) und der Prophet Mohammed selbst lobte die gute Aufnahme und gelobte ewige Freundschaft.

Der letzte Kaiser, Haile Selassie II., sah sich einerseits als zweihundertfünfzigster Nachfolger des legendären Königs Salomon, andererseits als Erneuerer, der sich am Westen, den er gern und viel bereiste, orientierte. Er wurde durch den Major Mengistu Haile Mariam gestürzt und ermordet, der das Land durch seine prokommunistische Politik in die größte Hungerkatastrophe führte, die Afrika seit den biblischen Plagen gesehen hatte. Die Hungerkatastrophe war so verheerend, dass 1984 NATO und Warschauer Pakt und weitere Länder eine gemeinsame Luftbrücke betrieben, die mit ihren Lebensmittellieferungen allerdings nicht verhindern konnte, das mehrere Millionen Menschen verhungerten. Der inzwischen zum General avancierte Mengistu wurde 1989 während eines Staatsbesuchs bei Erich Honecker gestürzt, ebenso wie dieser am Ende seines und unseres Schicksalsjahres. Seitdem brach der bis dahin verdeckt geführte Bürgerkrieg voll aus und endete mit dem Sieg und der Abspaltung des kleinen Eritrea unter Militärdiktator Isaias Afewerki, während in Äthiopien weiter der Hunger und die Zwietracht herrschten, die das Land lähmten, dessen einzige Bewegung der enorme Bevölkerungszuwachs war. Die Geburtenquote Eritreas ist es auch, die den Diktator uns seine greisen Getreuen gelassen bleiben lassen angesichts des massenhaften Exodus der Elite. Eine Million überwiegend junger Menschen ist bereits geflohen.

In seiner Dankesrede für den Nobelpreis (Nobel Lecture) sagte Abiy Ahmed, dass er gemeinsam mit seinem eritreischen Gesprächspartner erkannte, dass die beiden Nationen (!) nicht Feinde seien, sondern Opfer des gemeinsamen Feindes Armut. Die Bedeutung dieser Rede liegt auch darin, dass sie ganz bewusst und  betont an große Reden anderer Weltenlenker anknüpft, hier und an anderen Stellen an die Inaugurationsrede John F. Kennedys von 1961, der dort sogar die drei biblischen Feinde der Menschhheit – Krieg, Hunger und Pest – beschwor.

Er sei überzeugt gewesen, sagte Abiy Ahmed, dass die imaginäre Mauer zwischen ihren beiden Ländern schon längst hätte niedergerissen sein können, Futur II Konjunktiv. Er bezog sich dabei schon von der Wortwahl her (‚tear down‘) auf die berühmteste Rede Ronald Reagans in Berlin. Zum Glück war es zwischen Äthiopien und Eritrea tatsächlich nur eine symbolische Mauer, die von allen eritreischen Flüchtlingen, die ich kenne, bei Nacht überwunden werden konnte. Mehrmals betont er, dass der Friedensschluss zweiseitig ist und nur zweiseitig sein kann, er bezieht den weltweit als Diktator verachteten Afewerki immer mit ein.

Aber nicht nur das, er versucht uns auf einer Gedankenreise mitzunehmen, die von Äthiopien über das Horn von Afrika, das er sich als Füllhorn Ostafrikas wünscht, bis in die weite Welt geht. Von vielen Menschen nicht beachtet, gibt es einen Politikertyp, früher Weltenlenker geheißen, der die Interessen seines Landes mit der Weltperspektive verknüpft. Letztlich kann für ein Land nur gut sein, was für die Welt gut ist. Dabei kann Äthiopien mit seiner absoluten Völkerbuntheit, es werden 80 Sprachen gesprochen, Modell und Vorbild für die ganze Welt sein. Inzwischen, auch das bemerken leider nicht alle, hat fast jedes Volk eine Diaspora, eine auswärtige Minderheit. Viele Äthiopier und Äthiopierinnen leben in den USA, im Libanon und in Israel, viel Eritreer und Eritreerinnen leben in Deutschland (120.000), in Schweden, in Frankreich und Israel. Anstelle von Mauern, ich zitiere wieder den noch jungen ostafrikanischen Politiker Abiy Ahmed, brauchen wir also Brücken der Freundschaft, der Zusammenarbeit und des guten Willens.

Schon in seiner Rede in Davos, in seinem ersten Buch und jetzt auch in der Nobel Lecture vom 10. 12. 2019 in Oslo stellt er eine äthiopische Philosophie vor, die mit dem amharischen Wort Medemer bezeichnet wird und mit dem südafrikanischen Ubuntu verglichen werden kann: ICH BIN, WEIL WIR SIND. Es ist die Verankerung des Einzelwesens in seiner Community und in der Weltgemeinschaft. Kein Mensch, sagt der jüngste Friedensnobelpreisträger, ist eine Insel, aber jeder kann eine Brücke werden. Er hat diese Weisheit des Volkes von seinen Eltern in einer kleinen Oromosiedlung zusammen mit seinen Geschwistern übertragen bekommen und fasst sie – in dieser Rede – zweimal in die alttestamentarische** Form I AM MY BROTHER’S KEEPER, nicht ohne hinzuzufügen: I AM MY SISTER’S KEEPER. Vielleicht ist es so, dass wir diesen Welt- und Zeitgrundsatz vergessen haben, weil wir gar keine Brüder und Schwestern mehr haben. In Deutschland herrscht Pflegenotstand, in Japan bringen sich die steinalten Menschen reihenweise um, überall im Westen und Norden ist der goalkeeper oder sogar der bookkeeper wichtiger als der Bruder- und Schwesternhüter.  Dann erst, wenn wir alle, und allen voran die Philosophen und Politiker, wieder erkannt  – und vielleicht aus Afrika gelernt – haben werden, dass unsere erste menschliche Pflicht und Freude DAS HÜTEN UND BEWAHREN DER MITMENSCHEN ist, wird der Frieden zu einem way of life, zu einer labor of love, wie nicht John Lennon, sondern Abiy Ahmed in Oslo sagte.

Schön ist es, wenn die Preise der Welt auch an Menschen gehen, die der Welt etwas zu sagen haben, die potenzielle Weltenlenker UND Zeitendenker sind, von denen wir alle lesen und lernen können.

Lasst uns alle dieses lernen, aus einer kleinen ostafrikanischen Siedlung in Westäthiopien und aus dem Saal voller Honoratioren in Oslo:

LET’S ALL BE EACH OTHER’S KEEPERS.

*Apostelgeschichte 826

**Genesis 49

DER WERT EINES APFELS

Nr.  338

Im Fernsehen beißt ein Mann oder eine Frau in einen Apfel und als Text hört man, dass man sich krankenversichern oder prophylaktisch behandeln lassen soll, damit man später auch noch so kraftvoll in Äpfel beißen kann. Unsere liebsten Äpfel kommen aus Neuseeland und Israel. Dagegen ist nichts einzuwenden. Das sind die neuen Eckdaten für ein einstiges fundamentales Lebenssymbol.

Durch den Überfluss der Dinge haben sich sowohl das Ranking als auch der Fokus verschoben. Der Mensch entfremdete sich erneut von seinen Lebensgrundlagen. Die erste Entfremdung war bekanntlich die Industrialisierung, die Arbeiten wurden – aus handwerklichen oder bäuerlichen Produzenten – zum Teil des Arbeitsprozesses oder sanken sogar zum Maschinenteil herab. Ein Arbeiter bei VW, der die Setzung von 400 Schweißstellen pro Minute sowohl am Monitor als auch analog verfolgt, erhält einen Teil seiner Selbstständigkeit zurück: er kann die ganze Arbeit verwerfen und verschrotten. Die zweite Entfremdung lässt uns genetisch manipulierte, aus Massentierhaltung stammende oder über eine Entfernung von mehr als 18.000 Kilometern herbeigeholte Lebensmittel verzehren, zu denen wir kein Verhältnis entwickeln können. Gleichzeitig erklärt sich der Bauer im Nachbardorf, der mit computergesteuerten Systemen 2000 Hektar bearbeitet, zum wichtigsten Beruf. Als Gipfel dieser unheilvollen Phase sieht man immer wieder eine geschälte Mandarine, die in Plastik eingeschweißt ist. Eins unserer Hauptprobleme heißt Verpackung, die auch ein Teil der Entfremdung ist. Eine einfache Influenza-Diagnostik beschäftigt heute eine ganze Phalanx von Maschinen, die den Ärzten jedes empirische Denken und Handeln buchstäblich aus der Hand nimmt.

Immer wieder gibt es Versuche, unser Leben zu reformieren, auf den Boden der Natur zurückzuführen. Vor hundert Jahren blühte eine vielschichtige Reformbewegung, die auf Obsternährung, Sport und Genossenschaften gründete. Nackte, langhaarige Prediger zogen durch Europa und ermahnten die Menschen zur natürlichen Lebensweise. Fünfzig Jahre davor warb der viel gelesene Graf Tolstoi für Bildung und Einfachheit, allerdings in extrem christlicher Ausprägung. Wieder hundert Jahre zurück glaubte Rousseau, dessen Einfluss man nicht überschätzen kann, dass die damals so genannten Wilden das eigentliche Leben repräsentierten, während jede Zivilisation notwendig rückwärts geht.

Wie zwei Lavaströme aus dem Eyjafjallajökull laufen also die Rationalisierung genannte Entfremdung und die Reformierung genannte Rückkehr zur Natur nebeneinander. Eine Maschine nach der anderen wurde erfunden, heute redet man fast ausschließlich von Künstlicher Intelligenz, also von Maschinen, die Maschinen und Technologien ohne weiteres Zutun des Menschen herstellen. Der Alptraum dieser Entwicklung sind Milliarden von Menschen, die weder verhungern noch etwas tun.

Der Apfel muss als Tatsache und als Symbol wieder in unser Bewusstsein und in unsere Jackentasche zurückkehren. Nicht nur vor dem Weltuntergang und nicht nur jeder Mann sollte einen Apfelbaum selbst pflanzen und nutzen. Schon allein die dann entstehenden Gespräche wären eine ungeheure Bereicherung. Dabei wäre die autarke Ernährung auf dem Land nur ein abstraktes und ideales, der Vitamin und Sauerstoffreichtum das konkrete Ziel.

Bildung sollte weniger als staatliche, oft widerwillige wahrgenommene Aufgabe gesehen werden, sondern als kollektive und vor allem aktive Aneignung der äußeren, der maschinellen und der inneren Welt. Als Fächer genügen Fußball, Theater und Scouting. Alle notwendigen Abstraktionsprozesse würden sich unterwegs ergeben. Vorbild ist nicht nur der katechetische und maschinengestützte europäische Bildungstyp, sondern auch der afrikanische Ubuntukreis mit fünfzig Schülern als Gegenmittel zu allzu ausgeprägtem Individualismus.

Arbeit muss wieder als Wertschöpfung wahrgenommen werden können, das heißt, sie muss es auch sein. Die beiden größten Errungenschaften, das Handwerk und die Landwirtschaft, müssen von jedem Menschen auf der Erde verstanden und praktiziert werden. Wir können nicht mit dem Wahn weitermachen, immer nur die letzte Erfindung als größte und einzige Möglichkeit zu verstehen. Der gegenwärtige Preisunterschied zwischen industriellen und handwerklichen Produkten würde sich durch eine Verschiebung der Anzahl der Produzenten ausgleichen. Wie die Lebensreformbewegung vor hundert Jahren setzen wir auf Genossenschaften als Organisationsform. Aber auch die vor zwanzig Jahren eher ironische gemeinte ICH-AG sollte ernsthaft gedacht werden.

Der Lebenssinn ergibt sich aus den neuen und überdimensionierten Möglichkeiten der Kunst als Antikonsum. Durch die milliardenfache Reproduktion ist Kunst einerseits zum Konsumartikel herabgesunken, andererseits aber durch die Inflation von Zeit und Geld für jeden machbar. Es fehlen – als Bindeglied – oft nur die Fertigkeiten. Fiktion ist längst Teil der Wirklichkeit geworden, aber viele glauben noch und nur an die Kraft der immer wackliger werdenden Fakten. Die Menschen sehnen sich sowohl nach Sinn, der sich aus Kunst, als auch nach einem Übervater oder einer Übermutter, die sich aus entzerrter Religion ergeben. Jede Institution trägt den Keim der Spaltung und des Wahns in sich. Vielleicht und hoffentlich eröffnen die online-Vernetzungen neue Möglichkeiten.

Zwei Irrwege der Industrialisierung sind die großen Städte und das Automobil. Die Konzentration von Menschen als Arbeitskräfte war nur eine historische Etappe, ist heute überflüssig. In den nichtindustriellen Ländern ist dieser Irrweg ohne Industrie, aufgrund der bloßen Hoffnung auf ein besseres Leben nachgeahmt worden. Allein die Slums von Lagos, der 22-Millionen-Stadt in Nigeria, mit ihrer eigenen Lebens- und Produktionsweise, teilweise auf dem Wasser, ihrer Kunst und ihrem Leid und hunderttausendfachem Tod auf Megatonnen Müll, sollte ein schnelles Umdenken von den Städten aufs Land bewirken. Fragt man alte Menschen in dünnbesiedelten Gegenden, warum sie ein Auto – in Australien und Island auch gerne ein Flugzeug – benutzen, dann zeigt sich die Grundversorgung als Hauptgrund. Aber jede Ware ist heute online bestellbar und mit Elektroautos am nächsten Tag lieferbar. Die medizinische Versorgung muss ebenfalls einfach neu organisiert werden.

Es geht also nicht um einen neuen Maschinensturm – silesian weaver’s like -, sondern um den Unterschied von Renaissance und Konservatismus. Während der Konservatismus zwangläufig auch schädliche Traditionen – wie zum Beispiel die Wehrpflicht oder das Robbentöten – bewahrt, kann die Renaissance diejenigen Elemente der Vergangenheit wiedergebären, die jetzt einen völlig neuen Sinn oder einen Zweck für alle – omnibus, ubuntu -, eine neue Dimension oder eine ungeahnte Vernetzung haben.

Globalisierung – seit 1444! – ist auch angstbesetzt, die einen fürchten eine Islamisierung, die andern eine Anglisierung. Diese Ängste mögen verständlich sein, nachvollziehbar sind sie zum Glück nicht. Mit dem Wohlstand sinkt nicht nur die Kinderzahl, sondern auch die Notwendigkeit institutionellen Glaubens. Statt also Angst zu kultivieren, sollten wir lieber – freiwillig – einen Weltramadan einführen und uns freuen, dass wir mit jedem Menschen, welcher Muttersprache auch immer, in Englisch online – und natürlich auch analog – reden können.

Lasst uns lieber Gedanken importieren als Äpfel.