DAS KALKUTTA PARADOX

Nr. 374

Polybios, der erst ein griechischer Gelehrter, dann ein römischer Sklave und darauffolgend ein römischer Gelehrter war und demzufolge wohl wusste, dass jeder Zustand ein Vektor ist, beschrieb die Gesellschaften, die sich selbst oft als Höhe- und Endpunkt sehen, als Passagen. Seit es seine Schriften gibt, warnen Befürworter wie Kritiker einer Gesellschaft vor dem Übergang zur Ochlokratie. Und tatsächlich verfällt jede Gesellschaft, je mehr sie sich auf Regeln statt auf selbstbewusste und aufgeklärte Bürger stützt, in einen Zustand der sich selbst verwaltenden Bürokratie. Und aus dieser Gerinnung erwächst der Wille zur Veränderung entweder in die Richtung noch rigiderer Regeln und eines handlungsfähigen Führers oder in die Freiheit des Lernens und Vereinbarens, wobei allerdings jede Handlung vom Willen der Mehrheit bei gleichzeitigem Schutz der Minderheiten abhängt. Daher wirken diese Gesellschaften fast handlungsunfähig, ihre Bewegungen wie in Zeitlupe. Ein Krieg erscheint so gesehen als eine kräftige Vorwärtshandlung, die Installation eines Sozialsystems dagegen wie der Lauf einer Sisyphos-Schnecke. Der Vergleich der Vereinbarung mit dem Deal ist nicht nur eine grobe Verkürzung, sondern geht am Wesen vorbei. Aber auch der Deal will – im besten Fall – eine win-win-Situation. Die Vereinbarung schließt – in ihrem besten Fall – das Verlieren aus.

Möglicherweise entstand die Segregation in der neolithischen Revolution und möglicherweise wird sie in der Bibel mit der Kain-Abel-Geschichte symbolisiert. Solange wir zurückdenken können, und das ist nicht nur die Zeit der Schrift, gibt es diese Abwehr des Fremden, Neuen, Anderen. Das muss nicht der Feind, das kann auch der Aussätzige sein, der Veitstänzer oder der Verlierer. In späterer Zeit mag jede Segregation mit einer ideologischen Vorbereitung einhergehen, aber der Grundimpuls, das Urmotiv ist der Neid, ist die Angst vor dem Verhungern, die auch nicht nachlässt, wenn der allgemeine Wohlstand ein Verhungern gar nicht mehr zulässt. Der Neid scheint sogar noch zuzunehmen. Leider kann man auch noch in einer wohlständigen Gesellschaft verhungern, aber dann wurden die Bedingungen dazu mutwillig herbeigeführt.

Bei dieser Betrachtung übersieht man leicht, dass mit dem Wohlstand und der Freiheit zwar die Probleme nicht nur gelöst werden, sondern auch anwachsen, aber die Wohlfahrt sich ebenfalls steigert. Das heute teils heftig kritisierte Rentensystem wurde eingeführt, als die Relationen der Generationen einen solchen Vertrag zwischen ihnen zuließen: es müssen natürlich mehr Beitragszahler als Rentner vorhanden sein. Wir selbst haben den Vertrag verlassen, den wir jetzt kritisieren.

Wenn nun also fast das ganze zwanzigste Jahrhundert, und in der AfD und anderen rückwärtsgewandten Gruppen erneut in der Gegenwart, vor Gefahren gewarnt wird, die es offensichtlich nicht nur nicht gibt, sondern nicht geben kann, dann wird dieses Urmotiv beschworen und wir können – wie in der Natur – nicht fragen ‚warum‘, sondern nur wozu? Und es scheint fast so, als gäbe es nur ein einziges Motiv für diesen aber- und abermals wiederholten Versuch – und bisher sind sie alle gescheitert -, nämlich, dass es funktioniert. Es gibt immer wieder, vielleicht sogar periodisch, Menschen, die auf solche Führer warten, um von ihnen bestätigt und verführt zu werden.

Immer wieder wird die Aufnahme von Flüchtlingen zum Streitpunkt zwischen denen, deren Führer und Sprecher Angst schüren und jenen, die glauben, dass Barmherzigkeit zur Grundausrüstung des Menschen aller Ecken und Enden der Welt, aller Religionen und Philosophien gehört. Wer also halb Lagos, würde man heute statt Kalkutta sagen, aufnimmt, glauben jene, die an Barmherzigkeit glauben, tut erst einmal das beste: er oder sie ist barmherzig. Natürlich kann jemand, der nicht schwimmen kann, niemanden aus den Fluten des Rheins retten. Aber Deutschland könnte sehr wohl die Hälfte von Lagos, also zehn Millionen Menschen, aufnehmen. Der lange als Experte gefeierte, später als Medien-Scharlatan wohl besser titulierte Autor des inkriminierten Satzes hat Migrationsbewegungen schlecht beobachtet. Wer in den Slums von Kalkutta oder Lagos lebt, hat keine Chance nach Europa zu kommen. Um dem Elend zu entfliehen, bedarf es einiger Intelligenz und Lebenshärte, einer intakten Familie und auch etwas Geld. Der Sinn der Migration bestand selten und besteht auch heute nicht darin, das eigene Leben zu retten oder zu verbessern. Weltweit, vielleicht mit Ausnahme von Europa, Japan und Nordamerika, wird noch in Familienkategorien gedacht. Die Situation der Gesamtfamilie verbessert sich durch das Familienmitglied, das es nach Nordamerika oder Europa geschafft hat. Aber auch die Situation des Gastlandes verbessert sich, allerdings nicht gleich nach Eintreffen des Migranten. In Israel kann der Flüchtling sofort, ohne Sprach- und Integrationskurse arbeiten. Im Libanon gibt es vor allem sehr viele weibliche Flüchtlinge, die in sklavenähnlichen Verhältnissen leben [siehe Blog Nr. 329  ‚Kapernaum‘]. Wen wundert es, dass man in Deutschland als Flüchtling, damit man die Chance hat, Neubürger zu werden, eine menschenwürdige Unterkunft bekommt, Sprach- und Integrationskurse besuchen und sich eine Ausbildung oder Arbeit suchen muss.  Wer also halb Kalkutta oder halb Lagos aufnimmt, verbessert in jedem Fall – sogar berechenbar – die Gesamtsituation der Welt. Das ist seit sehr langer Zeit wohlbekannt.

Die andere Seite ist noch interessanter, weil quantitativ größer und qualitativ bedeutender: Wer glaubt, dass er von masseneingewanderten Slumbewohnern selbst zum Slumbewohner wird, der hat, leger gesagt, nicht alle Tassen im Schrank. Selbst die zehn Millionen Menschen aus Lagos, die nicht kommen können, könnten unseren überdimensionierten Reichtum nicht aufessen. Bedenken wir bitte dazu nur drei Zahlen: ein Kalb kostet bei uns im Moment weniger als ein Kanarienvogel (unter 9 €), wir schreddern pro Jahr 50 Millionen männliche Küken und wir werfen elf Millionen Tonnen Lebensmittel weg. Die nächste Gefahr nach den Slumbewohnern, auch von Scholl-Latour geschürt, ist der Islam. Es gibt nichts weniger als den Islam. Er ist die zerstrittenste Religionsgruppe. Der politische Islam ist praktisch zerfallen, selbst seine bisher hochpotenten und natürlich rivalisierenden Protagonisten, Saudi-Arabien und Iran, sind am Erliegen. Es mangelt ihnen an Geld, unfassbar. Ein islamistischer und gleichzeitig militaristischer Diktator, Generalmajor Dr. Omar Al Bashir im Sudan, wurde von seinem Volk gestürzt und die Militärclique, die ihn beerben wollte, in wenigen Tagen zum Einlenken gezwungen. Der politische Islam ist weiter unberechenbar, aber so gut wie unwirksam. Es ist schrecklich, was in einigen Ländern geschieht, in Niger herrscht der Hunger, in Nigeria das Chaos, aber gefährlich für uns ist da nichts. Gegen den islamistischen Terror in Mali reichen einige wenige französische Miragebomber und die dazu passende deutsche Logistik. Selbst das Hocharabische, als gemeinsame Sprache und religiöse Klammer, verfällt zugunsten nationaler Dialekte. Die gesamte arabisch-islamische Region ist arm, zerstritten und unfähig.

China kann mit seiner merkwürdigen Kombination aus Liverpoolkapitalismus und kommunistischer Einpartei- und Einmannherrschaft nicht gewinnen. Es wird zusammenbrechen. Nach wie vor exportiert Deutschland mit knapp 40 Millionen Arbeitskräften gerade einmal ein Drittel weniger als China mit mindestens 600 Millionen Arbeitskräften (1.560:2.487 Milliarden US-$).

Weder aus unserem Wertesystem, das noch grundlegender ist als unsere Verfassungen, noch durch Gefahren aus ärmeren Ländern lässt sich begründen, warum wir unsere endlich gefundenen kombinierten Moral- und Marktvorstellungen ändern sollten, wenn Medienscharlatane den Weltuntergang proklamieren.

DER WERT EINES APFELS

Nr.  338

Im Fernsehen beißt ein Mann oder eine Frau in einen Apfel und als Text hört man, dass man sich krankenversichern oder prophylaktisch behandeln lassen soll, damit man später auch noch so kraftvoll in Äpfel beißen kann. Unsere liebsten Äpfel kommen aus Neuseeland und Israel. Dagegen ist nichts einzuwenden. Das sind die neuen Eckdaten für ein einstiges fundamentales Lebenssymbol.

Durch den Überfluss der Dinge haben sich sowohl das Ranking als auch der Fokus verschoben. Der Mensch entfremdete sich erneut von seinen Lebensgrundlagen. Die erste Entfremdung war bekanntlich die Industrialisierung, die Arbeiten wurden – aus handwerklichen oder bäuerlichen Produzenten – zum Teil des Arbeitsprozesses oder sanken sogar zum Maschinenteil herab. Ein Arbeiter bei VW, der die Setzung von 400 Schweißstellen pro Minute sowohl am Monitor als auch analog verfolgt, erhält einen Teil seiner Selbstständigkeit zurück: er kann die ganze Arbeit verwerfen und verschrotten. Die zweite Entfremdung lässt uns genetisch manipulierte, aus Massentierhaltung stammende oder über eine Entfernung von mehr als 18.000 Kilometern herbeigeholte Lebensmittel verzehren, zu denen wir kein Verhältnis entwickeln können. Gleichzeitig erklärt sich der Bauer im Nachbardorf, der mit computergesteuerten Systemen 2000 Hektar bearbeitet, zum wichtigsten Beruf. Als Gipfel dieser unheilvollen Phase sieht man immer wieder eine geschälte Mandarine, die in Plastik eingeschweißt ist. Eins unserer Hauptprobleme heißt Verpackung, die auch ein Teil der Entfremdung ist. Eine einfache Influenza-Diagnostik beschäftigt heute eine ganze Phalanx von Maschinen, die den Ärzten jedes empirische Denken und Handeln buchstäblich aus der Hand nimmt.

Immer wieder gibt es Versuche, unser Leben zu reformieren, auf den Boden der Natur zurückzuführen. Vor hundert Jahren blühte eine vielschichtige Reformbewegung, die auf Obsternährung, Sport und Genossenschaften gründete. Nackte, langhaarige Prediger zogen durch Europa und ermahnten die Menschen zur natürlichen Lebensweise. Fünfzig Jahre davor warb der viel gelesene Graf Tolstoi für Bildung und Einfachheit, allerdings in extrem christlicher Ausprägung. Wieder hundert Jahre zurück glaubte Rousseau, dessen Einfluss man nicht überschätzen kann, dass die damals so genannten Wilden das eigentliche Leben repräsentierten, während jede Zivilisation notwendig rückwärts geht.

Wie zwei Lavaströme aus dem Eyjafjallajökull laufen also die Rationalisierung genannte Entfremdung und die Reformierung genannte Rückkehr zur Natur nebeneinander. Eine Maschine nach der anderen wurde erfunden, heute redet man fast ausschließlich von Künstlicher Intelligenz, also von Maschinen, die Maschinen und Technologien ohne weiteres Zutun des Menschen herstellen. Der Alptraum dieser Entwicklung sind Milliarden von Menschen, die weder verhungern noch etwas tun.

Der Apfel muss als Tatsache und als Symbol wieder in unser Bewusstsein und in unsere Jackentasche zurückkehren. Nicht nur vor dem Weltuntergang und nicht nur jeder Mann sollte einen Apfelbaum selbst pflanzen und nutzen. Schon allein die dann entstehenden Gespräche wären eine ungeheure Bereicherung. Dabei wäre die autarke Ernährung auf dem Land nur ein abstraktes und ideales, der Vitamin und Sauerstoffreichtum das konkrete Ziel.

Bildung sollte weniger als staatliche, oft widerwillige wahrgenommene Aufgabe gesehen werden, sondern als kollektive und vor allem aktive Aneignung der äußeren, der maschinellen und der inneren Welt. Als Fächer genügen Fußball, Theater und Scouting. Alle notwendigen Abstraktionsprozesse würden sich unterwegs ergeben. Vorbild ist nicht nur der katechetische und maschinengestützte europäische Bildungstyp, sondern auch der afrikanische Ubuntukreis mit fünfzig Schülern als Gegenmittel zu allzu ausgeprägtem Individualismus.

Arbeit muss wieder als Wertschöpfung wahrgenommen werden können, das heißt, sie muss es auch sein. Die beiden größten Errungenschaften, das Handwerk und die Landwirtschaft, müssen von jedem Menschen auf der Erde verstanden und praktiziert werden. Wir können nicht mit dem Wahn weitermachen, immer nur die letzte Erfindung als größte und einzige Möglichkeit zu verstehen. Der gegenwärtige Preisunterschied zwischen industriellen und handwerklichen Produkten würde sich durch eine Verschiebung der Anzahl der Produzenten ausgleichen. Wie die Lebensreformbewegung vor hundert Jahren setzen wir auf Genossenschaften als Organisationsform. Aber auch die vor zwanzig Jahren eher ironische gemeinte ICH-AG sollte ernsthaft gedacht werden.

Der Lebenssinn ergibt sich aus den neuen und überdimensionierten Möglichkeiten der Kunst als Antikonsum. Durch die milliardenfache Reproduktion ist Kunst einerseits zum Konsumartikel herabgesunken, andererseits aber durch die Inflation von Zeit und Geld für jeden machbar. Es fehlen – als Bindeglied – oft nur die Fertigkeiten. Fiktion ist längst Teil der Wirklichkeit geworden, aber viele glauben noch und nur an die Kraft der immer wackliger werdenden Fakten. Die Menschen sehnen sich sowohl nach Sinn, der sich aus Kunst, als auch nach einem Übervater oder einer Übermutter, die sich aus entzerrter Religion ergeben. Jede Institution trägt den Keim der Spaltung und des Wahns in sich. Vielleicht und hoffentlich eröffnen die online-Vernetzungen neue Möglichkeiten.

Zwei Irrwege der Industrialisierung sind die großen Städte und das Automobil. Die Konzentration von Menschen als Arbeitskräfte war nur eine historische Etappe, ist heute überflüssig. In den nichtindustriellen Ländern ist dieser Irrweg ohne Industrie, aufgrund der bloßen Hoffnung auf ein besseres Leben nachgeahmt worden. Allein die Slums von Lagos, der 22-Millionen-Stadt in Nigeria, mit ihrer eigenen Lebens- und Produktionsweise, teilweise auf dem Wasser, ihrer Kunst und ihrem Leid und hunderttausendfachem Tod auf Megatonnen Müll, sollte ein schnelles Umdenken von den Städten aufs Land bewirken. Fragt man alte Menschen in dünnbesiedelten Gegenden, warum sie ein Auto – in Australien und Island auch gerne ein Flugzeug – benutzen, dann zeigt sich die Grundversorgung als Hauptgrund. Aber jede Ware ist heute online bestellbar und mit Elektroautos am nächsten Tag lieferbar. Die medizinische Versorgung muss ebenfalls einfach neu organisiert werden.

Es geht also nicht um einen neuen Maschinensturm – silesian weaver’s like -, sondern um den Unterschied von Renaissance und Konservatismus. Während der Konservatismus zwangläufig auch schädliche Traditionen – wie zum Beispiel die Wehrpflicht oder das Robbentöten – bewahrt, kann die Renaissance diejenigen Elemente der Vergangenheit wiedergebären, die jetzt einen völlig neuen Sinn oder einen Zweck für alle – omnibus, ubuntu -, eine neue Dimension oder eine ungeahnte Vernetzung haben.

Globalisierung – seit 1444! – ist auch angstbesetzt, die einen fürchten eine Islamisierung, die andern eine Anglisierung. Diese Ängste mögen verständlich sein, nachvollziehbar sind sie zum Glück nicht. Mit dem Wohlstand sinkt nicht nur die Kinderzahl, sondern auch die Notwendigkeit institutionellen Glaubens. Statt also Angst zu kultivieren, sollten wir lieber – freiwillig – einen Weltramadan einführen und uns freuen, dass wir mit jedem Menschen, welcher Muttersprache auch immer, in Englisch online – und natürlich auch analog – reden können.

Lasst uns lieber Gedanken importieren als Äpfel.