DAS PARADOX DER SPRACHE. WORTE.

Nr. 373

 

Fünfundsiebzig Jahre nach dem letzten großen Krieg sprechen die Enkel und Urenkel immer noch die Sprache der Täter, ihrer Ahnen, obwohl sie deren Ziele und Taten verurteilen, ablehnen und schon lange nicht mehr nachvollziehen können. Dabei ist der Streit um den Antisemitismus höchst aktuell, nicht nur, weil es erneut antisemitische Gesinnungen gibt, die Taten ermutigen und erlauben, sondern weil es inzwischen auch andere Menschengruppen in unserer Gesellschaft gibt, die ausgeschlossen und angegriffen werden. Sowohl die Angreifer als auch die Angegriffenen sind kleine Minderheiten, vielleicht deshalb glaubt eine große Mehrheit, schweigen zu dürfen. Den Begriff und die Vorstellung der schweigenden Mehrheit zu Rechtfertigung erfand der irrationale Amtsvorgänger von Trump, Richard M. Nixon, auch Tricky Dick genannt. Nixon hat es mit seinen üblen Tricks nicht geschafft, die amerikanische Gesellschaft zu entdemokratisieren. Man kann optimistisch sein, dass es auch Trump nicht schaffen wird, sicher ist es nicht.

Die Sprache der Täter ist sicher nicht die Ursache für Angriffe auf Menschen, und die meisten europäischen Länder sind in einem Maße sicher und lebenswert, das im Kongo oder in Honduras, wo pro Jahr und auf 100.000 Menschen bezogen achtundfünfzig >Mal mehr Menschen durch Mörderhand sterben, unvorstellbar ist. Trotzdem ist es merkwürdig, dass wir es nicht lassen können, nach Rechtfertigungen für die Untaten unserer Vorväter ausgerechnet bei ihnen selbst, den Tätern zu suchen.

So heißt es noch heute: diese Menschen wurden ‚aus rassischen Gründen‘ ermordet. Vielleicht schleppen wir diese Formulierung schon seit den ersten Nachkriegsjahren mit uns herum, aber das rechtfertigt sie nicht. Es gibt keine ‚rassischen Gründe‘, weil es keine Rassen und keine Gründe gibt, Menschen zu töten. Die Juristen schlagen für dieses Phänomen einen Sammelbegriff vor, nämlich ‚niedere Beweggründe‘, zu den Mordmerkmalen zählen noch das Naziwort ‚Heimtücke‘ und die sehr relative ‚besondere Grausamkeit‘. Aber alle diese Begriffe sind besser als die ‚rassischen Gründe‘, die selbst das Bundespräsidialamt benutzt.

Wenn wir uns in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhundert zurückversetzen, dann sind die damals lebenden Menschen insofern entschuldigt, als dass sie in der Schule lernten, dass es drei verschiedene, auch qualitativ differente menschliche Rassen gibt. Man kann nicht von jedem Schüler verlangen, dass er im Lexikon nachsieht, um zu überprüfen, ob das, was der Lehrer sagt und an den Schautafeln im Klassenzimmer steht, auch wirklich gut ist. Hätte er jedoch im Meyers Konversationslexikon von 1907 nachgelesen, so hätte er zumindest eine differenziertere Sicht gefunden. Man kann nicht von jedem Schüler verlangen, dass er in der Bibel nachliest, ob das, was seine Lehrer sagen, wenn schon nicht wissenschaftlich haltbar, so doch moralisch unanfechtbar ist. Weder im alten noch im neuen Testament gibt es ausdrückliche Segregation. Der Satz des Kain ‚Soll ich meines Bruders Hüter sein‘ bezieht sich zwar in der Geschichte auf einen leiblichen Bruder, aber die Geschichte steht symbolisch für die neolithische Revolution, meint also den jetzt gefährdeteren Mitmenschen. Yesus hat nicht nur alle Menschen, die er kannte, für gleich erachtet, sondern Gleichnisse dafür geliefert, so das vom barmherzigen Samaritaner, das einem ganzen Berufungszweig den Namen gab (Samariter), oder das von der Ehebrecherin, in dem er sich zu einem der größten Sätze der Moralgeschichte aufschwang.

Die ständige Betonung der Herkunft ändert nichts an der in allen Religionen und Philosophien betonten Gleichheit der Menschen. Die Menschen unterscheiden sich, ‚nur von Seiten ihrer gründe nicht‘, könnte man einen der großen Gedanken der Aufklärung hier anwenden. Was ist die Form einer Nase (oder was Sie wollen) gegen einen Gedanken oder gegen die seit altersher überlieferte Gastfreundschaft. Diese Gastfreundschaft ist doch die freundliche Aufnahme eines unbekannten Menschen auf die Vermutung und Gewissheit hin, dass er ein Mensch wie du und ich ist. Der urbane Mensch hat diese Spontanfreundschaft auch auf domestizierte Tiere übertragen. Erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde das Kindchenschema entdeckt. Jetzt wissen wir, dass die böse Wölfin unser Baby versorgt, das wir im Wald liegenließen.

Die Betonung der Herkunft dient sehr oft als Rechtfertigung für das Böse. Deshalb ist es nicht besonders praktikabel, dass wir zwar das Wort ‚Rasse‘ geächtet, ‚Rassismus‘ aber beibehalten haben. Den Gebrauch der Worte kann man nur schwer ändern, das ändert nichts an der Weisheit des Laotse, dass das Übel in den Worten seinen Ursprung hat. Mein Vorschlag für die Ablösung von ‚Rassismus‘ ist das etwas sperrige Segregation, das sowohl im anglophonen Raum als auch in der Wissenschaft schon lange verwendet wird. Für das Gegenteil, die empathische Gleichstellung aller Menschen, die oft mit der Zerschlagung ihrer Ketten einherging, bietet sich das historische Wort Abolitionismus an, das man englisch und lateinisch aussprechen kann und das ursprünglich die Befreiung der Sklaven meinte, dann aber überhaupt die Befreiung der Menschen. Man ist noch lange nicht frei, lässt Lessing sagen, wenn man seiner Ketten spottet.

Nicht ganz so grundlegend ist die sprachliche Rechtfertigung des Krieges, weil Krieg oder nicht Krieg nicht so sehr vom Willen des einzelnen abhängt wie die Diskriminierung anderer Menschen. Der zweite Weltkrieg, hier oft wörtlich zu verstehen als der letzte große Krieg, wird von der Seite des Angreifers her einmütig missbilligt, bis auf ein paar Neonazis auch von den meisten Deutschen.  Trotzdem kann man beiläufig lesen, dass jemand am ‚Polenfeldzug‘ teilgenommen hat, das ist die euphemistische Nazibezeichnung für den Überfall auf unser Nachbarland, für den das schon erwähnte Wort ‚Heimtücke‘ besonders zutrifft, weil mit dem gefakten Überfall auf den Sender Gleiwitz ein Rechtfertigungsgrund geschaffen worden war: Seit fünf Uhr, sagte Hitler im Reichstag, wir ZURÜCKgeschossen. In den lexikalischen Biografien der Nazigeneräle stehen übrigens minutiös alle Auszeichnungen und Orden aufgelistet, die sie bekanntermaßen für gigantische und monströse Untaten erhielten. Hier dürfte die Grabsteinfrage WARUM? angebracht sein, denn diese Praxis könnten wir ganz leicht ändern. So schön das Wort ‚Heeresluftschifffahrt‘ auch sein mag, es bezeichnete eine ebenso grausige Tatsache wie das vom Schlachten herkommende Wort Schlacht. Und übrigens dauerte der Krieg gegen Polen keinesfalls nur siebzehn Tage, wie die Nazipropaganda bis heute glauben machen will. Polnische Einheiten kämpften auch in der Befreiung von Berlin mit, die nicht nur die letzte große Schlacht des zweiten Weltkrieges, sondern der Menschheit war.

Aber auch den Siegesfeiern etwa in Russland, Frankreich und Kanada, so verständlich und berechtigt die Freude über den Sieg auch ist, haftet ein Quäntchen Nostalgie des Krieges, der Uniformen, Orden und nicht zuletzt Waffen überhaupt an. Es ist viel schwerer auf eine berechtigte Siegesfeier zu verzichten, als auf der Rechtfertigung eines noch dazu unsinnigen und heimtückischen Angriffs zu bestehen. Die Gleichberechtigung der Nationen, die den Krieg begonnen und die ihn gewonnen haben, wäre durch den Verzicht auf Waffen wiederhergestellt, und zwar auf die menschlichste und religiöseste Weise, die überhaupt denkbar ist.

Die Herstellung und der Verkauf von Waffen ist nicht die Ursache des Streits, wohl aber die Verlängerung eines äußerst falschen, in das Grunddilemma des Lebens führenden und immer kontraproduktiven Versuchs der Konfliktlösung.

Der Grundimpetus menschlichen Daseins ist die Fürsorge, und die Freude sollte ihr ständiger Begleiter sein. Für beide braucht man keine Waffen, auch nicht als Metapher.

DAS WACHSENDE HAUS

Nr. 176

Am Anfang war das Wort. Aber dann kam schon die Hütte. Wir Menschen brauchen immer ein Obdach und oft auch einen Mentor, aber da wir fast immer nach der trial and error Methode vorgehen, müssen wir manchmal dutzende oder hunderte von Jahren mit unseren Irrtümern leben und lernen dabei auch Widerstand und Geduld. Vielleicht ist dies auch ein Generationenkonflikt: am Anfang leisten wir Widerstand und später folgen wir den Mentoren, die schon alt waren als sie uns den Rat gaben, Geduld zu lernen und zu üben.

So kann man die Geburt der Renaissance, was ja Wiedergeburt heißt und somit wunderbar den Ausschnitt aus dem uns unendlich erscheinenden Zyklus von Werden und vergehen beschreibt, in das Florenz des ersten Drittels des 15. Jahrhunderts (italienisch Quattrocento) datieren. Masaccio, der Schüler, der schon Meister war, gestaltet in seinem Fresco Dreifaltikgkeit die Dreidimensionalität und sein Lehrer Brunelleschi vollendet 1436 die Kuppel des Doms, erfindet dabei den Rückwärtsgang eines Getriebes und überholt die Byzantiner, die kurz darauf den Osmanen unterliegen, die dann weiter Kuppeln bauen, die ihren Gipfel in Mimar Sinan erreichen. Die Weltgeschichte kann man in einem Satz einzufangen versuchen.

In Berlin wurde einst ein komplexes Nahverkehrssystem für eine Weltstadt entwickelt. Berlin leistete sich früher auch Stadtbaudirektoren, die Meilensteine der Baugeschichte setzten. Ludwig Hoffmann überzog die Stadt mit einem Netz wunderbarer Bildungseinrichtungen, Gemeindeschulen, deren kathedralartige Elemente den unterprivilegierten Schülern wenn schon nicht Perspektiven aufzeigen, so doch Raum für Trost bieten konnten. Indessen nahm das Elend nicht in dem Tempo ab, wie es notwendig gewesen wäre. So gesehen kann man den ersten Weltkrieg auch als ein großes Ablenkungsmanöver von den Nöten der Zeit sehen, wahrscheinlicher aber ist er das erste gescheiterte Rückzugsspektakel des Konservatismus. Man wird nicht behaupten können, dass mit dem sozialen Wohnungsbau auch tatsächlich alle sozialen Probleme gelöst werden können. Das Gegenteil, dass man nämlich mit einer Wohnung einen Menschen wie mit einer Axt erschlagen könne, ist sowohl behauptet (Heinrich Zille) als auch lange Zeit zitiert worden.

Dagegen trat nun der Stadtbaudirektor Martin Wagner mit seiner Idee des sozialen Wohnungsbaus an. In Ernst Reuter fand er seinen Senator, in einer ganzen Phalanx von hervorragenden Architekten und Landschaftsarchitekten kongeniale Mitarbeiter. Poelzig bezeichnete Wagner als Regisseur des Bauens. Einige der damals gebauten Wohnsiedlungen gehören heute zum UNESCO-Weltkulturerbe (Schillerpark, Hufeisensiedlung, Wohnstadt Carl Legien, Siemensstadt, Weiße Stadt). Viel später verkam der soziale Wohnungsbau zu einer urbanen Subkultur, zu den berüchtigten Plattenbauten an den Rändern schnellwachsender Großstädte, suburbs, banlieus, gecekondus, Vorstädte, Wohnsilos. Das moderne Ghetto fand hier seine Heimat.

Martin Wagner wurde von den Nazis entlassen. Er lebte noch einige Jahre in Berlin wie ein Flüchtling. Weil er es nicht ertragen konnte, ohne Arbeit, ohne Einkommen, ohne die Fortführung seiner großen Ideen zu sein, setzte er sich jeden Morgen in die S-Bahn und fuhr von seinem Reihenhaus im Eichkamp in Charlottenburg an die Stätte seines einstigen Wirkens, das Rote Rathaus. Sein Freund Hans Poelzig verschaffte ihm einen Beraterauftrag in Istanbul, wo allerdings keines seiner geplanten Häuser gebaut wurde. Wieder ein paar Jahre später wurde er Harvardprofessor, fand noch einmal seine Bestimmung als Stadtplaner und entwickelte etwas, das wir heute im doppelten Sinn gut gebrauchen könnten: das wachsende Haus.

Schon in Istanbul muss Wagner beim Anblick der vielen Moschee- und Marktkuppeln (Bedestan) die Idee seines Igloo Hauses gekommen sein, das größte Variabilität auf kleinstem Grundriss ermöglicht. Über dem kreisrunden Grundriss erhob sich eine vorgefertigte Kuppel, außen aus Stahl, innen aber mit Sperrholz ausgeführt. Diese Igloo-Elemente konnten beliebig kombiniert werden. Ebenfalls vorgefertigte Fundamente aus Stahlbeton zeigen die Herkunft Wagners aus dem deutschen Wohnungsbau, der eben auch die Vorfertigung (Schinkel) und den Plattenbau hervorgebracht hat. Die erste deutsche Plattenbausiedlung hatte Wagner selbst entworfen, sie befindet sich in Friedrichsfelde, im Berliner Stadtbezirk Lichtenberg. Der heutige Name der Splanemann-Siedlung ehrt einen kommunistischen Widerstandskämpfer, der alte Name ‚Kriegerheim-Siedlung‘ war nach zwei Kriegen für die Bewohner und den Erbauer unerträglich geworden.

Martin Wagner wurden zwar von General Motors die Patentkosten bezahlt, aber sonst fand sich kein Investor für seine großartige Idee, die für den normalen Wohnungsbau, für schnell erforderlichen Wohnraum, für Wochenend- und Zweitwohnungen, auch für den militärischen Unterkunftsbau geeignet gewesen wäre. Er stand im Briefwechsel mit seinem berühmten Kollegen Richard Buckminster Fuller, der auch schon ökologische Gedanken mit seinem ganz ähnlichen Projekt, dem Dymaxion, verband. Beide waren zu früh gekommene Denker und Konstrukteure.

Warum nun eine so großartige Stadt wie Berlin sich weder auf die in ihr geborenen Ideen besinnt noch diese Ideen überhaupt erinnert, statt dessen ein Bild des hilflosen Durcheinanders bietet, gerade auf den Gebieten, wo sie schon einmal weltweit führend war, bleibt unverständlich. Knapp hunderttausend Flüchtlinge kamen in den letzten Wochen und Monaten nach Berlin. Teils sind sie in komfortablen Containerbauten untergekommen, teils in vorhandenen Heimstätten, aber eben auch in konfiszierten Turnhallen und anderen unwürdigen Massenunterkünften. Jeder weiß, dass es dort zu Stress und Hysterie kommen muss. Warum weiß niemand Verantwortliches, dass der bedeutendste Berliner Stadtplaner einst Häuser ersann, um genau so eine Krise zu meistern. In schneller und doch ökonomischer und ökologischer Bauweise hätten Wohnstätten entstehen können, die Lücken gefüllt und die Menschen menschenwürdig und sogar komfortabel dezentral untergebracht hätten. Zudem sind diese Kuppeln ein wunderbares Architekturzitat, eine hochsignifikante Metapher für das Himmelszelt, dessen moralisierende Funktion zwar in Königsberg beschrieben, aber gleichwohl in Deutschland und anderswo vergessen wurde. Schon lange fragen sich viele Menschen, wann endlich von Berlin wieder Gedanken ausgehen von der Größe der Relativitätstheorie, Ideen verwirklicht werden von der Art des wachsenden MW-Hauses, übrigens befand sich auch das erste Kraftwerk der Welt in Berlin. Auch andere Obdachlose, denn was sind Flüchtlinge?, kann man auf diese Weise unterbringen. Überhaupt müssen wir endlich darüber nachdenken, dass es zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum keine Hierarchie gibt, es ist die eine Lebensweise nicht der anderen überlegen. Es ist überhaupt keine Lebensweise einer anderen überlegen. Trotzdem und gerade deswegen können und müssen wir voneinander lernen. Das wird im täglichen Kleinleben auch nicht so sehr bezweifelt, im großen Leben dagegen prallen immer wieder einmal Ideen aufeinander, darunter auch solche, die längst vom Leben widerlegt wurden. Andere, gute, wichtige dagegen stehen in der Warteschlange.

 

 

Für meine zahlreichen österreichischen Leser bemerke ich noch, dass Martin Wagner aus einer nach Ostpreußen ausgewanderten Salzburger Familie stammte. Das MW-Haus habe ich den Aufzeichnungen seines Sohnes, ‚Martin Wagner – Leben und Werk‘, Hamburg 1985 entnommen. Zwei nicht unbedeutende Quellen, Dehio und Wikipedia, geben für das Weddinger Rathaus einen anderen Architekten, einen Mitarbeiter Wagners, an.