DREI TRAUERFEIERN

Der französisch-deutsche Fernsehsender ARTE hat vor kurzem einen Film wiederentdeckt, der die Beisetzung von Gamal Abdel Nasser zeigt. Nasser starb mit nur 52 Jahren auf dem Tiefpunkt seiner Macht im Jahre 1970 und wurde am 1. Oktober beigesetzt. Er hatte dreimal verloren: den Sues-Krieg gegen Großbritannien, Frankreich und Israel, das Projekt Vereinigte Arabische Republik mit Syrien und dem Irak, das schon nach drei Jahren scheiterte, und schließlich den 6-Tage-Krieg. Nasser glaubte an die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘, einen plump gefälschten Text von 1903, der den Anspruch und die Verschwörung der Juden zu einer Weltherrschaft beschreiben soll. Demzufolge glaubte er nicht an die Existenzberechtigung des Staates Israel, mit dessen überlegener Militärmacht er nicht gerechnet hatte. Bei uns im Osten herrschte die Erzählung vor, dass der Generalstabschef und Verteidigungsminister Moshe Dayan, der diesen Krieg souverän gewann und seinen legendären Ruhm damit begründete, eine Ausbildung an der sowjetischen Generalstabsakademie erhalten hatte. Tatsächlich war Dayan ein Kibbuznik, sein Vater war schon 1908 aus der Ukraine nach Palästina gekommen. Und tatsächlich waren die ägyptischen und syrischen Generäle sowjetisch geschult und hatten sowjetische Waffen und Flugzeuge. Moshe Dayan war als Beobachter im bösartigen Vietnamkrieg und soll gesagt haben: ‚Die Amerikaner gewinnen dort allesmögliche – außer den Krieg.‘ Das ist ein schöner Satz, der auch für die Russen im gegenwärtigen Krieg gegen die Ukraine gilt.

Nasser trat in drei von ihm selbst ausgewählten und so benannten Kreisen an: für den Panarabismus, den Panafrikanismus gemeinsam mit Kwame Nkrumah aus Ghana, und schließlich für den Panislamismus, in dem er Saudi Arabien (Sunniten) in Konkurrenz zum Iran (Schiiten) unterlag. Der Panarabismus ist krachend gescheitert, es hat noch nicht einmal die Sprache überlebt. Für den Panafrikanismus, nachdem er sich von Gaddafi befreien konnte, gibt es neuerdings wieder eine Chance in der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC), die mit einem Zipfel des Kongo sogar bis an den Atlantik reicht.

Auf Nasser wurde ein Attentat von einem Muslimbruder ausgeführt, das ihn schwer verletzte, den Attentäter aber in der Folge tötete.

Nasser genoss trotzdem bei seinem Tod ein so hohes Ansehen, dass zu seiner Beerdigung fünf Millionen offensichtlich ehrlich trauernder Anhänger kamen, Kairo war damals bei weitem noch nicht so groß wie heute. Die Sicherheitskräfte waren außerstande, die wenigen ausländischen Trauergäste und den Sarg auf der zehn Kilometer langen Trauerstrecke zu schützen. Der höchste Gast war der sowjetische Ministerpräsident Kossygin. Die Gäste wurden in der Parteizentrale, wo schon die trauernden und verängstigten Frauen, darunter die Witwe und die Töchter, warteten, notuntergebracht. Auf dem Sarg, dessen Fahne zerrissen und gestohlen war, saßen zum Schluss Soldaten, die verzweifelt mit Gegenständen auf die allzu Zudringlichen, sozusagen die Vorhut der fünf Millionen, einschlugen.

Der Grund dafür liegt nun nicht in der angeblich besonderen Mentalität des Orients, der emotional aufgeheizten Stimmung und der vermeintlichen angeborenen Disziplinlosigkeit. Gerade die Hoffnungen auf ein besseres Leben, die auf Nasser lagen, obwohl er so eklatant versagt hatte, zeigen, dass die Ägypter keine andere Mentalität haben als alle anderen Menschen auf der Erde. Sie unterscheiden sich lediglich durch die Sprache und gering zu achtende Traditionen von anderen. Ihre Hoffnungen richten sich wie überall auf ein besseres und sicheres Leben.

Drei Jahre zuvor, am 25. April 1967, war ein steinalter Politiker zu Grabe getragen worden, der ebenfalls von seinen Wählern geschätzt wurde, so dass es zu ehrlicher Trauer kam. Konrad Adenauer hatte eine politische Karriere lange hinter sich, als er 1949 der erste Bundeskanzler des westlichen Deutschlands wurde. Seine überdimensionierten Leistungen waren die Aussöhnung mit Frankreich und die Implantierung Westdeutschlands in ein westliches Wirtschafts- und Militärbündnis und – heute nur noch schwer verständlich – die Rückholung der letzten 10.000 Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, die dort, zehn Jahre nach Kriegsende, immer noch zur Sühne für ihre Untaten schuften mussten. Diese Aktion hatte aber damals einen überhöhten symbolischen Wert, da bis dahin nur eine Minderheit der deutschen Bevölkerung das Unrecht und das Verbrechen einsah, das in dem Krieg gegen die europäischen Völker gelegen hatte. Viel größer war die gemeinsam mit dem ersten israelischen Präsidenten David Ben Gurion ausgehandelte Versöhnung mit den überlebenden Juden, aber sie wurde, wenn überhaupt, nur verschämt wahrgenommen. Adenauer war weder Nazi noch Ideologe und glaubte ganz sicher nicht an die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘. Er war ein alter Pragmatiker, dessen Todesjahr gleichzeitig die Zeitenwende eines protodemokratischen Systems wurde, ab 1968 begann eine neue Generation über neue Möglichkeiten der Politik nachzudenken.

Die weit mehr als zehn Kilometer lange Trauerstrecke, vom Kölner Dom bis zum Friedhof in Adenauers Wohnort Rhöndorf, war gesäumt von weinenden und staunenden Menschen. Die beiden wichtigsten Politiker der Zeit, Lyndon B. Johnson und General de Gaulle, die sich nicht leiden konnten, gingen in der ersten Reihe, getrennt durch den umstrittenen Bundespräsidenten Lübke, zwölf weitere Regierungschefs und Vertreter von 180 Staaten, darunter der sowjetische Außenminister Gromyko, der übrigens seine bemerkenswerte Karriere unter Stalin begonnen und unter Gorbatschow beendet hatte, folgten. Es gab keinen Zwischenfall. In Deutschland gab und gibt es, trotz Weltkriegen und grausamsten Diktaturen, Weltwirtschaftskrisen und Inflationen eine seit Jahrhunderten gefestigte Struktur. Niemand wagt es, eine Absperrung zu übertreten, nicht, weil er sich vor Strafen oder knüppelnden Soldaten fürchten müsste, sondern weil er weiß, dass er in jedem Falle unwichtiger ist als der Tote, weil er weiß, dass sein Leben auch nach dem Tod eines noch so wichtigen Politikers gesichert weitergeht. Adenauer war übrigens in seiner vierten Amtszeit zurückgetreten und hatte zwei Nachfolger im Amt noch erlebt: seinen von ihm ungeliebten, vom Volk hoch geachteten Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und seinen Zögling Kiesinger, den sogar in der ersten Großen Koalition.

Diese von außen betrachtet bewundernswerte Strukturiertheit, wir im Innern leiden eher etwas darunter, kann man noch besser als an der Trauerzeremonie an dem einzigen Attentat zeigen, das auf Adenauer verübt wurde. In München gab ein Herr zwei Schuljungen ein Paket, das er angeblich aus Mangel an Zeit nicht selbst weiter befördern konnte, mit der Bitte zur Aufgabe bei der Post. Aber die beiden Jungen wurden stutzig über die immense Höhe des Trinkgelds und darüber, dass der Herr sie trotz vermeintlichen Zeitmangels verfolgte. Es waren offensichtlich solche Jungen, wie sie Erich Kästner schon 1929 in seinem wunderschönen Buch ‚Emil und die Detektive‘ beschrieben hatte. Sie wurden stutzig und gingen zur Polizei statt zur Post. In dem Paket an Dr. Konrad Adenauer befand sich eine Briefbombe. Der Sprengmeister der Polizei starb. Adenauer empfing – absolut zeitgemäß – die beiden Jungen und bedankte sich – total altmodisch – mit je einer goldenen Uhr.  

Der Attentäter gehörte zu einer jüdischen Partisanengruppe, die Rache an den Deutschen geschworen hatte. Adenauer verzichtete auf jede Verfolgung. Zur Struktur kann gerne auch menschliche Größe treten.

Die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Feiern ist die religiöse Komponente, Nasser wurde in der Abdel-Nasser-Moschee in Kairo bestattet, Adenauer im Kölner Dom verabschiedet.

Genau in der Mitte zwischen Struktur und Chaos verlief die Zeremonie am 9. März 1953 für einen der grausamsten Diktatoren aller Zeiten, für Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt STALIN – der Stählerne. Er hatte fast dreißig Jahre regiert, in denen Millionen Menschen durch seine Herrschaftsmethoden sterben mussten, Gulag, Hungersnot, ‚Säuberungen‘ genannte Erschießungsorgien. Aber den überlebenden Millionen ging es besser als früher.

Er starb im Alter von 74 Jahren als Folge eines Schlaganfalls, nachdem er vorher alle seine Leibärzte hatte erschießen lassen, weil sie Juden waren. Ob er an die Protokolle der Weisen von Zion glaubte, wissen wir nicht, wir wissen, dass er seine Macht immer wieder mit Grausamkeiten gesichert hat. Es gibt kein Land auf der Erde, in dem mehr Innenminister hingerichtet wurden, denn nach den Massakern mussten immer auch die Schergen sterben.

Bei der Trauerfeier herrschte eine durch die Präsenz zehntausender Soldaten erzwungene Struktur. Volk und Trauerzug sind durch bewaffnete Soldaten getrennt. Der Trauerzug selbst ist noch ganz althergebracht: Marschälle und Generäle tragen die Orden, der Katafalk wird von berittenen Pferden gezogen, nebenher die überlebenden Rivalen, die auf der Tribüne versichern, dass sie das Land nicht durch Streitigkeiten ins Chaos stürzen werden. Wenige Wochen später wird aber bereits der widerlichste Rivale erschossen, Berija, der Sicherheitsminister und sein Stellvertreter folgen nach. Tausende andere werden befreit oder gar rehabilitiert.

Wir wissen nicht, ob das Volk, unter dem eine Panik ausbrach, so dass fünfhundert Menschen zertreten wurden, ehrlich trauerte oder nur Angst vor der Ungewissheit der Zukunft hatte. Bei der Krönung des letzten Zaren waren übrigens tausendvierhundert Menschen gestorben, nicht weil sie Nikolaj II. zujubeln wollten, sondern weil sie nach den Lebensmittelpaketen drängten, die an dem Tag als Geschenke verteilt wurden.

Herkunft kann hindern oder fördern. Zumeist wird ihre Wirkung aber überschätzt. Durch Bildung oder Flucht, Tod oder Koalition kann sich fast jeder Mensch aus der misslichen Lage befreien, in die er durch Unheil geriet, sei es staatlich oder religiös organisiert, sei es durch Naturkatastrophen herbeigeführt, sei es selbst verschuldet.

Andererseits sind wir Menschen aber nicht vor der Faulheit und Dummheit gefeit, die schon der alte Kant als die natürlichen Feinde der Mündigkeit, der Selbstbestimmtheit, der Freiheit erkannt hatte. Und er konnte sich dabei auf Rousseau und Seneca berufen, die wiederum mit Yesus korrespondierten, gar als deren geistige Onkel bezeichnet wurden. Ihre Paten sind Sokrates und Pythagoras und Gautama Buddha. Beinahe möchte man schreiben: UNDSOWEITER. Das ist die DNS der Menschheit: Kooperation. Wir sind nicht verdammt, Sklaven einer ausgedachten Erbsünde, einer konstruierten Hautfarbe, denn niemand ist rot oder gelb, weiß oder gar schwarz,  einer Herkunft, einer erdichteten Mentalität, eines demagogischen Gut oder Schlecht zu sein. Wir sind nicht verdammt, die Ketten, in die man uns legte, zu tragen.

Wir dürfen aber nicht übersehen, dass solche Prozesse immer Jahrhunderte dauern. Nur darin liegt der Unterschied zwischen Gesellschaften: an welchem Punkt der Prozesse sie sich befinden. Man kann weder Freiheit noch Demokratie exportieren. Bildung ist ein mühseliger Vorgang. Erörterung und Abwägung dauern länger als Vorurteil.  

NEUN KANZLER

Als Kohl Kanzler wurde, gab es viel Spott. Er wurde für einen Provinzpolitiker gehalten, der er auch war. Es gab viele Witze über ihn, zum Beispiel über seine ständige Bevorzugung von Rheinland-Pfalz oder über seine mäßigen Englischkenntnisse. Seine Doktorarbeit in Geschichte hat er über den Kreisverband Ludwigshafen, seine Heimatstadt, der CDU geschrieben, aber nicht abgeschrieben. Aber dann kam die deutsche Wiedervereinigung und alle seine vermeintlichen oder wirklichen Fehler und Gebrechen waren schnell vergessen. Denn er verwirklichte eine Grundintention und einen Grundglauben der CDU, an die niemand, auch er selbst nicht, mehr geglaubt hat, mit einem pragmatischen Schwung und einer geradezu historischen Großzügigkeit, die er dann selbst wie einen Ehrenmantel vor sich hertrug.  

Als Angela Merkel eher unerwartet Kanzlerin wurde, hatte auch sie schlechte Karten. Man hielt sie für eine Emporkömmlingin und für ein Protegé von Kohl, den sie dann auch noch verriet. Die dreißig Silberlinge, so glaubten viele, waren der Parteivorsitz und die Kanzlerschaft. Sie biss eine Reihe katholischer junger Männer weg, die alle von einer Premiumkarriere in der rheinisch-katholischen CDU geträumt hatten. Aber dann kamen die Krisen, die sie meisterte, und der Kandidatenmangel, der ihr nutzte, und Merkel wurde dreimal wiedergewählt. Niemand weiß, obwohl es viele behaupten, ob die CDU durch sie oder nur mit ihr nach links oder in die Profillosigkeit rutschte. Viel spricht dafür, dass die Zeit der Volksparteien, vielleicht überhaupt der Parteien, zuende ist.

Kohl und Merkel starteten jedenfalls mit dem falschen Omen und waren dennoch erfolgreich. Diese Feststellung ist wichtig, weil sie andeuten soll, dass, was wir über Olaf Scholz vermuten, falsch sein kann. The proof of pudding is eating.

Die ersten beiden Bundeskanzler waren im neunzehnten Jahrhundert nicht nur geboren, sondern auch verwurzelt. Adenauer, der schon dreiundsiebzig Jahre alt war, als er mit einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt wurde, war ein – wenn auch bedeutender – Kommunalpolitiker gewesen, der von den Nazis zwangspensioniert und mehrfach kurz inhaftiert wurde. Obwohl er eindeutig ein Pragmatiker war, hatte er dennoch die Vision des Ausgleichs mit dem Jahrhundertfeind Frankreich, der ihm auch gelang. Auf französischer Seite wurde ein General sein Partner, der zweimal gegen Deutschland gesiegt hatte. General de Gaulle, ebenfalls ein Konservativer, war im ersten Weltkrieg in deutscher Kriegsgefangenschaft, aus der er floh, mit dem späteren sowjetischen Marschall Tuchatschewski befreundet gewesen, den Stalin noch vor dem zweiten Weltkrieg wegen seiner überragenden und nicht nur militärischen Fähigkeiten erschießen ließ. Viele ältere Menschen haben als Adenauers größte Leistung allerdings die Befreiung der letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion gesehen, durch die er der erste westliche Politiker war, der offiziell die UdSSR, den neuen Erzfeind, besuchte. Sein Nachfolger wurde sein Intimfeind Ludwig Erhard, der als Wirtschaftsminister als Vater des Wirtschaftswunders und der sozialen Marktwirtschaft gilt. Er hatte über Jahrzehnte einen Beratervertrag mit der von den Nazis enteigneten Philipp Rosenthal AG, was ihn zum Begründer des korrupten Flügels der CDU macht. Ihre Feindschaft war tief und andauernd. Zum Beispiel rüffelte Adenauer Erhard an meinem achten Geburtstag in der Rentenfrage mit einem dienstlichen Brief, in dem er zwei Sätze Erhards zitierte und sagte, dass er sie nicht glauben könne und in dem er Erhard auf seine Richtlinienkompetenz aufmerksam machte. Es ging um die Rentenanpassung als Inflationsausgleich. Weiter ging später nur die Merkel, indem sie ihren Intimfeind Röttgen, der gerade jetzt, nachdem Merkel in Rente ging, sein comeback versucht, in aller Öffentlichkeit aus dem  Amt entfernte. Die Bundesrepublik ist mit den ersten beiden Kanzlern von den Werten her, anders als die DDR, tief im neunzehnten Jahrhundert verankert.

Die nächsten drei Bundeskanzler, Kiesinger, Brandt und Schmidt sind auf unterschiedliche Weise mit der Nazizeit verbunden. Kiesinger war NSDAP-Mitglied und rundfunkpolitischer Mitarbeiter des Reichsaußenministeriums, eine Stelle, die ihm sein Schüler Gerstner verschafft hatte, der später in der DDR Agent und Chefreporter der Berliner Zeitung war. Von links aus betrachtet war Kiesinger nach Bundeskanzleramtsminister Globke und Geheimdienstchef Gehlen der dritte prominente Nazi in der Führung der Bundesrepublik, aber erstens war er wohl nur ein sehr kleines Licht gewesen und zweitens fühlte sich die Mehrheit der Bundesbürger durchaus durch ihn repräsentiert. Ein gewisse Größe muss man ihm sogar zugestehen, weil er die erste große Koalition führte, in der Brandt sein Außenminister und Vizekanzler war. Brandt war denn auch die Wende der Bundesrepublik zu mehr Demokratie und weniger Nazitum. Er war emigriert, arbeitete im Widerstand und als Journalist, war polyglotter Weltbürger und ein wenn auch undogmatischer, so doch lupenreiner Sozialdemokrat. Sozusagen ein Enkel Bebels, der in dessen Todesjahr geboren wurde. Brandt bekam den Friedensnobelpreis für die erfolgreiche Verfolgung seiner Vision des Ausgleichs mit dem europäischen Osten und trat überflüssigerweise wegen einer Spionageaffäre, die ihm Markus Wolf und Erich Mielke eingebrockt hatten, zurück. Sein Nachfolger wurde der ehemalige Wehrmachtsoffizier Schmidt, der später täglich zehn mehrsprachige Zeitungen las und zwar keine Visionen, aber äußerst gediegene Kenntnisse und Fähigkeiten sowie einen hervorragenden praktischen Sinn hatte. Auch er war ein Weltpolitiker und wurde nach Brandt der zweite und letzte elder statesman Deutschlands. Allerdings begann unter ihm das Bröckeln und Auseinanderdriften der SPD. Wahrscheinlich oder möglicherweise war Schmidt gar kein Sozialdemokrat, sondern einfach Politiker oder noch besser: der geborene Chefadministrator. Ohne Wehner, den gewendeten, ehemals führenden Kommunisten, kann man weder Brandt noch Schmidt noch den Zerfall verstehen. Aber er war kein Bundeskanzler, weil er es wegen seiner Vergangenheit nicht hätte werden können.

Die nächsten drei Bundeskanzler kann man als die Nachkriegsgruppe zusammenfassen. Kohl und Schröder stammten aus armen bis sehr armen Familien und entsprachen so dem deutschen Ideal einer Repräsentation der Normalität in den Politikern. Merkel stammte zwar aus dem Mittelstand, war aber aus dem Osten und eine Frau. Unter der neuen Regierung wird Schröders größte Leistung, die Zusammenfassung von Arbeitslosengeld II und anderer Transferleistungen unter dem unglücklichen Namen Hartz IV, Bürgergeld heißen. Aber was ändert das? Dieses Geld soll gleichzeitig Familien ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und den Anspruch auf einen Arbeitsplatz verfolgen. Die Linkspartei, die so vehement dagegen gekämpft hat, ist mit diesem Kampf und ihren ewigen innerparteilichen Querelen untergegangen. Das wäre nicht schlimm, wenn nicht an ihre Stelle, mit einem ähnlichen populistischen Ansatz, nun aber von rechts, eine selbst ernannte Alternative getreten wäre, die zehn Prozent der Wähler fest im Griff zu haben scheint, obwohl sie bisher nicht einen einzigen realistischen oder gar visionären Vorschlag gemacht hat.

Ob Olaf Scholz einst zu einer Gruppe gehören wird, lässt sich selbstverständlich nicht voraussagen. Von der letzte Gruppe trennt ihn seine reine bundesdeutsche Biografie, seine Herkunft aus dem unteren Mittelstand und vielleicht auch sein Beruf als Rechtsanwalt. Seine rhetorische und mimische Unbeweglichkeit kann ein falsches Omen sein. Auf jeden Fall aber ist er mehr Verwalter als Visionär. Allerdings hat er mit Habeck und Lindner zwei durchaus charismatische Partner, die ihn vorwärtstreiben könnten. Der Oberlangweiler Gauland wollte ja einst Merkel jagen, aber leider gelang ihm nicht ein einziger Antrag oder Gedanke und er verfiel der Lächerlichkeit. Deswegen hoffen wir darauf, dass die ganz neuartige Koalition, das erste Mal koalieren drei Parteien, von denen jeweils nur zwei zusammenpassen, sich gegenseitig vorwärtstreiben wird, was wir uns als durchaus positiven, sportlichen Akt vorstellen möchten. Olaf Scholz könnte als ausgleichender Kanzler zweier Charaktere in die Geschichte eingehen. Er hat also nicht nur ein großes politisches Programm vor sich, für dessen Verwirklichung er wiedergewählt werden muss, sondern muss auch neue interne Maßstäbe als Kanzlertyp setzen. Hoffen wir für uns, dass er seinen Kohl-Merkel-Pfad finden wird.

DIE RUINE DER HUFNAGELFABRIK

Nr. 380

 

Im Dreieck zwischen der B 167, dem Finowkanal und der Eisenbahnlinie Berlin-Stralsund liegt eine malerische Industrieruine, die von Carl Blechen, der nicht weit von hier tatsächlich gemalt hat, erdacht worden sein könnte. Es ist die erste und einzige Hufnagelfabrik Deutschlands. Die Villa des einstigen Unternehmers ist in einem winzigen Urwald verschwunden, der wohl ein Park war und nun sehr erfolgreich versucht, den Primat der Natur wiederherzustellen. Kulturhistorisch ist es sicher eine Schande, dass solche Orte erst verfallen und dann verschwinden. Andernorts gibt es Bürgerinitiativen, die versuchen, einen Sinn für Ruinen außerhalb rein musealer Vorstellungen zu schaffen. Aber so viele Räume werden nicht mehr gebraucht. Wir halten uns lieber in überheizten und überhitzten Einkaufszentren auf.

Im Jahre 1869 erfand ein deutscher Unternehmer namens Clemens Schreiber eine Maschine zur Herstellung der bis dahin handgeschmiedeten Hufnägel. Es gab zu diesem Zeitpunkt Millionen von Pferden, die Milliarden von Hufnägeln verbrauchten, mit denen die Eisen auf den Hufen der Tiere befestigt wurden. Das typische Geräusch der schnell wachsenden Städte war das Klappern der Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster. Wenn man das Aussterben der Pferde als Zugtiere beklagt, muss man sich gleichzeitig fragen, ob diese Pferde glücklich gewesen sein können. Wenn man allerdings schon nach dem Glück der Pferde fragt, darf man sich auch die nicht sehr zufriedenen Menschen vorstellen. Vielmehr kämpften sie mithilfe der SPD und ihrer Bildungsvereine für den Achtstundentag, die Gleichberechtigung der Frau und für den ihren Aufstieg durch Bildung.

Wenige Jahre nach dem Aufstieg der Hufnagelfabrik begann der Siegeszug des Automobils, das zunächst für ein gefährliches Luxusgut und für einen Pferdemörder gehalten wurde. Die Perfektion eines Systems kann als sicheres Anzeichen für sein Ende gesehen werden. In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts verlor das Handwerk als produzierendes Gewerbe endgültig seine Bedeutung. Noch hundert Jahre bestand es als Dienstleister fort, um jetzt als Modulaustauscher einer Wegwerfgesellschaft einen weiteren Wertewandel zu erleben. Ausgerechnet der Pferdemörder Automobil wurde zum Symbol von Freiheit und Bildung. Deshalb fällt der Abschied jetzt so schwer. Vielleicht sterben das Automobil und die Sozialdemokratie gemeinsam, aber nicht, weil eine sich Alternative nennende Partei eine bessere Lösung wüsste oder wäre, sondern weil das Automobil und die Sozialdemokratie selbst einen Perfektionsgrad erreicht und eine Perfektionierung der Gesellschaft geschaffen haben, die ihren Tod bedeuten. Die Gesellschaft dagegen sucht sich einen neuen Fetisch und ein neues Ziel.

Der Philosoph dieser Entwicklung war nicht, wie wir lange annahmen, Karl Marx mit seiner obsiegenden Arbeiterklasse, und schon gar nicht Houston Stewart Chamberlain mit seiner obsiegenden Bleichrasse, auch nicht Johann Heinrich Wichern mit seiner Rückkehr zu einer obsiegenden Glaubensmasse, sondern es war der nach dem Preußenkönig benannte Friedrich Wilhelm Nietzsche, der die Umwertung aller Werte voraussagte und nicht mehr an den Sieg irgendeines Prinzips glauben machen wollte. Sein oft missverstandener neuer Typ war nicht der Übermensch einer Klasse, einer ‚Rasse‘ oder eines Glaubens, sondern der flexible fitte Leser.

So wie aber das Werk jedes Philosophen voller Widersprüche und Widerworte ist, wir erinnern an Hegels Afrikabild und Adornos falsches Leben, so scheinen im Leben der Gesellschaft nicht nur Höhen und Tiefen, sondern auch Perfektionen und Zusammenbrüche auf. Kein Wunder also, dass so viele Menschen unbelehrbar und immer wieder auf monolithische fehlerfreie Blöcke des Wissens und des Seins hoffen. Immer noch träumen so viele Menschen von Definitionen und Wahrheiten und schlüssigen Erklärungen, weil es sie so viele Jahrhunderte lang tatsächlich zu geben schien. Es wäre schön, wenn es sie gäbe, wer hat das nicht schon auch gedacht? Aber sie sind vergänglich, sie sind eitel und Asche im Wind, wie es schon beim weisen König Salomo heißt.

In der derzeitigen Krise sowohl der Demokratie als auch des Diskurses, die vielleicht aber auch nur die Vorbereitungsphase zu einer neuen Stufe des gesellschaftlichen Selbstverständnisses ist, geht es merkwürdigerweise nicht darum, Argumente auszutauschen, sondern sich seiner Gruppe und seiner Zugehörigkeit zu versichern. Man redet sozusagen nicht nach vorne zum angenommenen Gegner, sondern nach hinten zum eignen Stall und erfreut sich am zustimmenden Blöken. Wer so fühlt, glaubt sich immer noch in einer abgegrenzten Schafherde, hat von einer Umwertung aller Werte noch nichts bemerkt. Vor allem können wir nicht genau wissen, was und wohin von uns umgewertet wird. Die Zutaten mögen schon bereitliegen, aber wir kennen den Kuchen noch nicht, der offensichtlich auf uns wartet.

Vielleicht könnten die beiden folgenden Vorschläge helfen, uns Menschen in unserem Festigkeits- und Sicherheitswahn zu erschüttern:

Es sollten Gedenkstätten des Zerfalls geschaffen oder Ruinen in der Absicht des Gedenkens aufgesucht werden. Ruinen sind Gegenstücke zur Fiktion, auch in ihrer Sonderform als Vision: verzerrte Wirklichkeiten mit didaktischer Absicht. Der große Häfner* mag uns die Ruinen hingestellt haben, in dem Sinne wie Hölderlin einst vom zerstörten Palmyra erzählte, das man schon wieder beklagen muss. Aber: es wird immer etwas fehlen, das zerstört wurde. Der Wiederaufbau mag ein Trost sein, ein utilitaristisches** Darüberhinweggehen, wir jedoch müssen mit dem Verlust zu leben lernen. Man kann nicht alles einfach zukleistern. Das widerspricht nicht der Notwendigkeit von Neubau und Neukonstruktion, zu der es Mut, Zuversicht, Kreativität und Jugend braucht.

Es sollten kleine Kompendien zuhauf gedruckt werden, wie sie die deutschen Soldaten im ersten Weltkrieg mit in den Tod nahmen, in denen sie zum Heldentum aufgerufen wurden, genauso wie die Millionen Chinesen, die mit der Mao-Bibel heldenhaftes schaffen sollten, aber Opfer wurden, weil sie geopfert wurden. Allein Salomos und Nietzsches Gedanken enthalten dutzende und aber dutzende Hinweise zur Vergänglichkeit, Shakespeares Frühstück, bei dem man nicht isst (!), sondern gegessen wird, kann gleich auf dem Titel stehen. Es müssen alle Denkperioden der Menschheit und alle Richtungen ausgesucht werden, damit schon in den Zitaten die Widersprüche der wirklichen Welt deutlich werden. Sowohl die Abbildung der widersprüchlichen Welt kann nur in lauter Widersprüchen bestehen, wie auch die Denker sich selbst widersprachen und widerriefen. Adenauers schöner Satz ‚Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern‘, der immer negativ zitiert wird und als Zeichen der Treulosigkeit der Politiker genommen wird, sagt genau das, was wir lernen sollten: von gestern ist nicht soviel zu lernen. Trotzdem gibt es übergreifende Weisheiten, die zu allen Zeiten galten und gelten werden.

*Häfner süddeutsch für Töpfer, in Barockgedichten Gottesmetapher, hier im Sinne des Demiurgen, des personalisierten Prinzips, das die Welt schafft und leitet, aber der Nachteil dieses [Hegelschen] Prinzips ist, dass man daran glauben muss

**nur auf den Nutzen bedacht