
Als Kohl Kanzler wurde, gab es viel Spott. Er wurde für einen Provinzpolitiker gehalten, der er auch war. Es gab viele Witze über ihn, zum Beispiel über seine ständige Bevorzugung von Rheinland-Pfalz oder über seine mäßigen Englischkenntnisse. Seine Doktorarbeit in Geschichte hat er über den Kreisverband Ludwigshafen, seine Heimatstadt, der CDU geschrieben, aber nicht abgeschrieben. Aber dann kam die deutsche Wiedervereinigung und alle seine vermeintlichen oder wirklichen Fehler und Gebrechen waren schnell vergessen. Denn er verwirklichte eine Grundintention und einen Grundglauben der CDU, an die niemand, auch er selbst nicht, mehr geglaubt hat, mit einem pragmatischen Schwung und einer geradezu historischen Großzügigkeit, die er dann selbst wie einen Ehrenmantel vor sich hertrug.
Als Angela Merkel eher unerwartet Kanzlerin wurde, hatte auch sie schlechte Karten. Man hielt sie für eine Emporkömmlingin und für ein Protegé von Kohl, den sie dann auch noch verriet. Die dreißig Silberlinge, so glaubten viele, waren der Parteivorsitz und die Kanzlerschaft. Sie biss eine Reihe katholischer junger Männer weg, die alle von einer Premiumkarriere in der rheinisch-katholischen CDU geträumt hatten. Aber dann kamen die Krisen, die sie meisterte, und der Kandidatenmangel, der ihr nutzte, und Merkel wurde dreimal wiedergewählt. Niemand weiß, obwohl es viele behaupten, ob die CDU durch sie oder nur mit ihr nach links oder in die Profillosigkeit rutschte. Viel spricht dafür, dass die Zeit der Volksparteien, vielleicht überhaupt der Parteien, zuende ist.
Kohl und Merkel starteten jedenfalls mit dem falschen Omen und waren dennoch erfolgreich. Diese Feststellung ist wichtig, weil sie andeuten soll, dass, was wir über Olaf Scholz vermuten, falsch sein kann. The proof of pudding is eating.
Die ersten beiden Bundeskanzler waren im neunzehnten Jahrhundert nicht nur geboren, sondern auch verwurzelt. Adenauer, der schon dreiundsiebzig Jahre alt war, als er mit einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt wurde, war ein – wenn auch bedeutender – Kommunalpolitiker gewesen, der von den Nazis zwangspensioniert und mehrfach kurz inhaftiert wurde. Obwohl er eindeutig ein Pragmatiker war, hatte er dennoch die Vision des Ausgleichs mit dem Jahrhundertfeind Frankreich, der ihm auch gelang. Auf französischer Seite wurde ein General sein Partner, der zweimal gegen Deutschland gesiegt hatte. General de Gaulle, ebenfalls ein Konservativer, war im ersten Weltkrieg in deutscher Kriegsgefangenschaft, aus der er floh, mit dem späteren sowjetischen Marschall Tuchatschewski befreundet gewesen, den Stalin noch vor dem zweiten Weltkrieg wegen seiner überragenden und nicht nur militärischen Fähigkeiten erschießen ließ. Viele ältere Menschen haben als Adenauers größte Leistung allerdings die Befreiung der letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion gesehen, durch die er der erste westliche Politiker war, der offiziell die UdSSR, den neuen Erzfeind, besuchte. Sein Nachfolger wurde sein Intimfeind Ludwig Erhard, der als Wirtschaftsminister als Vater des Wirtschaftswunders und der sozialen Marktwirtschaft gilt. Er hatte über Jahrzehnte einen Beratervertrag mit der von den Nazis enteigneten Philipp Rosenthal AG, was ihn zum Begründer des korrupten Flügels der CDU macht. Ihre Feindschaft war tief und andauernd. Zum Beispiel rüffelte Adenauer Erhard an meinem achten Geburtstag in der Rentenfrage mit einem dienstlichen Brief, in dem er zwei Sätze Erhards zitierte und sagte, dass er sie nicht glauben könne und in dem er Erhard auf seine Richtlinienkompetenz aufmerksam machte. Es ging um die Rentenanpassung als Inflationsausgleich. Weiter ging später nur die Merkel, indem sie ihren Intimfeind Röttgen, der gerade jetzt, nachdem Merkel in Rente ging, sein comeback versucht, in aller Öffentlichkeit aus dem Amt entfernte. Die Bundesrepublik ist mit den ersten beiden Kanzlern von den Werten her, anders als die DDR, tief im neunzehnten Jahrhundert verankert.
Die nächsten drei Bundeskanzler, Kiesinger, Brandt und Schmidt sind auf unterschiedliche Weise mit der Nazizeit verbunden. Kiesinger war NSDAP-Mitglied und rundfunkpolitischer Mitarbeiter des Reichsaußenministeriums, eine Stelle, die ihm sein Schüler Gerstner verschafft hatte, der später in der DDR Agent und Chefreporter der Berliner Zeitung war. Von links aus betrachtet war Kiesinger nach Bundeskanzleramtsminister Globke und Geheimdienstchef Gehlen der dritte prominente Nazi in der Führung der Bundesrepublik, aber erstens war er wohl nur ein sehr kleines Licht gewesen und zweitens fühlte sich die Mehrheit der Bundesbürger durchaus durch ihn repräsentiert. Ein gewisse Größe muss man ihm sogar zugestehen, weil er die erste große Koalition führte, in der Brandt sein Außenminister und Vizekanzler war. Brandt war denn auch die Wende der Bundesrepublik zu mehr Demokratie und weniger Nazitum. Er war emigriert, arbeitete im Widerstand und als Journalist, war polyglotter Weltbürger und ein wenn auch undogmatischer, so doch lupenreiner Sozialdemokrat. Sozusagen ein Enkel Bebels, der in dessen Todesjahr geboren wurde. Brandt bekam den Friedensnobelpreis für die erfolgreiche Verfolgung seiner Vision des Ausgleichs mit dem europäischen Osten und trat überflüssigerweise wegen einer Spionageaffäre, die ihm Markus Wolf und Erich Mielke eingebrockt hatten, zurück. Sein Nachfolger wurde der ehemalige Wehrmachtsoffizier Schmidt, der später täglich zehn mehrsprachige Zeitungen las und zwar keine Visionen, aber äußerst gediegene Kenntnisse und Fähigkeiten sowie einen hervorragenden praktischen Sinn hatte. Auch er war ein Weltpolitiker und wurde nach Brandt der zweite und letzte elder statesman Deutschlands. Allerdings begann unter ihm das Bröckeln und Auseinanderdriften der SPD. Wahrscheinlich oder möglicherweise war Schmidt gar kein Sozialdemokrat, sondern einfach Politiker oder noch besser: der geborene Chefadministrator. Ohne Wehner, den gewendeten, ehemals führenden Kommunisten, kann man weder Brandt noch Schmidt noch den Zerfall verstehen. Aber er war kein Bundeskanzler, weil er es wegen seiner Vergangenheit nicht hätte werden können.
Die nächsten drei Bundeskanzler kann man als die Nachkriegsgruppe zusammenfassen. Kohl und Schröder stammten aus armen bis sehr armen Familien und entsprachen so dem deutschen Ideal einer Repräsentation der Normalität in den Politikern. Merkel stammte zwar aus dem Mittelstand, war aber aus dem Osten und eine Frau. Unter der neuen Regierung wird Schröders größte Leistung, die Zusammenfassung von Arbeitslosengeld II und anderer Transferleistungen unter dem unglücklichen Namen Hartz IV, Bürgergeld heißen. Aber was ändert das? Dieses Geld soll gleichzeitig Familien ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und den Anspruch auf einen Arbeitsplatz verfolgen. Die Linkspartei, die so vehement dagegen gekämpft hat, ist mit diesem Kampf und ihren ewigen innerparteilichen Querelen untergegangen. Das wäre nicht schlimm, wenn nicht an ihre Stelle, mit einem ähnlichen populistischen Ansatz, nun aber von rechts, eine selbst ernannte Alternative getreten wäre, die zehn Prozent der Wähler fest im Griff zu haben scheint, obwohl sie bisher nicht einen einzigen realistischen oder gar visionären Vorschlag gemacht hat.
Ob Olaf Scholz einst zu einer Gruppe gehören wird, lässt sich selbstverständlich nicht voraussagen. Von der letzte Gruppe trennt ihn seine reine bundesdeutsche Biografie, seine Herkunft aus dem unteren Mittelstand und vielleicht auch sein Beruf als Rechtsanwalt. Seine rhetorische und mimische Unbeweglichkeit kann ein falsches Omen sein. Auf jeden Fall aber ist er mehr Verwalter als Visionär. Allerdings hat er mit Habeck und Lindner zwei durchaus charismatische Partner, die ihn vorwärtstreiben könnten. Der Oberlangweiler Gauland wollte ja einst Merkel jagen, aber leider gelang ihm nicht ein einziger Antrag oder Gedanke und er verfiel der Lächerlichkeit. Deswegen hoffen wir darauf, dass die ganz neuartige Koalition, das erste Mal koalieren drei Parteien, von denen jeweils nur zwei zusammenpassen, sich gegenseitig vorwärtstreiben wird, was wir uns als durchaus positiven, sportlichen Akt vorstellen möchten. Olaf Scholz könnte als ausgleichender Kanzler zweier Charaktere in die Geschichte eingehen. Er hat also nicht nur ein großes politisches Programm vor sich, für dessen Verwirklichung er wiedergewählt werden muss, sondern muss auch neue interne Maßstäbe als Kanzlertyp setzen. Hoffen wir für uns, dass er seinen Kohl-Merkel-Pfad finden wird.