MERKELS MEMOIREN

Warum Merkels Memoiren ‚Freiheit‘ heißen, kann gut mit ihrer Herkunft aus dem Osten, mit ihrem Aggregatzustand als Frau erklärt werden. In ihrer ersten Regierungserklärung bezog sie sich auf Willy Brandts erste Regierungserklärung, in der er ‚mehr Demokratie [zu] wagen‘ versprach. Sie wollte ‚mehr Freiheit wagen‘. Die Frage ist nun, warum eine law-and-order-Partei sich die Freiheit auf die Fahne schreibt. Partei und Parteivorsitzende sind nicht identisch, wie man leicht an der SPD studieren kann, die hat auf der einen Seite Bebel und Brandt hervorgebracht, auf der anderen Seite aber auch unterirdische Figuren wie Lafontaine und Scharping. Später ist Merkel unterstellt worden, sie hätte die CDU sozialdemokratisiert, von rechts in dieselbe Mitte transferiert, die kurz vor ihr Schröder und Blair, auch sie Parteivorsitzende, für ihre Parteien reserviert hatten.

Tatsächlich aber ist Merkel durch eine Verkettung für sie günstiger Zufälle an die Spitze von Partei und Land geraten, genauso wie Schröder aus seiner Armensiedlung. Biografien sind so wenig geradlinige Prozesse wie die Geschichte selbst. Die Koinzidenz von Person und Ereignis ist selbstverständlich zufällig und irrational. Deshalb gibt es Mathematik: um das Irrationale doch und irgendwie abzubilden. Deshalb ist einer der ersten Schlüsselsätze von Angela Merkel, dass sie zwar eine Wissenschaftlerin war, aber Gefahr lief, nicht bemerkt zu werden. Deshalb ist ihr Leben gegenüber reinen Parteisoldaten schon von vornherein abgehoben.

Für die ganze Klasse der rheinisch-katholischen Männer-CDU war Merkels Leben bis 1989 höchst erklärungsbedürftig. Mit der Spendenaffäre Kohls war andererseits ebendieser Männerzirkel an seine Toleranzgrenzen gelangt. Und drittens schließlich war das ganze Projekt der Volksparteien sichtlich beendet. Sie konnten nur noch um dieselbe Mitte kreisen. Die neuerliche Diskussion um den §218, den 80% der Bevölkerung abgeschafft sehen möchten, zeigt, wie weit die Bewahrungspartei sich von der Bewegungsbewegung entfernt hat, die in der Heimholung der Flüchtlinge des Sommers 2015 kulminierte. Unter Heimholung (‚Heim ins Reich‘) verstand man bis dahin irredentistische aggressive Akte wie die Rückeroberung des Saarlands, des Sudetenlands oder danach des Donbass. Merkel – in Absprache mit dem sozialdemokratischen österreichischen Kanzler Faymann – stellte dieses Prinzip vom Kopf auf die Füße: gerettet oder heimgeholt werden muss, wer sich in einer Notlage befindet. Es ging nicht um die allerdings sehr große Anzahl der Flüchtlinge dieses Jahres, sondern um jene, die von Viktor Orban auf die Straße – auf die Autobahn – getrieben worden waren: mehrere tausend Menschen, die schon eine dramatische Flucht vor allem auch aus Syrien[1] hinter sich hatten und denen nun zunächst Busse und dann Sonderzüge entgegengeschickt wurden. Die Bilder von ihrer Ankunft in München gingen um die Welt und zeigten Deutschland als Heimat der Menschlichkeit. Das hinderte aber die Bewahrungspartei, damals noch von Horst Seehofer, jetzt von Höcke, Weidel und Wagenknecht angeführt, nicht, entgegen dem offensichtlichen Willen einer Mehrheit auf dem Prinzip zu beharren, es zu bewahren, statt auf das Leben zu sehen und zu hören und etwas zu bewegen. Angela Merkel schreibt schon im Prolog ihres voluminösen Buches, dass die Rechtfertigung dieser weltpolitischen Szene der eigentliche Anlass für das bemerkenswert ausführliche, aber doch auch sehr schnelle Schreiben dieser Memoiren war. Diese Passagen sind auch spannend geschrieben, die eigene Erinnerung und der Text laufen über viele dutzende von Seiten synchron.

Die evangelischen Pfarrer in der DDR waren grob in zwei Gruppen geordnet vorstellbar: die Widerstandskämpfer, deren Konsequenz dann Gefängnis oder Brüsewitz-Syndrom[2] sein musste, und die Opportunisten, die mehr oder weniger mit der Schönherr-Formel ‚Kirche im Sozialismus‘ lebten. Zu denen gehörte auch der Vater von Angela Merkel, Horst Kasner, der noch dazu nicht Gemeindepfarrer, sondern Leiter eines Pastoralkollegs war, einer Fortbildungsstätte für Pfarrer. Das war der Verknüpfungspunkt der Merkel-Biografie mit der DDR-Geschichte, und nicht etwa, wie später vor allem von Pegida, AfD und Corona-Leugnern behauptet wurde, ihre Involvierung in die FDJ. Die FDJ war, außer in den Anfangsjahren der DDR, eher lächerlich. Die militaristische Infiltration oblag der GST, nicht der FDJ. So kann Merkel ihre Kindheit und Jugend glaubhaft und ohne Brüche als Idylle schildern. Zudem war sie eine Musterschülerin, die ihren Mangel an gesellschaftlichem Engagement durch die Teilnahme an den Russischolympiaden kompensieren konnte. Zur gleichen Zeit lernte in Dresden ein KGB-Offizier Deutsch. Im Gegensatz zu Merkel war und ist Putin geprägt von seiner Vergangenheit in einem Leningrader Hinterhof, dort im Kampf mit Ratten und Kriminellen, und später durch seine Ausbildung in einem der repressivsten Geheimdienste. Das war kein gutes Omen und schon gar keine Idylle.

Erst nach dem Studium kollidierte Merkel das erste Mal mit dem Staat, als sie in Ilmenau promovieren, aber nicht auf die Teilnahme an der evangelischen Studentengemeinde verzichten wollte und ebenso wenig bereit war, in dieser Gemeinde für die Staatssicherheit zu spionieren.

Ich habe nie CDU gewählt, auch nicht während ihrer Kanzlerschaft, mich interessierten an ihr nur die zeitliche und räumliche Nähe unserer Lebenswege und ihre überdurchschnittliche Fähigkeit, Krisen zu meistern. Nachdem ihre Ehe mit dem namensgebenden Dr. Merkel beendet war, eine Studentenliebe nennt sie sie, kam sie mit Dr. Sauer zusammen, der später ein bedeutender Chemiker und Professor wurde. Die eher provisorischen Altbauwohnungen in Ostberlin ergänzten die beiden bald – noch in der DDR-Zeit – durch den Ausbau eines nach 1945 von Umsiedlern, wie es bei uns hieß, oder Vertriebenen, wie sie im Westen genannt wurden, gebauten Hauses, das der Bauzeit und den Umständen entsprechend in einem schlechten Zustand war. Darin wohnen die beiden, neben der Wohnung gegenüber dem Pergamonmuseum, noch heute. Das ist der ganze Luxus der einst mächtigsten Frau der Welt.

Ausführlich beschreibt sie das Krisenmanagement, durch das sie weltberühmt wurde, jedenfalls in Politikerkreisen und dem interessierten Publikum. Die Griechenlandkrise, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch Lehman Brothers ausgelöst worden war, die Flüchtlingskrise und schließlich die Pandemie hat sie mit dem Stoizismus der märkischen Hausfrau, die sie auch ist, überstanden.

Während man gut verstehen kann, warum sich in der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine rechtskonservative Opposition bildete, bleibt dieses Verständnis während der Pandemie aus und wird von Merkel auch leider nicht vertieft. Selbst die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten wurden in vielen Städten und Dörfern unfreundlich bis feindselig aufgenommen. Mit dem Schimpfwort ‚Zigeuner‘ sollte wohl ausgedrückt werden, dass ihnen ein Mangel an Sesshaftigkeit nachgesagt werden kann. Flucht ist immer mit tatsächlichem Verlust auf Seiten der Flüchtlinge und Verlustangst auf Seiten der aufnehmenden Gesellschaft verbunden. Merkel und Faymann haben mit ihren – auch gegen die Dublin-Vereinbarungen verstoßenden – Entschlüssen einen größeren, menschlichen und auch christlichen Zusammenhang hergestellt, wie das in der Politik wahrlich selten ist. Die Bildung von teils recht aggressiven Oppositionen ist zwar nicht richtig und auch nicht verständlich, aber doch wenigstens verstehbar. Geld wird immer wieder als Pool, als endliche Menge vorgestellt. Wie vieles im Leben und in der Geschichte ist Geld aber ein Fluss. Die Billionen Euro, die durch Merkels umfangreiche Memoiren fließen und durch ihre Hände flossen, zeigen, wie falsch unsere absoluten Begriffe vom relativen Geld sind. Mir bleiben dagegen die Protestanten gegen die Pandemie-Maßnahmen bis heute ein Rätsel, da wir alle, die Politiker wie das Wahlvolk, nicht wissen konnten, was richtig und was falsch ist. Selbst Aktionismus war besser als abwarten oder vertuschen, wie es während der Spanischen Grippe, begünstigt durch den gleichzeitigen ersten Weltkrieg gang und gäbe war.

Die siebenhunderteinundzwanzig Seiten der Merkel-Memoiren zeigen, dass der Mensch, sei er nun Regierender oder Oppositioneller, nicht allwissend ist. Zum Leben gehört immer auch ein Grundvertrauen. Empörung ist keine Lösung, noch nicht einmal eine Option. Alternativlos ist nichts, aber nicht jede Wut ist schon eine Alternative. Wenn auch das letzte Drittel des Buches, wie auch schon vorher ein Abschnitt, wie der abgeschriebene Terminkalender wirkt, so bleibt es doch in seiner Gesamtheit nicht nur gut lesbar, sondern auch erhellend. In die Geschichte eingehen wird Angela Merkel mit ihren berühmtesten drei Worten, dem Credo aller Pragmatiker: WIR SCHAFFEN DAS.  

      


[1] Gerade heute [8. Dezember 2024], als ich das schreibe, wurde endlich der syrische Diktator Bashar al Assad gestürzt. Die neue Herrschaft muss nicht – aber kann – besser sein als die alte, aber es gibt einen Bösen weniger auf der Welt.

[2] Oskar Brüsewitz, umstrittener evangelischer Pfarrer, der sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche in Zeitz selbst verbrannte

DAS PIUS-PARADOXON

Vielleicht ist das ganze Leben nichts anderes als ein Wechselbad von Regeln und Freiheitssehnsucht. Jedenfalls glauben die Fanatiker an die Ordnung, die sie eben damit zerstören, und die Freidenker nehmen die Ordnung hin, obwohl sie die Freiheit behindert. So geht der Kampf seit Jahrhunderten hin und her.

Dabei kommt es immer wieder zu kontroversen Konstellationen: das Gedankenwerk des größt-denkbaren Freidenkers (‚wenn du deine Feinde liebst, hast du keine mehr‘, ‚wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein‘) wird in riesige Kathedralen und auf morsche Katheder verbannt und von einer krakenartigen Hierarchie steinalter Männer verwaltet. Solange sie die Macht und Kraft dazu hatte, verbrannte und erwürgte sie jeden einzelnen Gegner. 1209 wurden die Katharer aus Carcassonne vertrieben und erschlagen, 1336 wurden in der uckermärkischen Kleinstadt Angermünde Waldenser verbrannt, die Bogumilen in Bosnien gingen spätestens 1481 im Islam der türkischen Eroberer auf. Mit dem Aufscheinen der Moderne im neunzehnten Jahrhundert stand der altertümlich an der alten Ordnung festhaltende Klerus vor einer neuen Herausforderung, und seine Antwort war paradigmatisch und hieß Pius IX. Er war kein Visionär, noch nicht einmal im negativen Sinne, kein Fanatiker. Aber er glaubte fest an alles Alte. Gott spielte dabei eigentlich keine Rolle. Er setzte das Dogma von der unbefleckten Empfängnis der Maria durch. Statt also endlich die Kirche aus dem Bett herauszuhalten, schob er sie tiefer hinein. Das Ergebnis ist der massenhafte Missbrauch. Weiter, und noch wichtiger, prügelte er gegen eine schweigende Mehrheit das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes zusammen mit dem Jurisdiktionsprimat durch. Gemeint war zwar nur die theologische Lehrmeinung, aber sein Satz, dass, wer dem widerspräche, ausgeschlossen würde, ist zum Programm der Ordnungsfanatiker geworden. All die Lager und Gefängnisse des zwanzigsten Jahrhunderts sind Orte der Exkommunikation. Auf der anderen Seite: wer alle ausschließt, steht zum Schluss alleine da. Uns sollte nicht die Pervertierung des Christentums kümmern, die darin begründet liegt: Ausschluss statt Integration, sondern überhaupt die Desintegration als die verkehrtest mögliche Methode zur Aufrechterhaltung der Ordnung.

Die Ordnung macht nur Sinn und ist nur aufrechthaltbar, wenn sie freiwillig ist. Peitsche und Freiheit schließen sich aus, ja sogar schon Peitsche und Leben. Schwarze Pädagogik kann nur in einer Welt der Gefängnisaufseher enden. Kleriker, Mathematiker und Karussellbetreiber können die Welt nicht verstehen oder gar lenken, weil sie Regelwerke und Wegweiser und letztlich Gefängnisse bauen und sich mit ihnen im Kreise drehen. 

Die gegenwärtige Hochkonjunktur des Autoritarismus ist eine Fehlwahrnehmung. Die sagenhafte Urordnung mag Freiheit gewesen sein, das Paradies. Aber alle sichtbaren Ordnungen vor uns sind hierarchisch und autoritär, weshalb die Ordnungsfanatiker glauben, dass der Urzustand Ordnung war. Aber das ist evolutionär kaum denkbar. Die Frage ist also, ist Freiheit Fiktion, Fakt oder Ideal? Die Ordnung kann kein Ideal sein, weil das jede Entwicklung und Widersprüchlichkeit, die Konkurrenz, den Wettbewerb, letztlich die Fiktion ausschlösse. Erfindung und Tatsache sind im Ideal vereint, das der Findung dient, aber nicht mit ihr identisch ist. Das Ideal ist der Wegweiser, der Weg aber ist Freiheit. Das lehrt schon die Gemeine Stubenfliege (musca domestica) am Fenster.

Was hat nun dieser unsägliche und selbstverständlich unselige Papst mit uns zu tun? Er kann uns triumphieren lassen: die Tage der Diktatoren sind gezählt, wenn auch leider nur einzeln. Die Autokraten, die Beherrscher lediglich der Regeln und der Zitate, schädigen bedauerlicherweise nicht nur ihre vermeintlichen Feinde, sondern erfreulicherweise auch sich. So wie Pius IX. ausdrücklich den Ausgang aus der Kirche öffnete, so zerstören alle Autokraten und Hierarchen den inneren Zusammenhalt der Gesellschaften, denen zu dienen sie lediglich vorgeben. Tatsächlich hat keiner aus dieser Klasse ein tausendjähriges Reich begründet, wovon sie aber alle geträumt haben. Alexander Dugin zum Beispiel, der Hausphilosoph Putins, glaubt, dass die chinesische Zivilisation ‚den Triumph des Klans, des Volkes, der Ordnung und Struktur über jegliche Individualität‘* darstellt. Aber ein paar Seiten später wird Russland zum ‚bedeutendsten Pol des großen Erwachens‘, das seine imperiale Mission wiederentdecken muss. Wir zitieren das nur, um die eigenartige, personalisierte Geschichtsauffassung autoritärer Herrschaft zu zeigen. Einerseits schreibt Dugin, dass der russische Kollektivgeist sich bewusst für den Byzantinismus entschieden hat und bemerkt nicht die unfreiwillige Ironie. Andererseits beschwört er die wiederum bewusste Entscheidung für eine entliberalisierte und entglobalisierte russische Welt. Dugin glaubt sich als Lenin der Gegenwart, vergisst aber dessen Schicksal.

Im Gegensatz zu den Despoten und ihren Zitateverwaltern können wir nicht die Zukunft voraussagen. Wir sehen aber ein deutliches Auf und Ab und Hin und Her zwischen Ordnung und Freiheit, Autokratie, die Allwissenheit voraussetzt und imitiert – man beachte die handschriftlichen Notierer, die dem genialen Führer des nordkoreanischen Volkes, Kim Jong Un, auf dem Fuße folgen -, und Liberalismus, der bisher immer mit Wohlstand, Bildung und Demokratie einherging. Das wirtschaftliche Versagen aller Diktaturen rührt aus dem Mangel an Freiheit, der der Feind jeder Idee ist. Wer Kollektivismus zur Staatsdoktrin macht, muss sich über Orwellschen Überwachungswahn und kollektiven Schlendrian nicht wundern. Die Mängel der Demokratie – Langsamkeit, Entscheidungsschwäche, Unübersichtlichkeit – resultieren aus ihrem Erfolg. Der Despot muss schnell zurückschlagen und kann alle Fehler (mit neuen Fehlern) korrigieren. Die Demokratie muss es sich leisten, mehr als hundert Jahre an einem Gesetz zu arbeiten, denn sie will alle mitnehmen. In einer Krise ist das allerdings gefährlich. Wenn man beklagt, dass der Demokratie Menschen als Wähler oder Befürworter verloren gehen, dann muss man aber auch bedenken, dass in fast allen Autokratien Menschen erschossen oder vergiftet, hingerichtet oder wenigstens inhaftiert werden.

Papst Pius IX. ließ übrigens im Vatikan vermeintliche Spione hinrichten, er deckte den letzten Raub eines jüdischen Kindes, das zwangsgetauft wurde. Dabei blieb er ein freundlicher alter Mann, aber eben auch der oberste Katholik, der so böse war. Es wird immer ein Rätsel bleiben, wie man behaupten kann, an Yesus zu glauben und dann zum Vorbild für Despoten und Schlächter zu werden. In meiner Bibel steht: VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN. Aber der böse Pius muss wohl eine andere Bibel gehabt haben.      

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*DUGIN, Das große Erwachen gegen den Great Reset, London 2021, S. 42

WAS TUN?

In einem kleinen Dorf wohnte ein Mädchen, das immer eine rote Kappe trug. Es wurde deshalb Rotkäppchen genannt. Eines Tages sagte die Mutter zu dem Mädchen: ‚Rotkäppchen, die Großmutter ist sehr krank und ich habe keine Zeit. Gehe du zu ihr und besuche sie. Ich packe Kuchen und Wein ein, damit die Großmutter wieder zu Kräften kommt.‘

Die Großmutter wohnte aber in einem Wald, drei Kilometer von dem Dorf entfernt. Deshalb sagte die Mutter: ‚Rotkäppchen, du weißt, dass in dem Wald auch der böse Wolf wohnt. Wenn du den Weg verlässt, wird er dich fressen.‘ Rotkäppchen versprach aufzupassen. Aber in Wirklichkeit hatte es keine Angst, denn es ging gerne durch den Wald und hatte dort noch nie einen Wolf gesehen.

Als nun Rotkäppchen im Wald war, bemerkte es dort schöne Blumen. Rotkäppchen wollte für die Großmutter Blumen mitnehmen, denn die Großmutter liebte Blumen über alles und arbeitete gerne in ihrem Garten. Aber erst einmal musste sie wieder gesund werden.

Rotkäppchen pflückte Blumen, da hörte sie eine tiefe Stimme. War das nicht ein Wolf? Und stand neben ihm nicht eine Ziege?

Der Wolf sagte zu der Ziege: ‚Ich bin nicht böse. Ich fresse nie dein Gras. Es wäre also nur gerecht, wenn du mir ohne Gewalt dein Fleisch geben würdest.‘*

Die Ziege antwortete: ‚Nein. Man kann nicht das Leben gegen die Freiheit tauschen. Ich habe Hörner und ich habe Hufe. Ich werde solange gegen dich kämpfen, bis du verschwindest.‘

Rotkäppchen nahm schnell den Korb mit dem Kuchen und dem Wein und ihre Blumen und rannte so schnell sie konnte zu dem kleinen Haus ihrer Großmutter.

‚Großmutter‘, rief sie, ‚ich habe den Wolf gesehen und gehört. Er ist nicht nur böse, sondern auch dumm. Er wollte die Ziege überreden, sich fressen zu lassen.‘

Der Großmutter ging es schon viel besser. Sie setzte sich im Bett auf und sagte: ‚Rotkäppchen, wenn du allen Kindern der Welt auf Facebook schreibst, was du heute erlebt hast, dann wird es Frieden für alle Menschen und für alle Zeit geben. Kein Mensch ist besser als der andere, kein Land ist schöner als das andere. Niemand darf lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.‘ Und so ging Rotkäppchen nach Hause und schrieb in ihrem Computer: WAS DU NICHT WILLST, DASS MAN DIR TU, DAS FÜG AUCH KEINEM ANDERN ZU**. Und sie schickte es an alle Kinder der Welt. Und als die erwachsen waren, gab es nur noch Frieden.

*nach einer Idee von Karel Čapek

**Goldene Regel

Що робити або Червона Шапочка в часи російсько-української війни

В одному маленькому селі жила дівчинка, яка завжди носила червону шапочку. Саме тому назвали її Червона Шапочка. Одного дня мати до неї каже: «Червона Шапочко, твоя бабуся захворіла, а у мене зовсім немає часу. Піди, будь ласка, та провідай її. Я спакую тобі печиво та вина, щоб бабуся швидше одужала.

Але бабуся жила у лісі, що за три кілометри від села, тому мати наголосила: «Червона Шапочко, ти ж знаєш, що у лісі живе злий Вовк. Якщо ти зіб’єшся зі шляху, він з’їсть тебе.» Червона Шапочка пообіцяла вважати на себе, але насправді вона не боялася, тому що дуже любила гуляти в лісі і ще жодного разу не зустріла там вовка.

Коли вже Червона Шапочка була у лісі, вона помітила багато квітів. Вона захотіла зірвати їх для бабусі, адже бабуся понад усе на світі любила квіти та працювати в своєму садку, тільки для цього їй потрібно було спочатку одужати.

Червона Шапочка рвала квіти, аж раптом почула голос. Чи це не був Вовк? І чи це не Коза стоїть поруч з ним?

Вовк саме промовляв до Кози: «Я не злий. Я не з’їм твоєї трави. Але це буде по-чесному, якщо ти без жодного пручання віддаси мені своє м’ясо.»*

Коза відповіла: «Ні. Не можна проміняти своє життя на свободу. У мене є роги та копита і я буду боротись з тобою доти, доки ти не зникнеш.»

Червона Шапочка схопила швиденько свою корзинку з печивом та вином, квіти та побігла щодуху до маленького будиночку своєї бабусі.

«Бабусю!», – закричала вона, – «Я бачила та чула Вовка. Він не лише злий, а ще й дурний! Він хотів вмовити Козу, щоб та дозволила себе з’їсти.»

Бабуся вже почувала себе краще. Вона припіднялася з ліжка і промовила:

«Червона Шапочко, якщо ти всім дітям на світі напишеш в Фейсбуці, що ти сьогодні пережила, тоді запанує на світі мир на всі часи. Жодна людина не є краща за іншу і жодна країна не є гарніша ніж інша. Ніхто не може брехати заради своєї вигоди.»

Тому Червона Шапочка пішла додому і написала в своєму комп’ютері: ЧОГО НЕ ХОЧЕШ, ЩОБ ЧИНИЛИ ТОБІ, НЕ ЧИНИ ІНШОМУ.** Вона вислала це всім дітям на світі і коли вона вже була дорослою, на світі панував Мир.

*за ідеєю Карла Чапека

** Золоті Правила

Переклад: Аліна-Марія Сенюх

ÜBER FLUCHT UND FREIHEIT UND TOD

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Die Erfinder der Individualität wundern sich seit einigen Jahren, dass ihr Ideal der autarken Person und Persönlichkeit auch andernorts angekommen ist. Dabei warnte ihr großer Dichter Goethe, dass nichts ungeheurer sei als die Vorstellung, niemandes zu bedürfen. Auch derjenige also, der aus dem Nahen Osten oder aus Afrika aufbricht, seine individuellen Vorstellungen zu verwirklichen sucht, kann sein Ziel nicht ohne die Hilfe seiner Mitmenschen erreichen, im wahrsten Sinne des Wortes. Davon handelt das Buch von einem immer noch sehr jungen, inzwischen in München beheimateten Neubürger, der einst als vierzehnjähriger zarter Junge aufbrach, um sein Ideal von Freiheit, man kann nicht sagen zu finden, sondern zu suchen. Er heißt Filimon Mebrhatom und stammt aus einem sehr kleinen Dorf in Eritrea, das zwischen der Kleinstadt Sen’afe und der Grenze zu Äthiopien liegt. Das Buch heißt ICH WILL DOCH NUR FREI SEIN*, und dieser Gedanke, das Ideal des jungen Mannes, zieht sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Buch,  dessen Stil von den deutschen Helfern Filimons geprägt sein mag, dessen Inhalt aber authentischer nicht sein könnte, wie es auf dem Klappentext heißt.   

Obwohl seine Schwester bei dem Versuch, in die Freiheit und Individualität zu fliehen, in dem Fluss Tekeze ertrunken ist, wagt sich Filimon zunächst gemeinsam mit seinem Cousin auf den gefährlichen Weg, der schon in Äthiopien, wenige Kilometer hinter der Grenze brutal endet.

Die Schwierigkeiten einer solchen Flucht liegen bis auf wenige Ausnahmen alle im  menschlichen Bereich. Es gibt auf der einen Seite die Industrienationen als Ziel, auf der anderen Seite die meist armen und von Diktatoren beherrschten Herkunftsländer und dazwischen die Länder, die mit Schlepperdiensten und Versklavung der Flüchtenden versuchen, das Geld zu verdienen, das sie in einer brachliegenden Wirtschaft nicht finden können. Diese chaotische Wirtschaft ist allerdings keine Entschuldigung für den Mangel an Menschlichkeit, zumal sich die Verbrecher nicht nur auf eine Religion berufen, sondern die Flüchtenden mit Folter zwingen, zu dieser auch noch zu konvertieren.  Das schrecklichste Beispiel, das Filimon schildert, ist, wir wissen es alle, Libyen, aber Sudan und selbst Äthiopien, stehen nicht nach. Je größer sich die unmenschlichen, kaum aushaltbaren Strapazen gestalten, desto größer erscheint das Ziel. Er wird auf dem siebentausend Kilometer langen Weg, für den er ein Jahr benötigt, von zwei Idealen getrieben: der Suche nach der Freiheit und der Liebe seiner Mutter, die er immer wieder beschwört. Allerdings spielte in seinem jungen Leben auch sein Vater eine große Rolle, der nicht nur mit seiner Subsistenzwirtschaft die Familie ernährt, dazu trägt auch Filimon als Hirte bei, sondern als Priester des kleinen Dorfes die Werte des Christentums, der allgemeinmenschlichen Ethik, offensichtlich an seine Kinder weitergibt. Denn woher sollte sonst ein kleiner Junge aus einem ziemlich finsteren Land wissen, dass Nächstenliebe keine hohle Phrase, sondern gelebte Solidarität ist. Er erfährt sie im buchstäblichen Sinne, und er übt sie auch aus.

Umgekehrt, und das erfährt Filimon schon in Italien, dann aber besonders in München, sind die Erwartungen vieler Menschen in den Zielländern nicht von den schier unmenschlichen Anstrengungen der Flüchtlinge geprägt, sondern von den eigenen Vorurteilen. Trotzdem überwiegt hier in Europa die tätige Empathie den unverhohlenen Rassismus bei weitem. Aber besonders seit 2015, ein Jahr nachdem Filimon in München ankam, zeigt sich doch ganz offen, dass ein kleiner Teil der Europäer im alten rassistischen Weltbild verharrt. Man kann nur vermuten, dass es dieselben sind, die sich jetzt gegen die Politik zur Pandemie stellen. Zwar brauchen wir auch Beharrung, aber diese darf den Aufbruch nicht behindern.

Filimon war also, endlich in der Freiheit angekommen, enttäuschter als er nach seiner eigenen Vorstellung hätte sein dürfen. Und die Deutschen war von ihm – und seinen Mitankömmlingen – enttäuschter als sie nach ihrem angeblich christlich geprägten Weltbild und ihrem unermesslichen Wohlstand sein dürften oder sein sollten.

Äthiopien, zu dem Eritrea lange gehörte, ist sowohl vom frühen Christentum geprägt als auch vom wohlwollenden Islam. Der Prophet Mohamed selbst hat dem Land ewige Freundschaft geschworen, weil seine islamischen Flüchtlinge (!) von den Juden und Christen dort gut und tolerant aufgenommen wurden.

Aber das erklärt noch nicht, warum ein kleiner Junge, und sei er auch der Sohn eines Priesters, derart von Idealen wie Freiheit, Menschlichkeit, Nächstenliebe und Gerechtigkeit angetrieben wird, dass er die Inhaftierungen und Folterungen in Äthiopien, dem Sudan und Libyen übersteht und tatsächlich da ankommt, wo er hinwollte. Allerdings kommt er nicht punktgenau dort an, denn er hatte sehr diffuse Vorstellungen von Europa. Eigentlich will er nach England, dann aber nach Dänemark, von dem er noch auf dem Münchener Hauptbahnhof träumt [Seite 216]. Das zeigt, wie sehr die Missgünstigen damals irrten, die glaubten, Merkel hätte mit ihrem berühmten Satz WIR SCHAFFEN DAS eine Einladung ausgesprochen und die Flüchtenden selbst würden nach Deutschland wollen, um hier die Sozialkassen zu plündern.

Das Sensationelle des Buches, neben den akribisch geschilderten Friktionen eines Weges, ist die spontane Entstehung des Freiheits- und Gerechtigkeitsideals in einem (in allen?) Menschen. Obwohl er in einer Subsistenzwirtschaft aufwächst, in der das gegessen wird, was die Familie selbst erzeugt, gewinnt er als kleiner Hirt die Überzeugung, dass man Tiere nicht töten darf [Seite 25]. Sein Vater darf als Priester nicht schlachten, aber der älteste Sohn, Filimon, weigert sich aus Mitleid mit den Tieren. Dies ist nicht nur ein bemerkenswerter Ausbruch aus den traditionellen Strukturen, sondern die Geburt eines Freiheitsdranges, der ihn dann nach München führte. In München ist er darüber erschüttert, wie viele seiner neuen Mitmenschen sich freiwillig in die Sklaverei der Vorurteile, der Völlerei und der Verdrängung begeben. Der Verfasser dieses bemerkenswerten Buches hat in dem einen Jahr seiner Odyssee mehr Menschen leiden und sterben sehen als der Durchschnittseuropäer, der vor jeder Krise aufschreckt und in sein Wohlleben zurück will, in seinem ganzen Leben.

Filimon hat  einen eigenen Youtubekanal mit mehreren hunderttausend Klicks. Dort verkündet er seine Rapbotschaften: MENSCH IST MENSCH UND PAPIER IST PAPIER. Das mag trivial klingen, aber wir sollten uns angesichts unserer neuen Mitbürger erneut und wiederholt die Frage stellen, wie weit wir einem Stück Papier mehr zu glauben bereit sind als einem Menschen, wie weit wir in den Aberglauben an Identität und Herkunft einstimmen, wie weit wir selbst uns für besser halten, weil wir dokumentiert sind, literaturgewordene, aktenkundige Lebenslüge. Viele haben Hegel gar nicht gelesen und glauben trotzdem, dass Afrika keine Geschichte hat, weil sie nicht aufgeschrieben ist. Dieses Buch überführt uns nicht der Lüge, sondern der Ignoranz.

Zwei kleine Einwände an dem von mir ansonsten bewunderten Filimon muss ich aber dennoch aufschreiben. Er hadert – für meine Begriffe, und ich kenne zwei Dutzend Neubürger aus Eritrea genauer – zu sehr mit dem Rassismus hier in Deutschland. Es gibt ihn, aber er ist marginal. Wir können nicht gegen ihn ankommen, wenn wir ihn so sehr betonen, wie er sich selbst für wichtig und richtig nimmt. Es gibt einige Unstimmigkeiten in dem Buch, die durch besseres Lektorat vermeidbar gewesen wären. Zum Beispiel will er, in München angekommen, weiter nach Dänemark reisen, überlegt, ob er den sofort erscheinenden Schleppern, die auch aus Eritrea sind, 350 € für die Fahrt bezahlt und hat aber dann nicht das Busgeld, um in die Bayernkaserne, seine zugewiesene Unterkunft, zu gelangen. Das sind Kleinigkeiten, die aber die Botschaft gefährden können.

Filimon hat inzwischen, er ist immer noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt, nicht nur ein Buch geschrieben und betreibt erfolgreich einen Youtubekanal, ist nicht nur Aktivist der Community der Neubürger mit vielen Auftritten, hat nicht nur – weitgehend selbstständig – sehr gut seine neue Sprache gelernt, sondern auch eine Ausbildung als Kameramann und Cutter gemacht.  Er hat auch immer wieder Glück gehabt, aber vor allem hat er gelernt, dass der Sklave, der in die Freiheit will, nicht nur Mut bracht, sondern auch Navigation.     

*Filimon Mebrhatom, ICH WILL  DOCH NUR FREI SEIN, KomplettMedia, München 2020

DER SCHLICHTE MENSCH*

 

Nr. 399

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

Beethoven an Struve, 1795

Wenn also der Maurerlehrling, weil er ein schlechtes Gedächtnis, aber ein gutes Herz hatte, durch eine Verwechslung – aus kolumbianischem Versehen – seinen geheimsten Wunsch vortrug, haben wir dann nicht die Verpflichtung – statt ihn vollmundig zum Volk zu erklären und uns mit ihm -, seiner Vorstellung nachzugehen? Wonach sehnt er sich?

Binem Heller, ein polnischer Dichter, der in der schönen, aber jetzt in Israel aus gutem Grund leider verpönten Sprache Jiddisch schrieb, hat sein Idealbild des schlichten Menschen aus allen Ländern mit den Attributen Frieden und Arbeit versehen. Der schlichte Mensch sehnt sich nach Frieden, aber er ist auch äußerst anfällig dafür, wenn ihm seine Oberen sagen, dass jenseits der Grenzen ein Feind stünde, diesen Feind mit Gewalt zu vertreiben. Er hat dem herrschenden Menschenbild kein eigenes entgegenzusetzen. Denn schon im ersten Weltkrieg bemerkten einfache Soldaten hüben und drüben, dass Weihnachten über dem Krieg steht, dass Hilfe mehr ist als Töten, und dass es schwer, ja fast unmöglich ist, einen Mitmenschen mit einem Bajonett zu erstechen. Trotzdem gab es den zweiten Weltkrieg und seit ihm noch mehr und bessere Panzer, Flugzeuge und schließlich Atombomben als weitere Anonymisierungen des Tötungshandwerks. Benennt man gar die eine Seite als herausragend: ‚DER TOD IST EIN MEISTER AUS DEUTSCHLAND‘**, dann gibt es ein großes Heulen. Aber damit ist ja nicht gesagt, dass es nicht auch andere Meister auf diesem Gebiet gab. Und was tut unser schlichter Mensch in allen Ländern? Er marschiert mit. Frieden ist also ein Ideal, das er nicht allein verwirklichen kann.  Erst in einer Demokratie kann das Ideal des Christentums, dass man auch seine Feinde lieben soll, mit dem des schlichten Menschen zusammenfallen und auch vom Staat übernommen werden. Alle Staatsformen vor und neben der Demokratie sind blindwütig, in denen außer Pyrrhus niemand zugeben mochte, dass jeder Sieg eine Niederlage ist. Gauland ins Stammbuch geschrieben: wenn unsere Großväter gesiegt hätten, wäre es eine noch größere Niederlage gewesen. Eine Kollateralfolge der Globalisierung ist der Frieden. Kriege sind heute nur noch Bürger- und Stellvertreterkriege mit kleinen Dimensionen, aber das ist für die Menschen, die in ihnen sterben, nicht wichtig und sollte für uns nicht hinnehmbar sein. Der alawitische Assad-Familienclan, der einst vorhatte Israel zu zerstören, hat nun sein eigenes Land verwüstet und verkauft Drogen, um dem Untergang zu entgehen.

Der ewige Frieden ist aber dennoch wenigstens vorstellbar, weil der Mensch nicht böse, sondern eher schlicht ist. Er folgt falschen wie guten Propheten.

Wie ist es aber mit der Arbeit? Ist die Arbeit wirklich das Ideal des schlichten Menschen in allen Ländern? Ist nicht viel mehr der im alten Testament vorgestellte Fluch Gottes, dass der Mensch im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen soll, eine Zustandsbeschreibung gestern und heute? Dass Justus von Liebig und Fritz Haber einen Teil der schweißtreibenden Arbeit durch Stickstoff ersetzten, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass in weiten Teilen der Erde immer noch hochaufwändige und ineffektive Subsistenzwirtschaft betrieben wird.

Aber gleichzeitig müssen wir uns fragen und haben uns schon oft gefragt, ob die Massenproduktion von Lebensmitteln und Tand [all is but toys***] noch mit der wachsenden Zerstörung unserer Umwelt aufzuwiegen ist. Der Preis der Sattheit ist die Desertifikation, die irreversibel wird, wenn wir nicht einhalten. Während der Verzicht auf Gewalt gleichzeitig als hilfreich und einleuchtend empfunden wird, die Goldene Regel auch in einer volkstümlich-gereimten Version verfügbar ist – NUR WAS DU WILLST, DASS MAN DIR TU, DAS FÜGE AUCH DEN ANDERN ZU; und auch umgekehrt: NUR WAS ICH SELBER DENK UND TU, DAS TRAU ICH AUCH DEN ANDERN ZU. – gibt es für den Verzicht auf Überfluss leider keine Entsprechung. Wir empfinden jeden Verzicht gleichzeitig als Verlust. Sobald das Wort Verzicht, zum Beispiel auf den Energieüberfluss, die Runde macht, rennen wir Menschen in unsere Garage und halten unser Automobil fest. Selbst ein Elektroauto als Übergang und Kompromiss kann uns nicht von dem Verzicht des als Freiheitsersatz empfundenen Automobils überzeugen, das gleiche gilt für alle Versuche, Eigenheime und kommunikative Endgeräte zu vergesellschaften. Schon allein die Wörter ‚vergesellschaften‘ oder ‚sozialisieren‘  erfüllen uns mit Schrecken, auch weil sie durch Staatsysteme verunglimpft wurden, die zurecht gescheitert sind. Verzicht ist eine Botschaft, die niemand hören will und noch jeder Bote wurde für sie geächtet.

Und trotzdem kann der schlichte Mensch in allen Ländern nicht die heutige Arbeit, die ihn zum Maschinenteil degradiert, als Ideal haben. Vielmehr haben wir die propagierten Ideale entweder des Marktes oder des Staates in Ermangelung eigener Ideen stillschweigend angenommen. Die schweigende Mehrheit schweigt nicht als Zustimmung, sondern aus Unfähigkeit. Allerdings ist diese Unfähigkeit wegen der zunehmenden Komplexität der Dinge nur allzu verständlich. Vergleichen wir beispielsweise den Faustkeil mit dem Smartphone, zwei annähernd gleich große Werkzeuge, so ahnen wir, was Komplexität heißt. Wir Menschen haben freiwillig die Ketten angelegt, die uns zu Sklaven des Wohlstands machen. Allerdings ist es dieser Wohlstand, dessen Sklaven wir freiwillig sind, der uns auch vom letztendlich tödlichen Bevölkerungswachstum befreien wird. Es gibt keine bessere Beschreibung dieses Zustandes als das kreisförmige Trilemma. Auch in der Coronakrise war – wie ein höherer Fingerzeig – ein Trilemma als Menetekel an den Wänden zu lesen: Wirtschaft, Gesundheit und Demokratie gleichzeitig zu erhalten, ist schwer und nicht durch durch bloßes Geschrei zu bekommen.

Wir müssen uns in Zukunft an einer Art sozialem Minimumgesetz**** orientieren, das, wie seine Entsprechung aus der Natur, besagen würde, dass von jeder sozialen Notwendigkeit ein Minimum vorhanden sein muss. Diktaturen vergessen das Minimum Freiheit und verlieren sich letztlich immer in Clankämpfen, Demokratien begraben das Minimum Altruismus, die älteste und wichtigste Ingredienz menschlichen Zusammenlebens, unter einem Müllberg von meist überflüssigen Rechtsvorschriften. Diese Verrechtlichung unseres Lebens ist der der Ausdruck von Überdruss, der stets auf den Überfluss folgt. Alle Religionen und Philosophien predigen den Verzicht, aber niemand hält sich daran. Sehen wir eine der wenigen Ausnahmen, Menschen die freiwIllig auf die Symbole des Wohlstands verzichten, so ist unsere Antwort nicht selten Häme, weil wir mit Absicht Ursache und Wirkung verwechseln, wir halten die Absonderlichkeiten dieser Menschen für eine Folge des Verzichts, nicht für dessen Ursache. Wenn man sagt, es sei schwer, aus sich herauszutreten, so meint man eigentlich, dass es uns schwerfällt aus dem Korsett der Vorurteile zu klettern. Ein Gängelwagen ist uns immer noch lieber als gar kein Wagen.

*Binem Heller, Der selbe Mensch, in: Der Fiedler vom Ghetto, Reclam Leipzig, 1968

**Paul Celan, Todesfuge, Gesammelte Werke, Band 3, S. 61

***Shakespeare, Macbeth, II,2

****Sprengel, Liebig

MISSTRAUEN

Nr. 398

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?* Beethoven an Struve, 1795

Wenn also der schüchterne und nüchterne Maurerlehrling (siehe Nr. 397 vom 3.5.2020 ) im grauen Ostberlin und der große Beethoven, unabhängig voneinander und mit der denkbar größten Differenz zwischen zwei Menschen ausgestattet, auf das gleiche Denkergebnis kommen, muss etwas daran sein. Der Maurerlehrling in Ostberlin wollte einen damals und heute gängigen Spruch eigentlich nur zitieren. Vielleicht hat er sich nur geirrt, aber dann war es ein solcher Irrtum wie bei Kolumbus. Kolumbus fand den falschen Kontinent, aber mit dem richtigen, damals brandneuen Weltbild. Der Maurerlehrling fand das brandneue Weltbild, nach dem er gar nicht gesucht hatte, aber nach dem er sich so sehnte.

Das Merkwürdige an der Welt ist doch, dass sich die sogenannten Alternativen des gleichen Weltbildes bedienen, wie die von ihnen abgelehnten und oft heftig bekämpften alten Systeme. Kapitalismus, Kommunismus und Faschismus haben – in bezug auf die Produktion – die fast identische Meinung zum Menschen als Faktor. Auf diese Implementierung des Menschen in die von ihm selbst geschaffene Maschinenwelt wies schon Feuerbach mit seinem etwas weltfremden Begriff der Entfremdung hin. Er erscheint uns heute weltfremd, weil die wenigsten Menschen aus den herrschenden Bedingungen aussteigen können. Sieht man sich in den jeweils alternativen Szenen der verschiedenen Jahrhunderte um, so unterliegen sie – im Vergleich zum jeweils geschmähten mainstream – nur leicht modifizierten Gruppenbedingungen. Wirkliche Eremiten gibt es wohl eher selten, und die früheste Satire auf einen Eremiten, der seine Absurdität zu einem sexuellen Vorteil ausbauen konnte, steht im Decamerone von 1348, einem Pestbuch.

Alle diese Weltbilder betonen den Mangel an Vertrauen und den Egoismus des Menschen, der es angeblich verhindert, eine bessere Gesellschaft zu bauen, die andererseits von allen Alternativen als Ideal gepriesen wird. Wir erinnern nur an den programmatischen Zeitungsnamen ‚Neues Deutschland‘, womit gemeint war, dass jetzt alles anders wird. Tatsächlich beruhte aber diese Gesellschaft wie die meisten vorherigen und folgenden auf dem Vertrauen zu Geld und Gut, nicht aber auf dem Vertrauen zum Mitmenschen, der, wie sich Beethoven schon als junger Mensch  wünschte, keiner weiteren Qualifikation bedürfte, als Mensch zu sein.

In dem dummen Spruch, dass Vertrauen zwar gut, Kontrolle aber besser sei, der damals Lenin, heute wer weiß wem zugesprochen wird, wahrscheinlich Einstein, der die meisten Zitate für sich beanspruchen kann, fast so, als sei er im Hauptberuf Zitatenschreiber gewesen, – in dem dummen Spruch kommt doch nur die alte, von uns schon immer beschworene Polarität von Freiheit und Ordnung zum Ausdruck. Natürlich bedarf jede Gesellschaft einer gewissen Ordnung. Aber jede Ordnung hat auch die Tendenz sich zu verselbstständigen. Max Weber entdeckte früh, dass die Bürokratie, das Organ der Ordnung, sich am liebsten mit sich selbst beschäftigt. In jeder Verwaltung gibt es ein Amt 1, auch oft Hauptamt genannt, das die Löhne, Gehälter und Pensionsansprüche der Beamten regelt. Übrigens muss man an dem schönen alten Wort BEAMTER nur einen Buchstaben weglassen, um ihn zu modernisieren und abzuschaffen: BEAMER. Ein Beamter projiziert die Ordnungsvorstellungen einer Gesellschaft auf jedes DIN A 4 Blatt, das selbst der Inbegriff jeder Ordnung und Bürokratie ist, genial und absurd zugleich: 1: √2.*

Die Absurdität dieses Weltbildes besteht darin, dass wir zum Schluss glauben, dass der Mensch wählbar und konstruierbar sei. Wenn wir ihn als Produktionsfaktor sehen, als Maschinenteil definieren und ihm gleichzeitig Empathie ab- und grenzenlosen Egoismus zusprechen, dann sind wir in der Ordnungsfalle. Es ist leicht und passiert immer wieder, dass wir uns ein Instrument schaffen, dessen Opfer wir dann werden.

Der Ramadan, jede Fastenzeit jeder Religion oder Ideologie, dient dem Verzicht, der Demut, der Reduktion nicht nur des Körpergewichts, sondern auch auf das Wesen des Menschen: selbst wer wenig hat, hat noch genug, um es teilen zu können. Die diätetische Falle des Ramadan besteht aber darin, dass das Fastenbrechen fast schon ein Synonym für Völlerei geworden ist, so wie Weihnachten und Ostern und Grillabend.

Das Gleiche gilt für das Fernsehen oder das Telefon: aus einem Instrument wurde eine Herrschaft. Das ist übrigens auch bei den Herrschern so: unsere Ahnen installierten sie als Führungsinstrument, aber wir willfahren ihnen als allwissende, allkönnende und ausschließlich wohlmeinende Halbgötter oder aber als inkompetente, unfähige und korrupte Marionetten. Allmacht und Ohnmacht schlössen sich gerne aus, aber sie sind gleicher als gleich, weil sie beide auf Macht statt auf Vertrauen beruhen.

Freiheit, das andere menschliche Ideal**, beruht dagegen, wie die Liebe, auf Vertrauen, die nicht nur keiner Kontrolle bedarf, sondern durch Kontrolle zerstört wird.

Als spätes Kind und früher Jugendlicher war mein Lieblingsbuch Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Wahrscheinlich gefielen mir die Freiheit, Unabhängigkeit und auch die Einsamkeit dieses fähigen Menschen. Aber mir fiel nicht auf, dass er im Laufe seiner achtundzwanzig Inseljahre ein perfektes System der Ordnung erschuf, von der er mehr und mehr abhängig wurde. Folgerichtig versuchte er dann, einen völlig freien Menschen zu domestizieren. Der Tom-Hanks-Film CAST AWAY zeigt diese Abhängigkeit, aber auch die Beliebigkeit der Dinge, als Satire auf den Helden der Aufklärung Robinson.

Das Merkwürdige am Vertrauen, an der Freiheit und an der Liebe ist, dass wir sie fast nur emotional von ihren hässlichen Zwillingsschwestern, Miss Trust, Miss Order und Miss Ego, unterscheiden können. Der Mensch oder die Menschin, die wir lieben oder von der oder dem wir uns geliebt glauben, kann vielleicht einfach nur nicht kochen oder hielt nach ein paar passablen Genen Ausschau.

Man kann sich Menschen nicht aussuchen, auch diejenigen nicht, die nichts als Menschen sein wollen und Vertrauen der Kontrolle vorziehen. Es ist leichter zu leben, wenn man sich nicht nur Regeln gibt, sondern auch Töpfe, in die man seine Mitmenschen glaubt sortieren zu können. Drei große Töpfe zerbrachen: der Rassentopf, ein besonders hässliches Exemplar, der Klassentopf, der sich hier auf dem Lande sogar architektonisch manifestiert hat, und der besonders üble Sexustopf.

Zum Schluss kommt ein schönes Zitat aus dem guten neuen und sehr empfehlenswerten Buch*** von Rutger Bregman IM GRUNDE GUT, die Antwort nämlich, warum der Schimpanse im Käfig sitzt und der Neandertaler ausgestorben ist: weil wir freundlicher sind.

*dem Schöpfer der Papierformate, Walter Porstmann, war ein früherer Blog gewidmet

**no deal but ideal

***was hier zu besprechen unnötig ist, da wir seine Thesen schon seit langem, vor allem aber in den zehn Jahren des Blogs rochusthal.com vertreten

 

 

SCHWARZ UND WEISS

Nr. 232

Aufklärung, so haben wir es in der Schule gelernt, ist das Ende der Angst, weil Aufklärung, so schrieb KANT, der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit sei. Das kann man sich ungefähr so vorstellen: ein Mensch, der bisher nur mit dem Rollator lief, wird jetzt auf ein Rennrad gesetzt und muss die Route der Dakar-Rallye in ihrer ursprünglichen Dimension von Paris bis Dakar fahren, ohne Navigationsgerät, ohne Imbissstände, mit nur einer Flasche Wasser. Da ist es verständlich, dass er sich nach seinem Rollateur sehnt, nach seinem Sozialarbeiter, nach seinem Ernährungsberater, nach seinem Seelsorger. Das sind alles Leute, von denen KANT vor mehr als zweihundert Jahren schrieb, dass sie die Unmündigkeit fortsetzten, der wir gerade zu entkommen glaubten.

Die Demokratie ist kein Ausflugsdampfer, auf dem man Bier und Würstchen bestellt. Die Demokratie ist eher dieses Fahrrad in der Wüste, auf trügerischer Piste, unumsorgt. Und zudem ist sie eigentlich nicht kompatibel mit dem Kapitalismus, dessen massenhafte Warenproduktion aber die Voraussetzung für die Demokratie ist. Man kann mit leerem Bauch nicht über Minderheitenrechte abstimmen. Zu tief sitzt in uns das evolutionäre Erbe des Hungers, zu eingängig ist das sozialdarwinistische Gewühl des Neids. Wir wollten es nur nicht wahrhaben: jede These braucht ihre Antithese, und die Antithese der Gemeinschaft ist oft das Sehnen nach der vergangenen Geborgenheit, nach der geborgenen Vergangenheit. Dafür ist der Uterus die beste Metapher: ein Maximum an Sicherheit und Versorgung steht einem Minimum an Freiheit und Flexibilität gegenüber. Das kann nur ein vorübergehender Zustand sein. Die Freiheit ist also kein aufgesetztes und angelerntes, sondern ein natürliches Ideal. Mag der Uterus die missbrauchte Metapher sein, die Realität dieser falschen Sehnsucht ist die Hierarchie. Solange es die klassische, am Handwerk orientierte Arbeitswelt gab, schien Wohlstand ohne Hierarchie nicht möglich. Der Unternehmer erschien als Patriarch und insofern war er Hierarch.  Aber FORD und RATHENAU haben nicht nur die Fundamente des Wohlstands, sondern auch der Demokratie gelegt. Voraussetzung für Demokratie ist nicht nur Wohlstand, sondern auch ein Briefkasten (TOCQUEVILLE) und Freizeit. Jedes Abweichen von dem jetzt möglichen Modell der Demokratie erscheint uns genauso widernatürlich wie die Demokratie denjenigen, die Sicherheit und Versorgung als Grundmodell ansehen und dafür die Einschränkung ihrer Freiheit gerne inkauf nehmen. Man kann sich gegenseitig verspotten, aber wir müssen miteinander leben. Man kann sich gegenseitig nicht ausschließen. Jeder Versuch eines Genozids ist gescheitert und fällt auf seine Verursacher zurück.

Alle fünfzig Jahre gibt es den kleinen Paradigmenwechsel, alle fünfhundert Jahre einen großen mit dilemmatischen, verwirrenden und revolutionären Schüben. Der menschliche Makel in solchen Umbrüchen besteht wohl darin, dass vom Zeitgeist gelähmte Menschen Visionen der Zukunft zu verwirklichen suchen. Entweder scheitern sie wie Jesus oder aber sie bleiben, trotz allen Fortschritts, Leuchttürme des Konservatismus und damit des Zeitgeists, wie Luther und Ford. Die Lösung für die Zukunft liegt weder in der Religion noch im Automobil. Die Sackgasse der Massenproduktion kann man am besten durch die Massentierhaltung, überhaupt durch die Landwirtschaft erkennen. Früher, und in vielen Gegenden der Welt heute noch, mussten und müssen die Menschen im Schweiße ihres Angesichts Reis und Wurzeln säen, pflegen und ernten. Heute quälen wir Millionen und Abermillionen Tiere, um sie als Reserve für unsere Gier vorzuhalten. SCHOPENHAUER schrieb, dass wir tausende von Jahren brauchen werden, um für dieses terroristische Verhalten unseren  Brüdern und Schwestern gegenüber zu büßen. Genauso ist es mit den Mitmenschen, die wir instrumentalisiert haben. Aber wir sind nicht wir. Wer ist wir? Erst die wechselseitige Erniedrigung zu erkennen wird uns in den Stand setzen, nach einem Ausweg zu suchen. Eine wunderbar provokante These enthielt der Song WOMAN IS THE NIGGER OF THE WORLD von Yoko Ono und John Lennon, dessen Text aber auf ältere Gedanken zurückgeht, besonders in der Zeile woman is the slave to the slave.

Ein Afrikareisender* des letzten Jahrhunderts berichtet, dass er in einem Dorf lebte, das einmal in der Woche durch einen Autobus mit dem Rest der Welt verbunden war. Wenn der Bus in einer Woche ausfiel, war er in der nächsten Woche übervoll. Trotzdem wurde dem Weißen ein Platz freigemacht. Nach einer Zeit begannen einige Reisende, den Gast zu beschenken. Die Geschenke wurden so zahlreich, dass ein zweiter Platz benötigt und zur Verfügung gestellt wurde. Der Gast ging nun dazu über, die Geschenke weiter zu verschenken, was zu einer Kaskade des Nehmens und Gebens führte. Aber das ist schon wieder ungenau beobachtet: es war ein Wasserfall des Gebens, nicht des Nehmens. Es geht nicht um das Nehmen. Es geht um das Geben. (Leider melden sich an dieser Stelle immer die Leserbriefschreiber und verlangen nach dem Gestern.) (Leider müssen wir an dieser Stelle an den Bus in Freital erinnern, vor dem Menschen widerwärtigen Unsinn skandierten und mithilfe der Polizei Angst verbreiteten.)

Die Tastatur bäumte sich auf, wenn man schreiben wollte DIE LÖSUNG IST. Es gibt nicht DIE LÖSUNG. Aber den Kapitalismus oder die Demokratie als etwas außerhalb von uns befindliches zu erkennen glauben und überhaupt Schuldzuweisungen sind schon einmal die falsche Richtung. Wenn wir, die Menschen, der Fehler sind, dann können auch nur wir die Lösung sein. Wenn wir langsam ahnen, was falsch ist: Schuld, Gestern, Warum, dann sollte uns die neue Richtung wenigstens dämmern: Würde. Bildung. Liebe. Hoffnung.

In einer Hierarchie sind beide Seiten falsch: oben und unten. Es gibt kein Oben oder Unten. Die Angst vor den Antipoden war also berechtigt: wenn es sie gäbe, wären sie der Beweis für die Notwendigkeit hierarchischen Denkens, schwarz und weiß, oben und unten, richtig und gegenüber, Herr und KnechtIn. Jeder Mensch ist Würdenträger. Erst wenn wir ihnen, den instrumentalisierten nicht als Schwestern und Brüdern erkannten, ihre Würde zurück geben, geben wir auch uns Würde.

 

 

Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Suhrkamp 2014

Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, edition suhrkamp, 2016

*Heinrich Staudinger, brennstoff 47/2017, GEA-Magazin