WEIHNACHTEN UND DER BÄCKER VON ADAM SMITH

Kreuzgang im Dom zu Havelberg

Alle Jahre wieder rätseln wir, warum Weihnachten so früh, so aufwändig und letztlich weder vernünftig noch sinnvoll noch emotional befriedigend gefeiert wird. Trotz Weihnachten sterben nicht nur mehr Menschen in dieser Zeit des Jahres, sondern es bringen sich auch mehr selbst um. Es wird mehr gegessen, mehr getrunken, mehr gestritten und mehr getrennt, als alle die vielen Geschenke, die die Hermes- und DHL-Boten bringen, wieder gut machen können. Die Kirchen sind am Heiligabend voll, aber das sind sie auch, wenn das Weihnachtsoratorium von Bach oder der Messias von Händel gegeben werden. Diese Art der Kritik an Weihnachten gehört schon seit zweihundert Jahren dazu und ist beinahe selbst Teil des Rituals geworden. Sie hat also gar nichts mit Weihnachten zu tun, sondern mit dem Wohlstand, den wir uns eben anders vorgestellt haben, problemloser, fettlösender, perfekter, ein Wohlstand, der nicht wehtut.

Man könnte eine neue Partei gründen, die AfW, die Alternative für Weihnachten, aber sie wäre – zum Glück – genauso rat-, tat-, sinn- und erfolglos wie die Alternative für Deutschland. Man kann Alternative sein, aber die bloße Deklaration des Gestern reicht dafür nicht aus. Alternativen gehen von einer Idee oder von Menschenmassen aus. Je individueller zu sein allerdings der Zeitgeist uns vorschreibt, desto schwerer ist es, Menschen für ein Ziel zu gewinnen oder auch nur zu halten. Hinzu kommt – und das war schon immer so -, dass es leichter ist, empört zu sein, als etwas zu tun. Und die für die Empörung passenden Tribünen haben die Internetgiganten Bill Gates, Lord Zuckerberg oder Lawrence Edward Page zur Verfügung gestellt. Man könnte annehmen, dass sie das für uns taten, für unsere demokratische Beteiligung oder unser demokratisches Placebo, für unsere Information oder Desinformation, für unsere Konzentration oder Ablenkung. Aber –  fast möchten wir leider schreiben – es ist so wie mit dem Bäcker von Adam Smith: er bäckt nicht, damit wir, sondern damit er satt wird. Es gibt keinen Versorgungsauftrag. Es gibt keinen Auftrag. Es gibt nur Möglichkeiten.

Für Weihnachten sehe ich zwei Möglichkeiten: Frieden und Kinder.

1

Frieden fängt immer zwischen zwei Menschen an. Es ist leicht, mit einem Friedensplakat auf die Straße zu gehen und zu rufen, dass Wasserwerfer kein Mittel der Demokratie sein dürfen, können und sollen. Das ist zwar richtig, aber Ort und Zeit der Verkündung sind denkbar ungünstig. Der Polizist – der nur seine Pflicht tut, manchmal auch etwas mehr oder etwas weniger, wie wir alle – ist der falsche Adressat. Es ist leicht, anzunehmen, dass am Waffenexport die Waffenexporteure märchenhafte Summen verdienen. Am Export Deutschlands machen die Waffen weniger als ein Prozent (etwa 10 Milliarden €) aus. Das sage ich nicht zur Gewissensberuhigung, sondern um die Relation zu richten. Nicht nur der Waffenexport ist falsch und überflüssig, sondern auch die Waffenproduktion. So wie vor einigen Jahren die letzte Steinkohlenzeche aus wirtschaftlichen Gründen feierlich geschlossen wurde, müsste auch in Kürze das letzte Waffenwerk aus moralischen Gründen seine Pforten schließen. Früher war alles schlechter. Und deshalb sollte Deutschland nicht nur das Sozialamt der Welt werden, sondern das weltweit erste waffenfreie, pazifistische und vegetarische Territorium. Das wäre eine Alternative für Deutschland! Das wäre Weihnachten!

Es ist sicher nicht falsch, auf die Bedrohungsattitüde des Autokraten und Männlichkeitswahnsinnigen Putin mit der Ausweisung von Diplomaten zu antworten. Aber das ist eine Antwort aus dem Arsenal der Beamten alter Prägung. Jetzt haben wir das Glück, möglicherweise – und ich hoffe es sehr – eine Sozialromantikerin als Außenministerin zu haben. Jetzt sollten wir gegen die Putins dieser Erde die entwaffnenden Argumente der Friedensvisionen aus unserem Arsenal holen. Denken wir an die großen Erfolge von Yesus (Weihnachten!), Gandhi, Schweitzer und King, der sogar in seinem Namen das alte Erbe trug und mit soviel Erfolg soviel neues in die Welt brachte: I HAVE A DREAM, und nicht diesen waffen- und rachestarrenden Unsinn, der immer nur verloren hat.

Aber all das kann man nicht durch Warten, Empören oder Parteigründungen, so sinnvoll sie diesmal auch erschiene, erreichen, sondern nur dadurch, dass jeder seine Partei, seinen Bundestagsabgeordneten, jeden Politiker, jede Initiative, jede Zeitung, jede Facebook- oder Whatsappgruppe mit dieser Vision überschüttet. Bis auf einige wenige Lobbyisten gibt es niemanden, der für Waffenexporte ist. Für Waffen gibt es viel weniger Argumente als für Steinkohle. Statt dass wir uns über Ereignisse von gestern empören, denn sie sind nicht veränderbar, sollten wir versuchen, endlich alle unsere neuen Mittel zu nutzen, um zu sagen, was wir sagen wollen und was wir wollen. Offensichtlich reicht es nicht, alle vier Jahre eine Partei oder eine Person zu wählen. Man muss auch wissen, was man will. Und man kann die ungeahnten neuen kommunikativen Mittel endlich für besseres nutzen, als für Fotos des Mittagessens oder von einem selbst. Wer nur sich als Botschaft hat, sollte schnellstens über sich nachdenken. Es ist nie zu spät.

2

Die Botschaft von Weihnachten ist ja die Geburt eines Kindes, dem eine große Zukunft vorausgesagt wird. Das Kind erscheint als so bedeutend, dass die Eltern fliehen müssen, weil der König einen Kindermord plant und auch tatsächlich ausführt, dass andere Könige von weither, aus dem Jemen und aus Äthiopien etwa, anreisen, um Teil einer Zukunftsoption zu werden. Das Kind ist die Alternative. Aber auch für die Kinder war früher alles schlechter. Im alten Rom wurden überzählige Babys aus dem Fenster geworfen, und noch bis 1871 durfte in Deutschland ein Vater seinen Sohn totschlagen, wenn er ihn züchtigte. Die Emanzipation des Kindes und der Kindheit gibt es erst seit dem neunzehnten Jahrhundert. Und jetzt haben wir in der reichen Hälfte der Welt wenige und in der armen Hälfte viele Kinder. Trotzdem gibt es sowohl in Kenia als auch in Deutschland Lehrermangel. Uns ist sowohl der Sinn – des Lebens wie der Kinder – verloren gegangen, wie auch die Priorität. Für die von uns merkwürdigerweise nicht so hoch geschätzten Steinzeitvölker ist Bildung kein Ressort, sondern tägliche Übung. Das Argument der Arbeitsteilung entfällt, weil wir nicht die Arbeitsteilung aufgeben müssen, um dieses Vorbild zu nutzen, sondern den sinnlosen Umweg über Regeln. Lernen ist besser als regeln. Die Schule ist in der industriellen Welt zu einer eigenständigen – und deshalb notwendigerweise kontraproduktiven Institution geworden. Schule und Leben haben sich auseinandergelebt. Die Technische Universität Berlin, die genauso viele Nobelpreisträger hervorgebracht hat wie Harvard (auf Platz 1), liegt im Ranking der Bildungsstätten auf Platz 192, obwohl vor dem wunderschönen Mathematikgebäude Werner von Siemens steht.

Und auch hier geht es nicht um jammern, hadern, greinen oder rechten, sondern darum, jedem Kind, das wir kennen, ein Maximum an Bildungsoptionen zukommen zu lassen. Fangen wir morgen mit dem Kind an, das uns am nächsten und am fernsten steht. Nehmen wir einfach die Kinder in den Focus, der ihnen gebührt. Nicht den Eltern ist zu danken (denken wir an Adam Smith‘ Bäcker), sondern den Kindern, dass sie keine Kopie von uns sind, dass sie uns vom ersten Tag an neue Perspektiven geben, dass sie unser Erbe sorgsam behandeln und unsere Werke fortführen, falls sie sich nicht im abgebildeten Mittagessen erschöpfen. Der Wohlstand hat unseren Blick auf uns verkleinert, statt ihn zu erweitern. Eine arme Familie vor hundert oder vor zweihundert Jahren (als das Lied STILLE NACHT geschrieben wurde, weil die Orgel defekt war) konnte nicht anders als an sich und das Essen denken. Wir dagegen, die wir unendlich viel Zeit und kommunikative Möglichkeiten haben, rotten die letzten Elefanten, Wale und Wölfe aus, obwohl sie uns ähnlich sind, weil sie angeblich unsere Schafe fressen oder etwas haben, was wir gern hätten oder weil sie uns einfach im Weg sind, wir dagegen tun nichts gegen Waffen und für Bildung, wir dagegen sind mit uns und unserer Welt zufrieden. Und womit wir nicht zufrieden sind, dafür suchen wir Schuldige, und die sind leicht zu finden. Nicht so leicht ist es, sich selbst als den Mitschuldigen zu erkennen und jetzt, in dieser Minute sein Leben zu ändern. Das ist Weihnachten.

PANDEMISCHE WEIHNACHT

Kreuzgang des Havelberger Doms

 

PANDEMISCHE WEIHNACHT

Die Gans ist gegessen. Das Fest ist gefeiert. Das Lametta ist verworfen. Was bleibt, sind Müll und Gedanken.

Noch vor zehn oder sogar nur sechs Jahren erschien die Politik vielen Menschen langweilig und gleichförmig. Viele glaubten an die Politikverdrossenheit ihrer Raum- und Zeitgenossen. Aber es gab Vorboten: die Banken- oder Griechenlandkrise und Sarrazins dummes, böses Buch. Es war zum Glück auch – was wir damals ahnten und heute wissen – falsch. Deutschland schafft sich nicht nur nicht ab, sondern erfindet sich neu, weil es sich neu erfinden muss und kann. Der Grund ist allerdings weniger, dass es feindliche Machenschaften von Gates & Merkel und dem ausgedachten ‚Weltjudentum‘ gibt. Noch nicht einmal die ‚Reichsbürger‘ können Deutschland erschüttern, obwohl sie das so sehr gehofft hatten. Es ist auch nicht das Corona-Virus, was uns den Neubeginn aufzwingt.

Das Corona-Virus hat uns aber wie der Totalschnitt eines Pathologen oder Romanciers gezeigt, wozu wir fähig sind. Europa, dessen angeblich morbider Zustand immer wieder beschworen wird, hat nicht nur auf Urlaubsreisen, sondern vor allem auch und zum zweite Mal auf Weihnachten verzichtet. Die Häme ist weitgehend aus der Politik gewichen. Für eine so große Krise arbeitet Europa erstaunlich gut zusammen. Obwohl die Demonstrationen, die sich 2016 gegen die Flüchtlingspolitik, nun aber gegen die antipandemischen Maßnahmen der Regierungen richten, ärgerlich, schändlich und vor allem lächerlich sind, werden sie weitgehend geduldet. Schädlich dagegen sind sie nicht und auch sie werden Deutschland und Europa nicht abschaffen.  

Abschaffen – ein Wort übrigens, das wieder eine Art von großem Administrator unterstellt – müssen wir unsere Lebensweise der Verachtung, Vermüllung und Vernichtung der Natur. Es wird bald mehr Plastikteile als Fische in den Weltmeeren geben. Aber weil es eben keinen Großadministrator gibt, müssen wir es selber tun.

Wer es geschafft hat, dem Corona-Virus zu widerstehen, der sollte es auch mit Weihnachten aufnehmen können. Weihnachten ist vom Fest der Yesusgeburt zu einem Konsumterrortiefpunkt der Verschwendung geworden. Das Symbol der Menschwerdung – nicht Gottes, sondern der Menschen – in der Verehrung eines neugeborenen Kindes unter widrigsten Umständen, wurde schrittweise in ein konsumistisches Horrorszenario verwandelt. Ob zum Beispiel der Weihnachtsmann dabei eine Rückkehr heidnischer Gebräuche oder der Trottel des Konsums ist, bleibt gleichgültig. Der Ersatz einer einzelnen wunderwirkenden Kerze durch elektrische, automatisch gesteuerte Beleuchtungen ganzer Vergnügungsparks und zu Vergnügungsparks umgewidmeter Innenstädte, der Wettbewerb der Hausbesitzer der Vorstädte um die hellste und brutalst verschwenderische Beleuchtung, die vierwöchige Dauerbeschallung und damit inflationäre Opferung der Weihnachtslieder – das alles ist bedauernswert, aber nicht unumkehrbar. Weihnachtmann und Weihnachtsbaum sind so gesehen Merkmale des Untergangs, den wir verhindern können, indem wir sie wieder abschaffen. Vielleicht beginnt der als Neuerer gepriesene Papst in Rom mit der Abschaffung der infantilen Yesuspuppe. Es gibt genügend Babys, die auf einen Träger warten.

Gefeiert wird eigentlich die Geburt eines Kindes, von dem sich später herausstellt, dass es der Menschheit einige der besten Sätze und Lehren brachte, das aber mit den Mächtigen ebendieser Menschheit kollidierte und demzufolge ermordet wurde.

Daraus muss folgen, dass es niemals mehr Mächtige geben darf, denen die Lizenz zum Töten oder auch nur Einkerkern von Störern ihrer Macht gegeben wird. Wer sich eine solche Lizenz anmaßt, muss gehen. Auch Tränengas und Wasserwerfer sind keine Argumente. Erkennbar sind solche autoritären Politiker an ihrem clownesken Verhalten, das nicht ihrem Verstand, sondern ihrem Unverstand entspricht und von den wirklichen und ernsthaften Clowns zurecht und gekonnt nachgeäfft wird. Wir haben vor Jahr und Tag schon auf das merkwürdige, verkehrt herum wahrgenommene Verhältnis von Chaplin und Hitler, die im selben Monat desselben Jahrs geboren wurden, hingewiesen. Hitler, der als arbeits-, obdach- und sinnloser Asylheimbewohner sicher oft ins Kino gegangen ist, sah dort den Tramp, den Wanderarbeiter, der das Gute will, aber durch tausend Schwierigkeiten, die zum Weinen und zum Lachen sind, hindurch muss. Hitler kannte das, denn er wurde in Wien wegen seiner lächerlichen antisemitischen Reden von Bauarbeitern vom Baugerüst geworfen. Sein clowneskes Verhalten behielt er bis zu seinem würdelosen Abgang bei. Er ahmte Chaplin nach, ohne dessen Qualität auch nur erahnen zu können.

Daraus muss weiter folgen, dass wir noch viel mehr die Möglichkeit jeder Tötung ächten und verhindern. Es muss die Ächtung geächtet werden, nicht Menschen. Die Verherrlichung von Waffen und die Waffen selbst müssen geächtet werden, nicht Menschen. Der Staat mit seinen Polizisten und Soldaten sollte den Anfang machen. Einige Länder, in denen überwiegend die Vernunft regiert, wie zum Beispiel Deutschland, sollten die Waffenindustrie stilllegen und den Im- und Export von Waffen verbieten. Alle Institutionen, Sozietäten, Gruppen und Vereine sollten diesem Beispiel folgen. Im Vatikan, in dem es außer dem Papst auch einen Nuntius der Hölle zu geben scheint, sollte ebenfalls begonnen werden, das Böse zu tilgen: Geld, Gier, Geschwätz, Lüge und Machterhalt.

Die Aufforderung zur Rückkehr oder die Rückkehr zu alten Gewohnheiten selbst, kann nur schädlich sein. Als vor hundert Jahren die spanische Grippe fast ungehindert wüten konnte, rief der Bischof von Zamora seine Mitbürger auf, die Reliquien des heiligen Rochus – der in seinem Grabe rotierte – zu küssen. Damit wurde diese Stadt zum hotspot der Seuche und die Seuche bekam daher ihren Namen, und auch weil einzig die spanische Presse unzensiert über den Verlauf und die Todeszahlen berichten konnte. Man kann des heilenden Rochus von Montpellier, der sich um Pestkranke kümmerte und deshalb verfolgt wurde, nur durch Selbstlosigkeit gedenken. An Reliquien sollte man dabei nicht glauben, man sollte Menschen lieben, aber keine Gegenstände. Heilend oder heilig können nur Medizin und Liebe sein, nicht Menschen und Dinge.

Wir können religiös nur durch die Ehrfurcht vor dem Leben sein. Wir müssen auch gar nicht mehr religiös sein. Vernunft und Aufklärung können heute genau das Gute bewirken, das früher fast nur durch die Religionen erreicht werden konnte. Fehlbar sind beide, Religion und Vernunft.  

Wir leben nicht nur nicht in besonders harten Zeiten. Die Zeiten sind immer gleich hart und gleich warm und herzlich. Wir leben in Zeiten neuer Chancen, auch das ist nicht neu, aber wir können es jetzt besser erkennen als je zuvor. 1918, noch bevor die spanische Grippe beendet war, zerfielen fünf große und schädliche Reiche: das Osmanische Reich, das schon mehrere Jahrhunderte lang geschwächelt hatte (‚der kranke Mann am Bosporus‘), das Russische Zarenreich, ein Unort von Ausbeutung, Unterdrückung und Alkoholismus, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, ein am eigenen Rassismus gescheiterter Vielvölkerstaat, das deutsche Kaiserreich, bis heute das Vorbild für Bürokratismus, Militarismus und Kadavergehorsam und, allerdings noch nicht vollständig und krass angeheizt durch die spanische Grippe, das British Empire. Sie gingen zurecht, weil sie sich überlebt hatten, unter, aber sie alle hatten auch gute Seiten. Das Osmanische Reich war von einem zwanzigjährigen Visionär, Mehmet II., errichtet worden,  sein enormer Beitrag zur Musikgeschichte kann hier nicht ausgeführt werden, Russland brachte Lew Graf Tolstoi mit seiner Lebensreform hervor, Deutschland Bach, das Automobil und die Schallplatte, Österreich Beethoven und Kafka und Großbritannien den Widerwillen vor kolonialer Ausbeutung.

Jede Zeit hat ihre Chancen. Wer mit Corona fertig wurde, kann auch Weihnachten in der heutigen konsumistischen Perversion abschaffen. Das wird natürlich kein administrativer Akt sein, sondern die durch Überzeugung erreichte Abänderung der Gewohnheiten.  Die Plastiktüte ist das Vorbild. Auch die Atombombe ist seit Hiroshima und Nagasaki nie wieder angewendet worden, sie kann weg. Der Plastikbecher muss das nächste Ziel sein. Dann kommt Weihnachten.

„Viel Kälte ist unter den Menschen, weil wir nicht wagen, uns so herzlich zu geben, wie wir sind.“ 

[Albert Schweitzer]

YUSUF UND SEINE BRÜDER

nacherzählt* für einen jungen Muslim**

Es war einmal ein Mann im Land Kanaan, der war der Sohn Ishaks und Ibrahims, er hieß Yakub und hatte zwölf Söhne, von denen ihm aber Yusuf der liebste war. Möglicherweise glaubte er den Träumen seines Lieblingssohns. Denn dieser träumte, dass seine Garben stünden, die seiner Brüder aber umfielen und dass die Sonne, der Mond und elf Sterne sich vor ihm verneigten. Die Brüder wurden eifersüchtig und beschlossen, Yusuf zu töten. Ruben, der älteste Bruder war dagegen. Also zogen sie Yusuf aus und warfen ihn nackt in eine Grube. Aber auch das fand Ruben zu schlimm, so dass sie ihn schließlich an vorüberziehende Händler als Sklaven verkauften. Deren Karawane aber zog nach Ägypten. Dort verkauften die Kaufleute Yusuf an Potiphar, den Kämmerer und Hauptmann der Palastwache des Pharaos. Die böse Frau des Potiphar aber wollte den jungen Yusuf als Geliebten in ihrem Bett haben. Yusuf weigerte sich, weil er wusste, dass das nur Ärger bringen würde. Eines Tages gelang es aber der bösen Frau, Yusuf auf der Flucht vor ihr seine Kleider zu entreißen. Sie zeigte ihrem Mann und dem ganzen Haus die Kleider Yusufs als Beweis dafür, dass er sie vergewaltigen wollte. Yusuf kam ins Gefängnis, aber auch dort wurde er, weil er unter dem Schutz Gottes stand, recht gut aufgenommen. Eines Tages kamen auch der oberste Mundschenk, der Verwalter der Weine und Biere, und der königliche Hofbäcker ins Gefängnis. Sie träumten, dass sie drei Weinreben in der Hand hielten und drei Körbe voll Brot auf dem Kopf trügen. Yusuf deutete die Träume so, dass der Mundschenk in drei Tagen frei käme, der Bäcker aber in drei Tagen gehenkt würde. So kam es auch. Aber erst als auch der große Pharao einen bösen Traum hatte, fiel dem Mundschenk ein, dass er Yusuf versprochen hatte, alles für seine Befreiung aus dem Gefängnis zu tun. Dem Pharao hatte geträumt, dass auf seinen Weiden am Nil erst sieben fette Kühe geweidet hätten, dann aber wären sieben magere und hässliche Kühe gekommen, die die dicken und schönen Kühe gefressen hätten. Der Pharao war schweißgebadet aufgewacht. Man holte Yusuf also aus dem Gefängnis, zog ihm neue Kleider an und führte ihn vor den Pharao. Yusuf deutete die Träume so, dass nach sieben wirtschaftlich guten Jahren sieben Jahre der Teuerung und des Hungers kommen werden. Er riet dem Pharao deswegen, für die Jahre des Hungers Speicher mit Getreidereserven anzulegen. Der Pharao erkannte die großen Fähigkeiten Yusufs und machte ihn zu seinem Oberminister, also zum zweiten Mann im Reich. Yusuf ließ im ganzen Ägyptenland verkünden, dass er alles Korn aufkaufe und große Speicher bauen lasse. Und nachdem die sieben guten Jahre vergangen waren, begann in allen Ländern die Zeiten der Missernten, der Teuerung und des Hungers. Auch im Land Kanaan wurde das Essen knapp und der alte Vater Yakub schickte seine Söhne, mit Ausnahme von Binyamin, nach Ägypten, damit sie dort Getreide oder Mehl kaufen sollten. Als sie dort ankamen, erkannte Yusuf seine Brüder, aber die Brüder erkannten Yusuf nicht, denn er war ein großer, reicher und mächtiger Mann geworden. Um seine Brüder zu prüfen, warf er ihnen vor, Spione zu sein. Zudem wollte er wissen, warum der jüngste Bruder nicht dabei wäre. Er befahl ihnen, den jüngsten Bruder Binyamin zu holen, dafür sollten sie Simeon zum Pfand dalassen. Die Brüder merkten auch nicht, dass Yusuf ihre Sprache verstand, denn er redete mit ihnen über einen Dolmetscher. Sie zogen also zurück. Yusuf  hatte ihnen die Säcke vollfüllen und sogar das Geld zurückgeben lassen. Zuhause angekommen, betrübten sie ihren alten Vater noch mehr. Denn er hatte schon seinen Lieblingssohn verloren, nun war Simeon in Ägypten geblieben und Binyamin sollte dem Oberminister des Pharaos vorgeführt werden. Die Brüder wurden nun aber von ihrem schlechten Gewissen angetrieben, sie hatten wohl gemerkt, dass ihr Schicksal sich gegen sie gewendet hatte. Der Vater Yakub gab ihnen also Binyamin mit, dazu Balsam und Honig, Gewürze und Myrrhe, Datteln und Mandeln als Geschenke. Erneut prüfte sie Yusuf, indem er ihnen nun auch noch den Diebstahl seines silbernen Bechers anlastete. Als Yusuf alles auflösen und sie in sein Haus zum Essen einladen wollte, glaubten die Brüder an eine Falle und an das böse Ende einer – aus ihrer Sicht – bösen Geschichte. Yusuf aber hatte ihnen schon vergeben, als er nackt und dem Tode geweiht in der Grube lag. Er deutete die ganze Geschichte als ein Werk Gottes. Yusuf war von ganz unten nach ganz oben aufgestiegen. Zuguterletzt bat der Pharao Yakub und seine zwölf Söhne sowie deren Frauen und Kinder zu sich nach Ägypten. Yakub starb im Alter von 130 Jahren und wurde – seinem Wunsch gemäß – in Hebron begraben. Yusuf starb mit 110 Jahren und wurde zunächst in Ägypten begraben, aber später, als Musa und Harun ihr Volk nach Israel führten, mitgenommen und in Nablus beigesetzt, wo sich heute eine Gedenkstätte für Juden, Christen und Muslime befindet.  

*Bibel: Genesis (1. Buch Mose) Kapitel 37-50

Koran: Sure 12 Yusuf     

**Abdul Razaq

Worterklärungen:

Kanaan – Landesteil in Israel   Garben – gebündeltes Getreide   eifersüchtig – neidisch auf Personen    Sklave – Diener, der Eigentum ist   Karawane – Gruppe von Händlern in der Wüste, meist mit Kamelen   Kämmerer – Finanzbeamter   Palast  – Schloss, prächtiges Haus   Pharao –  König in Altägypten  Teuerung – Inflation, die Preise steigen, weil die Waren knapp werden   Speicher – Aufbewahrungsort   Getreide – Korn, das zu Mehl gemahlen wird     Reserve – Vorrat, Aufgehobenes   Oberminister – Kanzler, Großwesir, Prime Minister, Ministerpräsident   Spion – Kundschafter, Auskundschafter, der heimlich Informationen beschafft   Pfand – Gegenstand, der gegen einen anderen Gegenstand getauscht wird, um ihn später wieder zurückzutauschen     Dolmetscher – Übersetzer von einer Sprache in die andere    Gewissen – die Bewertung der eigenen Taten oder Gedanken     Schicksal – (durch Gott) vorbestimmtes Leben     Hebron – Stadt in Israel     Nablus – Stadt in Israel 

ZWISCHEN PANKOFF UND KAHLA

Zwei Romane im Ursachenmilieu

Zu Spitzenzeiten des Kalten Krieges benannten  sich die Kontrahenten nicht mit Namen, sondern mit Metaphern. Adenauer und Brandt (!) hießen im Osten ‚Bonner Ultras‘, während im Westen nur vom Pankower oder Zonenregime gesprochen wurde. Adenauer sagte zudem nicht Pankow, sondern Pankoff, und nahm noch nicht einmal zur Kenntnis, dass die ostzonalen Schwestern und Brüder nicht in Pankoff regiert wurden, sondern dass im Majakowskiring nur die Machthaber wohnten. In der nicht so geschlossenen Siedlung auf der anderen Seite der  Grabbeallee wohnten die systemtreuen Künstler mit Ausnahme von Brecht. Wenige hundert Meter nördlich davon hat die Familie Erpenbeck sogar eine eigene kleine Straße. Und unter der fortwährenden Existenz in dieser pseudoelitären Situation leidet der zu großen Einsichten fähige und befähigende neueste Roman von Jenny Erpenbeck. Er erzählt von einer blutjungen Angehörigen einer solchen proletarischen Edelfamilie, die sich in einen vierunddreißig Jahre älteren anscheinend berühmten Schriftsteller verliebt, der aber eigentlich nur ein neues Verhältnis sucht, für die vergangenen Verhältnisse war er stadtbekannt. Halt: der zweite Makel des auch stilistisch – gemessen an Juli Zeh – herausragenden Romans ist die selbst produzierte und auf alle potenziellen Opfer projizierte Berühmtheit und Größe der eigenen Leute. Jeder Weltbürger hat natürlich Hegel und Marx gelesen, jeder findet die angepinnten Lenin-Zitate gut (Beispiel: Der Marxismus ist richtig, weil er wahr ist.), Brecht ist überhaupt der größte Dichter, den es gab, gibt und geben kann. Im Falle von Brecht fielen sogar die Selbstdarstellung und das von oben herab gelassene Bild des sozialistischen Oberklassikers zusammen. In dem Roman ‚Kairos‘ fehlt es schon nicht an Ironie und Selbstironie, aber ich schwöre – und ich habe auch vierzig Jahre nicht gerade als Gegner in der DDR gelebt –, ich kenne keinen einzigen Menschen, der zum Grab von Ernst Busch gegangen wäre. Viele, die ich kannte, mich selbst eingeschlossen, haben Ernst Busch erst zur Kenntnis genommen, als der Buschfunk meldete, dass Ernst Busch betrunken Honecker die Meinung sagt. Viele, die ich kannte, hätten, wenn ich sie nach Ernst Busch gefragt hätte, zurückgefragt, ob das der Direktor von Zirkus Busch sei. Vielmehr erwies sich am Beispiel von Busch und Brecht der Glaube der DDR-Kulturfunktionäre, dass die ganze DDR nichts anderes las, hörte und sah, als die verordnete Kunst mit ihrer verordneten Berühmtheit, als Aber- und Irrglaube.

Umgekehrt ist jeder Glaube an den Staat Aber-, wenn nicht Irrglaube.

Die erste große Schlusspointe wird lange und tiefgründig vorbereitet: der berühmte Schriftsteller, und das zeigt, dass er nur scheinbar groß ist, tut fast nichts als ununterbrochen essen zu gehen oder in Cafés herumzusitzen. Den gleichaltrigen Freundinnen der blutjungen Geliebten bleibt nichts als Neid vor so viel demonstrativem Reichtum, der dann auch schnell zur Armut verkommt. Beim erstbesten Anlass verfällt der scheinbar berühmte Mann in sein eigentliches Metier: das Denunziantentum. Die Geliebte hat in Frankfurt an der Oder, wo sie einst im Bahnhofsklo eine Stunde lang geweint hatte, und ein Bahnhofsklo im Osten war wahrlich kein Vergnügen, einen einfühlsamen und gleichaltrigen Zuhörer gefunden, dessen sexuellen Avancen sie sehr tapfer und sehr lange widersteht. Unser Berufsdenunziant hat die folgenden Wochen und Monate nichts besseres zu tun als Dossier um Dossier über diesen von ihm so benannten Verrat (und das Wort verrät seine eigentliche Herkunft) zu füllen, bis wohlmeinende Freunde ihm eine Therapie empfehlen. Er geht auch zu einem Psychologen, aber nur, um auch diesen über die einzig wahre Sicht auf Hölderlin zu belehren. So wie in den ersten Monaten der Beziehung jeder Jahrestag (also eher das Monatsdatum) gefeiert wird, wird nun alles zurückgespult und alles unter dem neuen Vorzeichen – nicht des glücklichen Zusammentreffens -, des unglücklichen Auseinandergehens bewertet. Dabei bleibt alles beim alten: die Cafés, das Essengehen, Rauchen der Zigaretten Marke Duett, sechs Ostmark die Schachtel, verwirklichte Pornografie im Bett. Man ahnt, dass der Roman, der sich bisher wie Memoiren einer jungen Frau las, das Potential zur Parabel hat. Diese ganze Liebe beruht auf Verrat und dieses ganze Land beruht auf Verrat. Der Unterschied ist nur, dass die Bewohner des Landes sich unbemerkt von ihrer Führung von ihrer Führung entfernen. Seit immer mehr Nichtrentner in den Westen reisen dürfen, spricht sich herum, dass selbst die Arbeitslosen im Westen weniger klagen als die Entmündigten und Passlosen im Osten. Während wir Leser uns über die von ihm verfassten Kassetten empören, muss Katharina sie minutiös beantworten und gerät dadurch in Konflikt und schließlich in den Dissens mit ihrem Geliebten. Wir ahnen, worauf es hinausläuft, aber die Protagonistin der Fiktion muss erst Akteneinsicht beantragen.

Die zweite Pointe ist nicht so leicht zu erkennen, aber sie ist genauso konstruiert: gleichnishaft zeigt der Roman an der manchmal bis ins Kitschige gleitenden Liebe wie die DDR funktionierte. Denn wir sollten dem Staat unseren Dank, dass wir studieren durften, mit dem drei Jahre währenden Armeedienst abstatten. Aber hätte der Staat nicht uns dankbar sein müssen, dass wir uns auf seine unsinnigen Argumente einließen? Denn wenn wir uns nicht eingelassen hätten, wäre es ein Land ohne Ärzte und ohne Armee geworden. Jedes große System versucht, die Beweislast dergestalt einfach umzukehren. Die Diktatoren und Autokraten verlangen auch noch Dankbarkeit für ihre Anmaßung. Es ist dasselbe Paradox wie bei den Bankeinlagen: wenn alle Kunden ihr Geld an einem Tag abheben würden, gäbe es nicht genügend Bargeld. Aber die Kunden machen das natürlich nicht, und die DDR-Bürger haben zwar gemault, aber auch gekuscht, nur Torsten ging in den Westen statt in die Armee, und er wollte doch nur Zahnarzt werden. Auch das umgekehrte ist denkbar: der Staat, dem man sich widersetzt, rächt sich, er verkündet, alle Dissidenten und Attentäter zu erschießen, aber dann zeigt sich, dass das nicht geht. Zum 90. Geburtstag ließ sich Nina Gräfin Schenk von Stauffenberg ein Foto mit ihren 90 Nachkommen anfertigen, obwohl der allmächtigste Terrorist verkündet hatte, dass er die gesamte Familie mit Stumpf und Stiel ausrotten wird.

Jenny Erpenbecks Roman vom Gott des günstigen Augenblicks findet, obwohl ein bisschen elitelastig, dann doch noch den Weg zur Parabel. Denn die Elite war ja keine, und den berühmten Schriftsteller erkennt heute kein einziger Leser mehr, auch Jenny Erpenbeck musste, wie sie im Nachwort schreibt, ihren Vater und Professor Erdmut Wizisla befragen, um das Flair der untergegangenen Elite zu rekonstruieren. Die Würde des Menschen war nicht nur antastbar und demzufolge grundsätzlich befleckt, sondern wurde verliehen wie ein Orden, und wer ihn nicht erhielt, hatte sich ‚als unwürdig erwiesen‘, wie auch unsere Protagonistin Katharina. Jeder Versuch zu glauben, dass es sinnvoll sei, einen Staat oder eine Religion über ein Land zu verhängen, ist sinnlos und zum Scheitern verurteilt. Die Überschätzung des Staates ist uns Menschen aus der DDR aber doppelt zum Verhängnis geworden: nämlich damals, als wir auf die Pseudoelite hereingefallen sind und mit Brecht- und Leninzitaten um uns haben werfen lassen, und heute, da wir immer noch glauben, dass irgendeine heisere Bürokratin uns aus unserem Elend erlösen will. Das müssen wir schon selber tun und der Staat sollte dabei allerhöchstens der Nachtwächter sein und hin und wieder einen Sozialarbeiter vorbeischicken.

Obwohl der im zweiten Roman beschriebene Ort Kana leicht als Kahla in Thüringen und Hort der Neonaziszene erkennbar ist, ist genauso leicht der Parabelcharakter des Buches überdeutlich. Der oberste Neonazi des kleinen Städtchens südlich von Jena, genannt DER BOSS, liebt Bach und nimmt sich eines armen Waisenjungen aus dem Kinderheim an, kurzum, alle unvereinbaren Subkulturen werden hier neu gemischt. Das Personal des kleinen, eigentlich liebenswürdig-verschrobenen Örtchens scheint aus einem Musterbuch des Kleinstadtbewohners zu stammen. Da ist der vom BOSS adoptierte Junge Florian Herscht, ein Riesenbaby von ungeheurer Kraft, man ahnt schon zu Beginn, dass er sie noch brauchen wird. Er ist genauso sympathisch, everybody’s darling, wie sein Vorbild aus der Weltliteratur: Lennie Small aus John Steinbecks großem, wenn auch kurzem Roman OF MICE AND MEN. Er ist der Freund der alten Frauen und der Hochhausbewohner, und er ist so glücklich, dass er im siebten Stock des Hochhauses eine eigene Wohnung besitzt, mit einem Stuhl und einem Tisch und einem Bett. Dort kann er aber mit seinem Laptop keine Bachkantaten hören, denn es gibt kein Internet. Dieses ganze wunderbare Leben verdankt er dem BOSS, der ihn vom Hochhaus zu den Einsätzen abholt, bei denen sie mit Spezialmitteln und noch spezielleren Werkzeugen Graffiti entfernen, besonders von den nationalen Heiligtümern der Bachgedenkstätten in Thüringen. Die Leiterin der Bibliothek gehört zu den Freundinnen und Freunden Florians ebenso wie der pensionierte Physiklehrer Adrian Köhler, von dem er zudem lernt, dass die Welt zu Nichts zerfällt, wenn die Politik nicht schnellstens reagiert. Florian schreibt deshalb mehrere Briefe an Angela Merkel und versucht auch, im Reichstag vorstellig zu werden. Kleinstadtmilieustudien werden nicht nur mit Frau Schneider und Frau Burgmüller vorgelegt, zwei konkurrierenden Nachbarinnen und omnipräsenten Zeitzeuginnen, sondern auch mit der – Frau Ritter aus Köthen nachempfundenen – völlig körperlich und geistig verwahrlosten Mutter des Nazis: die Geburt des [NATIONAL][SOZIAL][ISMUS] aus der Asozialität.

Eine Extrastudie widmet Krasznahorkai dem Festhalten an den alten Essgewohnheiten Bockwurst, Schweineleber und Köstritzer Bier. Es gibt wohl kein Buch, in dem mehr Bockwurst gegessen wird. Aber wir verstehen: die Essgewohnheit ist auch ein Widerstand gegen Burger und Döner. Jedoch wie Weihnachten nie mehr so sein wird wie in der Kindheit, so wird die DDR nicht wieder auferstehen, soviel Bockwurst ihre follower auch in sich hineinstopfen mögen.

Die Kleinstadtidylle ist nach 1990 durch demografische und ökonomische Prozesse zerstört worden, die nicht direkt von einem Staat zu verantworten waren, weder vom untergegangenen noch vom eben aufgehenden. Zurück blieb ein verwahrloster Topos mit so gesehen obdachlosen Menschen. In dieses Vakuum stieß der mentale Linksradikalismus (BANKEN ENTEIGNEN) genauso wie der latente Neonazismus (DEUTSCHLAND DEN DEUTSCHEN), überhaupt jede vereinfachte Antwortoption und jedes autoritäre Reglement. Das Dilemma menschlichen Zusammenlebens ist hier zu sehen: entweder ein optionales Overprotecting oder die mögliche Verwahrlosung. Selbst die antiautoritärste Demokratie benötigt einen Grundkonsens, während auch die härteste Autokratie nicht ohne eine demokratische oder wenigstens merkantile Klammer auskommen kann. Das eine System basiert auf Emphase, dem permanent skandierten Unsinn, das andere auf Empathie, dem immer erneuerten Versuch der Annäherung.

Eine Ausnahme oder ein Zwischenglied ist der Lehrer. Da er sein Wissen unmittelbar weitergibt, glaubt er, es auch unmittelbar empfangen zu haben, er hält es und sich für absolut und schon sitzt er in der ungewollten Autoritätsfalle, obwohl er eigentlich nur durch Einfühlung existieren kann. Adrian Köhler versucht vergebens, die falsche Interpretation zu stoppen und verfällt in Demenz als der notwendigen Zivilisationskrankheit. Keine Autorität kommt ohne Kataklysmus aus, ob er nun im kleinen Städtchen Kahla im Untergang der Porzellanfabrik oder in der prächtigen Metropole Lissabon passiert, wo einst und deshalb die Aufklärung geboren wurde. Das Erdbeben ereilt Kahla wie Lissabon.

Indes tritt zu den gewalttätigen Neonazis eine weitere Bedrohung: die Wölfe, die alte Urangst des Menschen, der sich immer mehr von der Natur entfernt. Der Wolf als Metapher für sich selbst und den Flüchtling und die Pandemie ist die verkörperte Irrationalität. Der Mensch, selbst wenn er an Gott glaubt, glaubt sich rational, demgegenüber kommen die genannten Monster aus dem Off der Unvernunft.

Der Staat bleibt hilflos und unsicher, die Polizei tappt im Dunkeln, weil sich das Paralleluniversum der Neonazis als Stecknadelkopf im Heuballen entpuppt hat.

Jeder Glaube an den Staat ist Aber-, wenn nicht Irrglaube.

Der Staat sind bestenfalls wir, aber dieser Fall kann wohl kaum eintreten, solange bezahlte Büttel von verlorener Macht träumen.

Beide Bücher spielen mit einer Art Unstrukturiertheit und spiegeln damit das zunächst unstrukturierte Leben, das uns erst nekrologisch logisch wird. Andersherum gesagt: nur im Kunstwerk können wir den Sinn oder den Unsinn des Lebens erkennen. Das tägliche Leben erschließt sich uns nur schwer. Wir wissen nicht, warum unser Nachbar stirbt oder drei Häuser weiter das siebte Kind geboren wird. Deswegen steht auf vielen Grabsteinen WARUM, aber keine Antwort, und Memoiren dienen eher dazu, die Gründe zu verschleiern statt sie aufzuklären. Erpenbeck beherrscht den Perspektivwechsel innerhalb eines Absatzes oder sogar eines Satzes. Dadurch entsteht im Leser eine Unmittelbarkeit, eine Dichte, die den Memoiren des alten Kindes dokumentarische Züge verleiht.

Dieselbe Wirkung erreicht Krasznahorkai dadurch, dass es in seinem ebenfalls 400 Seiten starken Buch nur einen einzigen Punkt gibt, den Schlusspunkt. Es gibt auch keinen Absatz und die Kapitelüberschriften sind Zitate vorheriger Kapitel. Dadurch können wir Leser glauben, dass der Roman das Leben so wiedergibt wie es ist: unstrukturiert, unverständlich, unglaublich, unverfroren, unwiederholbar, unhaltbar, unendlich. Aber der Schein trügt. Man ahnt es: Florian Herscht wird es beenden, so wie unser aller Leben eben endet. Am Schluss sterben sie alle wie die Fliegen. Aber die schönste Pointe, nach der die böseste der Bösen durch Genickbruch zu Tode kam, ist, dass die Pistole der toten Bösen noch einmal losging und HERSCHT mit den beiden vom Naturschutz geschändeten Wölfen stirbt, im Kopf hört er aus dem Stabat Mater von Pergolesi/Bach TILGE HÖCHSTER MEINE SÜNDEN. Ja, das wäre schön.  

Jenny Erpenbeck, KAIROS., Penguin Verlag, München 2021

Laszlo Krasznahorkai, HERSCHT 07769, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021

SOLL ICH MEINES BRUDERS HÜTER SEIN?

träume sind erinnerung an taten

taten sind erinnerung an träume

1

Zu den Menschen, die man sich leider nicht aussuchen kann, und ich denke, das sind alle, gehört auch der Bruder. Gleichwohl hat er aber, als Bezeichnung, als Kategorie und als realer Bezug eine ungeheure Aufwertung erfahren. Das gleiche Schicksal, besser: der sehr ähnliche Ausgangspunkt, verband Brüder schon immer, aber der Name ‚Bruder‘ kann auch Metapher für die methodisch so beliebte Unterscheidung in zwei Kategorien sein: gut und böse, Mörder und Ermordeter. Die frühe Geschichte von Kain, der seinen Bruder aus Neid ermordet, zeigt uns aber auch, dass es auf den ersten Blick nur einen Weg gibt, nicht zum Mörder zu werden: nämlich ermordet zu werden. Die ganze Menschheitsgeschichte ist voller Täter und Opfer. Mauern, Ketten, Fesseln, Kreuze, Galgen und Guillotinen sollen den Opfern ihren Status bewusst machen und sie einschüchtern und einsperren.

Aus dieser endlosen Opfergeschichte erhebt sie die Emanzipation, die manchmal von oben verordnet wurde, wie bei der so genannten Judenemanzipation in Deutschland und Österreich, manchmal mit einem mutigen Akt der Selbstemanzipation begann, wie bei der Emanzipation der Frau oder, doppelt sozusagen, als Rosa Parks im Bus auf dem Platz für Weiße sitzenblieb. Und wir wollen nicht vergessen, dass das Busunternehmen in seinem Beharren auf Segregation direkt in die Pleite steuerte. Aus dieser Bewegung der afroamerikanischen, eher auf der Opferseite befindlichen Bevölkerung Nordamerikas stammt die neuerliche, inzwischen weltweite Aufwertung des Bruderbegriffs, der in der Religion immer gebräuchlich war, aber mit der Religion auch das Schicksal der Unglaubwürdigkeit teilte.

In der spektakulären Ausstellung ‚BEWEGTE ZEITEN‘, die an archäologischen Fundstücken unsere im doppelten Sinne bewegte Vergangenheit zeigt – die Menschen wanderten von jeher ein und aus, und sie schufen bewegende Artefakte, wie zum Beispiel vor dreitausend Jahren das Speichenrad von Stade – kann man gut sehen, dass die Kunst, die Venus und die Flöte von vor 40.000 Jahren, der treueste selbstgeschaffene Wegbegleiter der Menschen ist. Die Kunst ist vielleicht ein Produkt des Überflusses an Zeit, der entsteht, wenn man satt zu essen hat oder ausgestoßen ist. Im New York der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstand diese eigenartige Subkultur des Hiphops, die heute weltweit als Rap fortbesteht und den antiken Begriff des Bruders (‚bro‘) als Metapher tiefer und selbstgewählter Zusammengehörigkeit hervorgebracht hat. Es ist aber eine Renaissance dieses uralten Begriffs und wir müssen auch gleichzeitig eingestehen, dass er einerseits natürlich wie jeder Begriff auch verlogen sein kann (‚und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein‘), und andererseits ist es vielleicht der letzte männlich-dominierende Begriff. Das hat sich aber niemand ausgedacht, um die Frauen oder die Feministinnen zu ärgern, sondern das kommt daher, dass in der modernen Industrie- oder Arbeitsweltgeschichte wieder Millionen junger Männer übrig sind und sein werden, die sich dann auch in organisiertem Verbrechen und in gelangweilten Subkulturen wiederfinden. Es gibt also neben Klimawandel, Digitalisierung als Veränderung der Arbeitswelt und Migration noch weitere Probleme, die wir in Zukunft lösen müssen. Dazu gehören die arbeitslosen jungen Männer genauso wie die seit siebenhundert Jahren in Europa lebende und verachtete Minderheit der Roma.

Bis ins neunzehnte Jahrhundert waren die Menschen aufgrund von Mangel aufeinander angewiesen, andererseits fanden sie über sich ein Gedankengebäude, das genauso ewig zu sein schien wie die Kathedrale, in der Solidarität und Sicherheit gepredigt wurden. Neben den religiösen Begriffen gehörten im neunzehnten Jahrhundert auch staatlich-nationale Vorstellungen zu diesem Gedankengebäude. Für den folgenden Satz wären wir sowohl im Kaiserreich als auch in der Nazidiktatur unweigerlich im Gefängnis gelandet: Vaterland war eine hohle Ersatzheimat für hungernde und obdachlose Menschen. Vaterland ist so etwas wie ein Schokoladenweihnachtsmann, schön anzusehen, aber leider hohl und nicht aus bester Schokolade, jeder, der ihn begreift, beschmutzt sich die Hände. Wer das nicht glaubt, begebe sich nach Verdun und sehe sich dort eine Million Soldatengräber an. Auch in ihnen liegen als überflüssig erachtete junge Männer, die bedenkenlos in den Tod gejagt wurden, jeder von ihnen hatte einen Schokoladenweihnachtsmann namens Vaterland in der Hand. Die Geschichte wäre übrigens nicht besser ausgegangen, wenn wir, die Deutschen, den ersten Weltkrieg gewonnen hätten. Kaiser Wilhelm ist der erste Populist gewesen, ein Politiker, der etwas sagt, wovon er zwar nicht überzeugt ist, von dem er aber glaubt, dass ein Großteil der Bevölkerung es schnell glauben oder annehmen wird.

Hiob, die antike Gestalt, über die Gott und der Teufel eine Wette abschließen, ob er bei ihn beinah vernichtendem Leid weiter an seinen Überzeugungen festhalten wird. Die Überzeugungen werden nicht näher benannt. Wir warnen aber: mit Gottestreue ist immer auch Systemtreue, Nationalismus, Auserwähltheit, Wahrheitsmonopol, Rechthaberei gemeint. Bekanntlich verflucht Hiob das alles und bleibt doch in diesem Gedankengebäude.

Ganz anders Grünspan: in der Wahl seiner Mittel bleibt er ein Kind der Zeit, ist er der Aktivist des Zeitgeists: statt zu Argumenten greift er zur Pistole. Man muss aber auch seine Lage sehen, er war gerade einmal siebzehn Jahre alt und völlig mittellos. Er hatte nicht nur kein Geld, sondern auch nichts anderes außer sich. Der Inhalt seiner Botschaft, und deshalb wurde sie zum Fanal, ist aber: dass man seine Brüder nicht in die Staatenlosigkeit, Mittellosigkeit, Mutlosigkeit, Lebenslosigkeit schicken kann. Wir kennen heute das Ziel dieser Reise: Auschwitz. Er hat es wohl geahnt.

Wir brauchen nicht nur eine neue Welt, die sich unter unseren Augen nicht von selbst, aber doch von den meisten von uns nicht gewollt, schafft, sondern wir brauchen auch ein neues Gedankengebäude, ein Zelt der Brüderlichkeit, des Zusammenhalts und des Trostes. Ein Trost für die rechtskonservativen Nostalgiker: ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER ist nicht nur die schönste Zeile der Europahymne, sondern auch von dem Dichter, den man im neunzehnten Jahrhundert für den deutschesten der Deutschen hielt: Schiller. Aber er war kein fahnenschwingender Losungsproduzent, sondern ein lebenshungriger Großintellektueller, der größte Stilist deutscher Sprache.

2    [Hiob]

Hiob gehört zu den großen Erzählungen, die uns gleichzeitig bewegen und trösten sollen und auch können. Hiob sieht seinen Erfolg übertrieben groß und sein Leid erdrückt ihn. Sein Erfolg ist – mit Ausnahme seiner Kinder – Haben und sein Leid ist Krieg und Krankheit, also für die Zeit, in der er lebt: Sein. Er findet sich auserwählt für übergroße Not und Ungerechtigkeit. Aber er ist nicht auserwählt. Keiner ist auserwählt. Da er, wie wir alle, alles richtig gemacht hat, trifft ihn jede Strafe zu unrecht. Überhaupt: warum glaubt er denn, dass er bestraft wird. Oder: glaubt nicht jeder an seine Unschuld? Würde jeder die Schuld bei sich suchen, wären die Täter schnell gefunden.

 Jede Strafe ist un[ge]recht. Die spiegelnden Strafen waren bloße Rache, sie vermehrten das Leid, statt es zu vermindern. Auch heute noch glaubt eine knappe Mehrheit, dass Strafe gerecht sei. Daraus, dass die Untat ungerecht ist, folgt nicht, dass die Strafe gerecht sei.  Gerecht wäre vorbeugendes Verhindern der Untat und liebevolle Wiedereingliederung des Täters. Wenn eine Wiedergutmachung am Opfer nicht möglich ist, so erhöht sie doch die Bilanz des Guten in einer Gesellschaft. Das universelle Tötungsverbot muss noch mehr durch   Waffenverbote und -ächtung unterstützt werden. In Europa und Japan nimmt die Zahl dieser Untaten drastisch ab, während sie in Ländern mit Armut und Waffen erschreckend  und fast antik hoch bleibt.

So ist es auch mit dem Lohn, dem Verdienst oder Gewinn, den man sich aus seinen Taten erhofft. Wir würden alle Hiob sozusagen überwinden, wenn wir es verstünden, Gutes zu tun, um es sofort zu vergessen. Stattdessen erwarten wir Dank und Lohn. Es schmerzt, wenn der Verdienst zum Bettler gemacht wird. Aber der wirkliche Gewinn liegt immer im Zugewinn an Seelenfrieden. All die dilemmatischen, schier unlösbaren Probleme der Menschheit, sie nähern sich mikrometermäßig ihren Lösungen, wenn wir anderen helfen, ohne zu fragen und ohne Lohn zu erwarten. Es gibt keinen böseren Verdienst als Finderlohn. Der Lohn der Treppe ist das oben, nicht noch etwas.

 Die höchste Instanz zur Beurteilung unseres Lebens ist Gott, aber er gab uns ein Gewissen. Und deshalb muss ein jeder Mensch mit seiner Schuld leben. Niemand kann sie ihm nehmen und niemand nimmt sie ihm. In den griechischen Tragödien, die zur gleichen Zeit entstanden wie das Buch Hiob, geraten die Menschen unschuldig in Schuld. Auch Hiobs Leid geht auf die Wette Gottes mit seinem Widersacher, dem Satan, zurück, liegt also nicht in Hiobs Leben. Viele Täter erschrecken vor ihrer Untat. Sie wissen nicht, wie sie dazu gekommen sind. Es gibt immer nicht nur einen Grund, warum etwas geschieht. Vielmehr benötigt man, um ein Ereignis zu erklären, mehr Gründe als man je finden kann. Das geht soweit, dass man eigentlich gar keine Warumfragen stellen kann: niemand kann sie beantworten. Zu groß ist die Masse der Gründe und Gegengründe, der Tatsachen und Rechtfertigungen.

 Wir müssen in diesem Geflecht von Taten und Untaten, von Schuld und Sühne leben, wir haben keinen anderen Ort als diese Welt. So gesehen gehören Hiob und Grünspan in die große Reihe der Märtyrer. Das sind Menschen, die standhalten, obwohl sie wissen, dass sie scheitern, unter der Last fremder Schuld zusammenbrechen werden, die     das auf sich nehmen, was andere ganz offensichtlich falsch machen. Aber die anderen sind das herrschende System, sie glauben erst recht Recht zu haben. In diesem Netzwerk von Taten und Untaten hat niemand recht. Der Fehler ist nicht die einzelne Tat, sondern das Bestehen auf ihr, das Rechthabenwollen, gefolgt vom Wahrheitpachten. Dann kommen schon die Kreuzzüge und dreißigjährigen  Weltkriege. Gott ist keine Burg, in der man Recht hat. Gott ist innen, nicht außen.

Das Leben folgt keiner Rechenkunst. Kein Kalkül ist möglich. Während der Pest müssen die Uhrmacher schweigen. Wir werden von dem, was wir Glück nennen, genauso überrascht, wie von dem, was uns Unglück scheint. Jähe Wendungen des Lebens sind genauso wenig vorhersehbar wie lange Strecken der Langeweile. Deshalb brauchen wir Hoffnung, Erzählung, Schlaf, Droge, Ablenkung, Trost. Die Hoffnung wird am meisten kritisiert, manche glauben gar, dass nur Narren hoffen. Hoffen hängt mit Wahrscheinlichkeit zusammen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Lottogewinn ist zum Glück genau so klein wie für den Blitzschlag. Die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass wir jemanden erfreuen können, ist groß, wenn wir nur genug dafür tun. Jeder hofft zurecht, dass er ein besserer Mensch werden kann. Niemand wird zum Narren, der hofft und harrt, erzählt und tröstet, schläft oder sich betäubt, wenn die Schläge des Schicksals zu hart scheinen. Wenn Sinus das Kreuz des Lebens ist, dann ist Cosinus die Lust des Strebens.

Das Leben ist kein Kalkül. Es hat demzufolge mit Zahl und Geld nichts zu tun. Das   Geld ist nur eine Projektion der Zeit, die wir zur Verfügung haben und für etwas ausgeben. Genauso wenig ist das Leben digital abbildbar, wenn uns das auch   Netz und Filme und Spiele immer wieder suggerieren wollen. Das Leben bleibt das Leben aus Fleisch und Blut, fragil, verletzlich, kostbar. Das Leben hat Würde und muss seine Würde behaupten, nur die Dinge haben einen Preis. Die besten Dinge aber sind die Geschenke, die Gaben, die ebenfalls keinen Preis, sondern eine Würde haben. Der schönste Satz, den ein Mensch zu einem anderen sagen kann, ist deshalb: du musst dich nicht bedanken, denn du bist das Geschenk. Das Leben ist kein Kalkül, und das einzige, was keine Inflation hat, ist das Wunder.  

Liebe ist die weiteste und größte Lösung aller unserer Probleme und unseres Schicksals. Sie eröffnet neue, weite Horizonte, weil sie sich anderen Menschen zuwendet.  Wenn die maximale Kommunikation dadurch zustande kommt, dass ein liebendes Paar in einem leeren Zimmer schweigt, dann schließt dies aber auch die gesamte Menschheit aus. Deshalb ist Liebe, wie jeder weiß, mehr als die individuelle Liebe zwischen zwei Menschen. Liebe, die die Menschheit einbezieht, ist Nächstenliebe oder Solidarität. Jedem Menschen ist das Kindchenschema eingeboren, viele haben das Helfersyndrom. Wer kalt ist, wird erfrieren. Wem kalt ist, wird geholfen. So funktioniert Gemeinschaft, ohne die wir nicht sein können. Gehe in ein fremdes Dorf irgendwo auf der Welt: man wird dir Tee bringen und deine Schuhe trocknen! Alles, was du brauchst, um keine Angst zu haben, ist Liebe, aber alles, was du brauchst, um zu lieben, ist, keine Angst zu haben. Liebe ist aber auch geben, ohne nehmen zu wollen. Nicht zufällig stammt einer der schönsten Sätze des Weltdenkens aus einer Liebestragödie: the more I give, the more I have. [1].

 Die tiefste Lösung aber für den Menschen ist der Glaube. Mit ihm und sich ist der Mensch allein. Wir glauben an etwas, das größer ist als wir, und wir bauen Häuser, die mehr sind als Schutz vor Regen und Sonne. Mit dem Tod aber können wir nur leben, weil wir nicht an ihn glauben. Es ist nicht wichtig, wie wir das, woran wir glauben, nennen, wenn es nur größer ist als wir selbst und die Summe von unseresgleichen. Hiob und Grünspan stellen sich einen Gott vor, den es nicht geben kann, der ihr Leben verwettet und verspielt. Das ist menschlich, aber nicht göttlich. Nur Ultraorthodoxe können sich den Teufel als Tatsache, aber den Frieden als bloße Metapher vorstellen. Tiefer Friede kommt aus tiefem Glauben. Das ist die Tiefe des Menschen. Glaube ist immer einsam. Gruppe dagegen ist Therapie und auch oft nötig. Die Frage, ob Hiob wirklich glaubt oder nur aus opportunistischen Gründen seinen Glauben bekennt, ist ebenso unbeantwortbar wie universell und unnütz. Wir wissen letztlich nicht, ob jemand, der sagt, dass er uns liebt, nicht sich und seine Befriedigung meint. Wir müssen es glauben, wir wollen es glauben, wir sollen es glauben. Aber genauso wenig wissen wir, wenn wir annehmen, dass wir glauben, ob wir uns nicht Vorteile bloß von der Einhaltung der Regeln, der Traditionen und Rituale versprechen. Wer – außer Grünspan – wäre kein Opportunist?

 Hiob ist die Parabel für die Inflation schlechter Nachrichten. Aber sind es auch schlechte Dinge? Ist Hiob zum Schluss nicht stark und demütig, und ist freiwillige Demut nicht der Stärke gleichzusetzen? Hiob belehrt uns, aber wir wollen ihm nicht nacheifern, im bösen nicht, aber auch im guten nicht. Aber jeder von uns kennt einen: der den Schmerz ausgehalten hat, der das böse Schicksal angenommen hat, genauso wie vorher das gute. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, der unser Leben verwetten könnte, wenn er wollte, und der den Weg jeder einzelnen Ameise vorbestimmt. Aber wir wissen und glauben, dass es unsere Aufgabe ist, nicht aufzugeben, wieder aufzustehen, dem Nachbarn zu helfen, Gutes zu tun. Es ist gleich gültig, ob wir die Aufgabe als von Gott gegeben annehmen oder mit der Muttermilch der Menschlichkeit in der Vatersprache der Güte aufgenommen oder sogar beides, das ist gleich gültig, wenn wir nur mehr tun als haben zu wollen und sein zu sollen. Wir müssen mehr sein wollen: Geber und Gabe gleichzeitig.

[1] Shakespeare, Romeo and Juliet, 2,2

3 [Grünspan]

Woher wusste er, dass seine Tat schon am nächsten Tag in den Schlagzeilen aller europäischen Zeitungen stehen würde? Die Zeit ist nicht nur manchmal reif für Erfindungen oder Kriege, sondern auch für Fanale. Nicht alle Fanale jedoch werden gehört und gesehen. Sein Fanal ist von den Nazis willig aufgegriffen, von allen anderen, Europäern und Amerikanern, aber ignoriert worden. Die Nazis hatten endlich einen Beweis und die anderen, wer weiß, sahen sich in einem Vorurteil bestätigt. Aber in welchem? Wir alle wissen heute, dass es eine Verschwörung der Menschen aus dem schtetl[1] nicht gegeben haben kann. Vielmehr ist Grünspan ein Vorbote der Schulversagergeneration. Allerdings zählt dazu leider auch Hitler. Während man früher als Schulversager keine Chance hatte, ist das Widersetzen gegen die Welt der Erwachsenen bei manchen ein Synonym für Innovation, die, wie im Falle Hitlers aber auch ein Rückgriff sein kann. Grünspan dagegen wollte ein Signal dagegen setzen, dass der Staat sich das Recht anmaßen kann zu bestimmen, wer wo und wann sein darf oder soll. Die Freizügigkeit gehört zur Demokratie wie die Freiheit überhaupt, die Selbstbestimmtheit und die Intimsphäre. Er sah etwas verletzt, was zum Menschen gehört, aber damals noch nicht Allgemeingut war. Die Länder, die nicht so antisemitisch wie Deutschland und Polen waren, öffneten sich aber auch nicht sofort und vollständig für den zu erwartenden Flüchtlingsstrom, sondern gaben den Deutschen insgeheim Recht: ein Jude aus Polen zu sein bedeutete damals nichts Gutes. Fügt man dann noch Frau und Linkshänder hinzu, werden alle Vorurteile durch den Namen Curie hinweggefegt. Grünspan wollte zeigen, dass es unrecht ist, dass man erst zweifacher Nobelpreisträger sein muss, um überall geduldet zu werden. Dulden ist auch das falsche Wort. Jeder Mensch muss überall ganz selbstverständlich sein, dann wird die Welt bewohnbar. Der Streit zwischen Freiheit und Ordnung darf nicht Menschen opfern. Loyalität schließt den Tod nicht ein. Hätte Grünspan die heute zugängliche Literatur gelesen, so hätte er wissen können, dass in diesem Sinne seine Tat auch ‚falsch‘ war. Selbst wenn Tyrannenmord als Ausnahme vom Tötungsverbot bestehen bleibt, so kann man sich nicht beliebige Projektionsopfer wählen. Töten ist immer falsch, aber die Schuld am Töten kann man jetzt nicht Grünspan aufbürden, der intelligent genug war, aber nicht genug Zeit hatte, darüber nachzudenken. Grünspan wollte nicht gezwungenermaßen staatenlos sein, aber auch nicht freiwillig tatenlos. In bezug auf die Wahl seiner Mittel ist Grünspan ein Opfer des Zeitgeistes, aber für das, was er tat, gehört er auf die Liste der Weltinnovatoren. Grünspan ist der Vorkämpfer gegen jede Willkür der Behörden, die schon Hiob und Hamlet beklagten und die auch heute noch so viel Schaden anrichtet, obwohl die Behörden wissen können, dass sie Diener und nicht Herrscher sind. Auch ist er das letzte mögliche Signal gegen den Racheimpuls, der in jedem von uns als archaisches Element steckt, dem von Goebbels schon einen Tag nach Grünpans Tat brutal und alttestamentarisch nachgegeben wurde, der aber für immer geächtet ist durch die Unverhältnismäßigkeit. Das Leid wird durch Rache immer verstärkt, vergrößert. Dagegen verbessert sich das Gesamtsystem, wenn man etwas für andere tut. Das gilt sogar auch für die Grünspan-Initiative. Denn wir wissen heute, dass man Menschen nicht hindern darf, dahin zu gehen, wohin sie wollen. Leben – und wieviel mehr fliehen – heißt aber immer Risiko. Man kann das Leben genauso wenig optimieren wie Märkte, Regierungen und Wasserströme. Auch dafür ist Grünspan ein Zeuge. Er ging mit fünfzehn Jahren ohne Schulabschluss von seinen Eltern weg und es ist ihm alles gescheitert, außer in die Geschichte als leuchtendes Fanal einzugehen. In dem Punkt ähnelt er Gavrilo Princip. Auf den wenigen Fotos, die es gibt, sieht er nicht glücklich aus. Er ist gerade von der französischen Polizei verhaftet worden. Glücklichsein scheint nicht der Sinn des menschlichen Lebens zu sein, nur zu leben, ohne etwas zu tun, aber auch nicht.

 Niemand von uns kann die Konsequenzen seines Handelns absehen, nur machen die meisten so wenig, dass man die Folgen vernachlässigen kann. Es wäre also fatal, wollte man die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath als voraussehbares Signal zum Holocaust deuten. Also etwa so: Hitler hätte sich nicht getraut sechs Millionen Menschen umzubringen, wenn Grynszpan[2] nicht vorher den Botschaftssekretär erschossen hätte. Das ist absurd, so kann es nicht gewesen sein, vielleicht war es nicht einmal so, dass die Nazioberen auf ein Signal gewartet haben. Dafür dass sie gewartet haben, spricht eigentlich nur der erste September 1939, wo sie den Anlass, das Signal auf perfide Weise selbst geschaffen haben. Auch zum neunten November 1938 kann man annehmen, dass Goebbels nachgeholfen hat, denn der Legationssekretär hatte außer den Schussverletzungen auch eine Krankheit, die er sich durch homosexuellen Geschlechtsverkehr zugezogen hatte. Wenn man ihn sterben ließ, und dafür spricht einiges, hatte man nicht nur einen Märtyrer mehr, sondern einen schwulen Nazi weniger. Indessen war Ernst vom Rath genauso wenig Nazi wie Grynszpan von der jüdischen Weltverschwörung beauftragt.  Vom Rath orientierte sich an seinem Onkel Köster, dem deutschen Botschafter in Paris, mit seiner kritischen Sicht auf die Nazis. Dieser Köster wurde wahrscheinlich von Hitler in Paris belassen, um dem Naziregime einen pluralistischen Anschein zu geben. Später wurde er ermordet. Grynszpan wurde von der Verzweiflung seiner ausweglosen Lage getrieben. Er hatte nirgendwo eine Aufenthaltsgenehmigung. Als er hörte, dass seine Eltern und Geschwister nach Polen ausgewiesen worden waren, kaufte er sich vom ersparten Geld eine Waffe und ging in die deutsche Botschaft. Wahrscheinlich hat vom Rath ihn empfangen, weil er das genau so sah. Grynszpan ist ein Vorkämpfer der Freizügigkeit. Eigentlich wollte er dagegen protestieren, dass seine Eltern in ein Land ihrer Unwahl abgeschoben wurden, er aber nirgendwohin konnte, denn er war auch keine Pole mehr, Deutscher schon gar nicht, in Brüssel zeitweilig geduldet, in Paris illegal. Er war ein Europäer aus Hannover, der sich nach Geborgenheit sehnte, denn als er nach dem Einmarsch der Deutschen zufällig frei kam, begab er sich in die Obhut der französischen Behörden. Er war kein Anarchist. Was mag er dann im deutschen Gefängnis und im KZ Sachsenhausen getan und gedacht haben? Er folgte jedenfalls der Strategie seines französischen Verteidigers, indem er darauf bestand, dass er gar nicht hätte ausgeliefert werden dürfen und dass er vom Rath aus homosexuellen Kreisen kannte. Das rettete ihn vor einem Schauprozess mit Todesstrafe. Rettete ihm diese Argumentation auch das Leben? Vielleicht war es aber noch ganz anders. Grynszpan hatte sich eine Waffe gekauft, um den deutschen Botschafter zu erschießen. In der deutschen Botschaft angekommen, traf er auf Rath, den er kannte und der sich das Leben nehmen wollte, weil er diese furchtbare Krankheit hatte. Rath riet ihm, ihn zu erschießen und den Botschafter zu verschonen. So haben sie beide in einem letzten Einvernehmen ihre Probleme gelöst. Wäre Grynszpan die Reinkarnation von Hiob, so hätte er überlebt. Er wäre vielleicht der US-Finanzminister geworden oder gewesen. Später glaubte er nicht mehr an Fanal und Rache, sondern an Worte. Er sagte zum Beispiel: Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meine. Er war in Satzkonstruktionen geflüchtet, denen niemand folgen konnte und sie deshalb lieber bewunderte als kritisierte. Er hatte erkannt, dass Zinsen, Schulden und Wachstum nicht nur rein quantitative Parameter sind, sondern auch durch die Qualität der dahinter stehenden Leistungen und Waren bestimmt sind. Das alles hätte er nicht wissen können, wenn er nicht an jenem siebten November den Mann erschossen hätte, der erschossen werden wollte, aber damit gleichzeitig das Fanal für die Würde des Menschen geliefert hat. Er war der moderne Hiob, der Hüter der Brüder.

[1] jiddisch für Ghetto        [2] polnische Schreibweise

NEUN KANZLER

Als Kohl Kanzler wurde, gab es viel Spott. Er wurde für einen Provinzpolitiker gehalten, der er auch war. Es gab viele Witze über ihn, zum Beispiel über seine ständige Bevorzugung von Rheinland-Pfalz oder über seine mäßigen Englischkenntnisse. Seine Doktorarbeit in Geschichte hat er über den Kreisverband Ludwigshafen, seine Heimatstadt, der CDU geschrieben, aber nicht abgeschrieben. Aber dann kam die deutsche Wiedervereinigung und alle seine vermeintlichen oder wirklichen Fehler und Gebrechen waren schnell vergessen. Denn er verwirklichte eine Grundintention und einen Grundglauben der CDU, an die niemand, auch er selbst nicht, mehr geglaubt hat, mit einem pragmatischen Schwung und einer geradezu historischen Großzügigkeit, die er dann selbst wie einen Ehrenmantel vor sich hertrug.  

Als Angela Merkel eher unerwartet Kanzlerin wurde, hatte auch sie schlechte Karten. Man hielt sie für eine Emporkömmlingin und für ein Protegé von Kohl, den sie dann auch noch verriet. Die dreißig Silberlinge, so glaubten viele, waren der Parteivorsitz und die Kanzlerschaft. Sie biss eine Reihe katholischer junger Männer weg, die alle von einer Premiumkarriere in der rheinisch-katholischen CDU geträumt hatten. Aber dann kamen die Krisen, die sie meisterte, und der Kandidatenmangel, der ihr nutzte, und Merkel wurde dreimal wiedergewählt. Niemand weiß, obwohl es viele behaupten, ob die CDU durch sie oder nur mit ihr nach links oder in die Profillosigkeit rutschte. Viel spricht dafür, dass die Zeit der Volksparteien, vielleicht überhaupt der Parteien, zuende ist.

Kohl und Merkel starteten jedenfalls mit dem falschen Omen und waren dennoch erfolgreich. Diese Feststellung ist wichtig, weil sie andeuten soll, dass, was wir über Olaf Scholz vermuten, falsch sein kann. The proof of pudding is eating.

Die ersten beiden Bundeskanzler waren im neunzehnten Jahrhundert nicht nur geboren, sondern auch verwurzelt. Adenauer, der schon dreiundsiebzig Jahre alt war, als er mit einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt wurde, war ein – wenn auch bedeutender – Kommunalpolitiker gewesen, der von den Nazis zwangspensioniert und mehrfach kurz inhaftiert wurde. Obwohl er eindeutig ein Pragmatiker war, hatte er dennoch die Vision des Ausgleichs mit dem Jahrhundertfeind Frankreich, der ihm auch gelang. Auf französischer Seite wurde ein General sein Partner, der zweimal gegen Deutschland gesiegt hatte. General de Gaulle, ebenfalls ein Konservativer, war im ersten Weltkrieg in deutscher Kriegsgefangenschaft, aus der er floh, mit dem späteren sowjetischen Marschall Tuchatschewski befreundet gewesen, den Stalin noch vor dem zweiten Weltkrieg wegen seiner überragenden und nicht nur militärischen Fähigkeiten erschießen ließ. Viele ältere Menschen haben als Adenauers größte Leistung allerdings die Befreiung der letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion gesehen, durch die er der erste westliche Politiker war, der offiziell die UdSSR, den neuen Erzfeind, besuchte. Sein Nachfolger wurde sein Intimfeind Ludwig Erhard, der als Wirtschaftsminister als Vater des Wirtschaftswunders und der sozialen Marktwirtschaft gilt. Er hatte über Jahrzehnte einen Beratervertrag mit der von den Nazis enteigneten Philipp Rosenthal AG, was ihn zum Begründer des korrupten Flügels der CDU macht. Ihre Feindschaft war tief und andauernd. Zum Beispiel rüffelte Adenauer Erhard an meinem achten Geburtstag in der Rentenfrage mit einem dienstlichen Brief, in dem er zwei Sätze Erhards zitierte und sagte, dass er sie nicht glauben könne und in dem er Erhard auf seine Richtlinienkompetenz aufmerksam machte. Es ging um die Rentenanpassung als Inflationsausgleich. Weiter ging später nur die Merkel, indem sie ihren Intimfeind Röttgen, der gerade jetzt, nachdem Merkel in Rente ging, sein comeback versucht, in aller Öffentlichkeit aus dem  Amt entfernte. Die Bundesrepublik ist mit den ersten beiden Kanzlern von den Werten her, anders als die DDR, tief im neunzehnten Jahrhundert verankert.

Die nächsten drei Bundeskanzler, Kiesinger, Brandt und Schmidt sind auf unterschiedliche Weise mit der Nazizeit verbunden. Kiesinger war NSDAP-Mitglied und rundfunkpolitischer Mitarbeiter des Reichsaußenministeriums, eine Stelle, die ihm sein Schüler Gerstner verschafft hatte, der später in der DDR Agent und Chefreporter der Berliner Zeitung war. Von links aus betrachtet war Kiesinger nach Bundeskanzleramtsminister Globke und Geheimdienstchef Gehlen der dritte prominente Nazi in der Führung der Bundesrepublik, aber erstens war er wohl nur ein sehr kleines Licht gewesen und zweitens fühlte sich die Mehrheit der Bundesbürger durchaus durch ihn repräsentiert. Ein gewisse Größe muss man ihm sogar zugestehen, weil er die erste große Koalition führte, in der Brandt sein Außenminister und Vizekanzler war. Brandt war denn auch die Wende der Bundesrepublik zu mehr Demokratie und weniger Nazitum. Er war emigriert, arbeitete im Widerstand und als Journalist, war polyglotter Weltbürger und ein wenn auch undogmatischer, so doch lupenreiner Sozialdemokrat. Sozusagen ein Enkel Bebels, der in dessen Todesjahr geboren wurde. Brandt bekam den Friedensnobelpreis für die erfolgreiche Verfolgung seiner Vision des Ausgleichs mit dem europäischen Osten und trat überflüssigerweise wegen einer Spionageaffäre, die ihm Markus Wolf und Erich Mielke eingebrockt hatten, zurück. Sein Nachfolger wurde der ehemalige Wehrmachtsoffizier Schmidt, der später täglich zehn mehrsprachige Zeitungen las und zwar keine Visionen, aber äußerst gediegene Kenntnisse und Fähigkeiten sowie einen hervorragenden praktischen Sinn hatte. Auch er war ein Weltpolitiker und wurde nach Brandt der zweite und letzte elder statesman Deutschlands. Allerdings begann unter ihm das Bröckeln und Auseinanderdriften der SPD. Wahrscheinlich oder möglicherweise war Schmidt gar kein Sozialdemokrat, sondern einfach Politiker oder noch besser: der geborene Chefadministrator. Ohne Wehner, den gewendeten, ehemals führenden Kommunisten, kann man weder Brandt noch Schmidt noch den Zerfall verstehen. Aber er war kein Bundeskanzler, weil er es wegen seiner Vergangenheit nicht hätte werden können.

Die nächsten drei Bundeskanzler kann man als die Nachkriegsgruppe zusammenfassen. Kohl und Schröder stammten aus armen bis sehr armen Familien und entsprachen so dem deutschen Ideal einer Repräsentation der Normalität in den Politikern. Merkel stammte zwar aus dem Mittelstand, war aber aus dem Osten und eine Frau. Unter der neuen Regierung wird Schröders größte Leistung, die Zusammenfassung von Arbeitslosengeld II und anderer Transferleistungen unter dem unglücklichen Namen Hartz IV, Bürgergeld heißen. Aber was ändert das? Dieses Geld soll gleichzeitig Familien ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und den Anspruch auf einen Arbeitsplatz verfolgen. Die Linkspartei, die so vehement dagegen gekämpft hat, ist mit diesem Kampf und ihren ewigen innerparteilichen Querelen untergegangen. Das wäre nicht schlimm, wenn nicht an ihre Stelle, mit einem ähnlichen populistischen Ansatz, nun aber von rechts, eine selbst ernannte Alternative getreten wäre, die zehn Prozent der Wähler fest im Griff zu haben scheint, obwohl sie bisher nicht einen einzigen realistischen oder gar visionären Vorschlag gemacht hat.

Ob Olaf Scholz einst zu einer Gruppe gehören wird, lässt sich selbstverständlich nicht voraussagen. Von der letzte Gruppe trennt ihn seine reine bundesdeutsche Biografie, seine Herkunft aus dem unteren Mittelstand und vielleicht auch sein Beruf als Rechtsanwalt. Seine rhetorische und mimische Unbeweglichkeit kann ein falsches Omen sein. Auf jeden Fall aber ist er mehr Verwalter als Visionär. Allerdings hat er mit Habeck und Lindner zwei durchaus charismatische Partner, die ihn vorwärtstreiben könnten. Der Oberlangweiler Gauland wollte ja einst Merkel jagen, aber leider gelang ihm nicht ein einziger Antrag oder Gedanke und er verfiel der Lächerlichkeit. Deswegen hoffen wir darauf, dass die ganz neuartige Koalition, das erste Mal koalieren drei Parteien, von denen jeweils nur zwei zusammenpassen, sich gegenseitig vorwärtstreiben wird, was wir uns als durchaus positiven, sportlichen Akt vorstellen möchten. Olaf Scholz könnte als ausgleichender Kanzler zweier Charaktere in die Geschichte eingehen. Er hat also nicht nur ein großes politisches Programm vor sich, für dessen Verwirklichung er wiedergewählt werden muss, sondern muss auch neue interne Maßstäbe als Kanzlertyp setzen. Hoffen wir für uns, dass er seinen Kohl-Merkel-Pfad finden wird.

HAUSMUSIK

Gedanken über die Orgel

1

Ein Paradigmenwechsel ist nur insofern ein Ende, als er auch ein Anfang ist. Alles, was früher galt, gilt auch heute, nur mit einer anderen Wertigkeit, in neuen Zusammenhängen. Man kann mit einem Faustkeil oder mit einem Dreschflegel noch genau das gleiche tun wie früher, nur tut man es jetzt wesentlich seltener. Hegel nannte das Aufgehobensein. Das ist auch eine schöne Erklärung für wahren Konservatismus: die Tradition wahren, das Alte aufheben, ohne das Neue zu verachten. Inzwischen ist aber, da wir erkannt haben, dass jede Innovation auch einen neuen Grad von Zerstörung in die Welt bringt, eine neue Denkgröße hinzugetreten: die Nachhaltigkeit, die relativ neue Vorstellung, dass nicht mehr verbraucht werden kann, als nachwächst oder sich regeneriert. So können wir überlegen, ob der Faustkeil in einer semimobilen Brechanlage funktional gut aufgehoben ist oder ob diese soviel Energie verbraucht, wie durch die neue Straße, die mit den gebrochenen Steinen als Unterbau entsteht, eingespart wird. Dann  hätte diese Gleichung eine fette Null als Lösung, das ist der Traum vom Gleichgewicht, aber in Wirklichkeit verbrauchen wir in Deutschland soviel Energie wie ganz Afrika. Das ist ein Verhältnis von achtzig Millionen zu über einer Milliarde Menschen und nicht durch das schlechte Wetter hierzulande hinreichend erklärt. Das ist signifikant nicht nachhaltig, selbst nicht mit Windrädern, denn diese müssen her- und hingestellt und später entsorgt werden, sie beeinträchtigen zudem die Lebensqualität, wenn auch weit weniger als Kohle- oder Kernkraftwerke.

2

Der kleine Kalkant

Die Orgel als Sozialidylle

Erst musste er die Glocken läuten, dann wirkte er als Kalkant an der Sonntagsmusik in seinem Heimatdorf mit. Kalkant, das klingt heute eher nach einem Menschen, der etwas kalkuliert, was wir ja alle tun. Das war aber der Bälgetreter, ein Junge, der vor der Konfirmation, die seine Kindheit im Elternhaus beendete, in der Kirche den Schöpfbalg der Orgel bediente, damit der Lehrer, der auch Kantor war, die Gemeinde begleiten konnte. Vielleicht war der Lehrer auch so gut, dass er jeden Sonntag mit einem Stück konzertierte und brillierte. Zwar brillierte der Kalkant nicht, trotzdem war er unentbehrlich und vergaß auch später nicht, was er da, vielleicht ein bis zwei Jahre lang, getan hatte, wie er glaubte, für Gott, aber, wie wir meinen, auch für die Demokratie, die Kunst und für sein eigenes Verständnis.

Was er nämlich, wenn er diese Tätigkeit beendete, verstanden hatte, war nicht die Musik, die für ihn wahrscheinlich unverständlich bleibende Musiksprache Bachs oder Regers, sondern das Komplementäre seines Tuns: wenn er den Balg nicht trat, konnte der Kantor nicht spielen, spielte der Kantor nicht, musste er auch nicht den Schöpfbalg bewegen. Die Orgeln im frühen neunzehnten Jahrhundert waren alle Meisterwerke der Mechanik. Es gibt einerseits den Weg der Luft von überall durch den Balg in die Pfeife, andererseits den Impuls des Gedankens über die Finger, die Tasten, die Abstrakten ebenfalls zur Pfeife. Dort treffen sich Luftstrom und Gedankenstrom und erzeugen im besten Falle Musik. Die Abhängigkeit des Musikers, der sich als Tastenwanderer und Spintisierer sehen mochte, vom kleinen Jungen, der seine frühe Kraft in den Dienst der Allgemeinheit stellte, diese Abhängigkeit in einem kohärenten System war gegenseitig.

Weil es einem hierarchischen Staats- und Erziehungssystem nicht gelungen ist, den Bälgetreter von der Notwendigkeit und der Sprache dieser Musik zu überzeugen, ist die Luftbeschaffung mechanisiert und die Musiksprache für Bälgetreter krass vereinfacht worden. Zwar gab es auch schon vorher neben der erbauenden die rein unterhaltende Musik und Kunst überhaupt, aber eben daneben und eher als Ausnahme. Die Reproduktionsmöglichkeiten der Kunst und der wachsende Wohlstand führten zur massenhaften Ausbreitung rein unterhaltender Musik, deren Herkunft und Abhängigkeit dem Laien verborgen bleibt, dem Musiker aber eine Selbstverständlichkeit ist: man hört im Jazz den Choral und die Polyphonie, man sieht im Instrumentarium die türkische Militärmusik, zum Beispiel die Percussion, man fühlt in der Klangnachahmung des Synthesizers den Leierkasten und die Kinoorgel. Und die hatte der Dorfschullehrer auch schon erfunden, wenn er den Kindern eine Geschichte erzählte und die dazugehörigen Geräusche auf der Orgel produzierte. Der Lehrer selbst war ein Medium und musste zaubern können.

Aber das sich ergänzende Miteinander bestand nicht freiwillig, sondern in einem autoritären Zwangssystem, auch wenn es den Menschen damals als ganz natürlich und wunderbar erschien. Der Kaiser im Märchen fiel gedanklich mit dem Kaiser in Berlin oder Wien oder Moskau oder Istanbul zusammen!

Man könnte Technik auch immer als den Versuch deuten, menschliche Abhängigkeiten und Kraftverschwendung durch Apparaturen zu ersetzen. Denn der kleine Kalkant war nicht immer zuverlässig, einmal war er krank, das andere mal hatte er seinen komplementären Termin schlicht vergessen, beim dritten Mal musste er zu einem ersten Date hinterm Hollerbusch eilen.

Die heutigen Windmaschinen erzeugen einen gleichmäßig hohen Winddruck. Spezialisten für alte Musik spielen schon wieder an Orgeln, deren Winddruck von speziell geschulten, natürlich nicht mehr halbwüchsigen Kalkanten hergestellt wird. Die heutigen Windmaschinen erzeugen aber auch oft einen Höllenlärm, der gedämpft werden muss oder störend bleibt. Kurz: ein jeder Vorteil bringt auch neue Nachteile mit sich, ein Lehrsatz, den wir allzu gern vergessen. Auch das Fahrrad war einst erfunden worden, um die Abhängigkeit des Menschen vom Pferd zu mildern. In jenem Jahr ohne Sommer, 1816, starben viele Pferde selbst Hungers oder wurden dem Hunger der Menschen geopfert. Während der Freiherr von Drais als Ersatz für das Pferd das Fahrrad ersann, dachte der junge Justus Liebig, später Freiherr von Liebig, schon über organische Chemie und Düngung, zunächst aber über Knallerbsen nach. Ganz sicher arbeitete er auch als kleiner Kalkant.

Was früher als Kraftverschwendung gedeutet wurde, könnte heute in ein Fitnessprogramm einbezogen sein. Man stelle sich diesen Genuss dickleibiger älterer Damen und Herren vor: sie trainieren sich Pfunde ab und wunderbare Musik an, wenn sie als Kalkanten statt als bloße Zuhörer zum Konzert gehen. Danach besteigen sie ein Fahrrad, das nicht durch einen Elektromotor trittverstärkt, sondern durch einen Dynamo ausgenutzt wird. Die so gewonnene Energie wird zuhause ins Mikrokraftwerk eingespeist. Ein Vorgefühl von diesem späteren Glück kann man schon sommers in der Uckermark sehen: so viele Fahrradfahrer eilen zu Orgelkonzerten!

Das gilt alles nur für kleine Dorforgeln und Fahrräder. Die neue Orgel im Dom zu Speyer hat ein offenes 32-Fuß-Register, für das man soviel Wind braucht, dass eine ganze Schulklasse kalkantisch eingesetzt werden müsste. Das Register heißt Contraposaune, sollte aber zu Ehren der Stifter der Orgel, der Fabrikantenfamilie Quandt, in Quandtarde umbenannt werden. Und weil die Familie nicht nur Automobile der Sorte BMW, sondern auch Waffen produzierte und Zwangsarbeiter beschäftigte, regte sich dagegen demokratischer Protest. Alles Gigantomanische ist kontraproduktiv.

Die Dorforgel wäre aber mit ihrem nahen Verwandten, dem Fahrrad, schon von vornherein demokratisch, wenn sie nicht in so undemokratischer Zeit gestanden hätte. Die Renaissance der Dorforgel in Orgelkonzerten und ganzen Konzertsommern ist also nicht nur unserem Dauerwunsch nach Musik geschuldet, sondern auch der Sehnsucht nach einfachen, aber demokratischen Verhältnissen, nach gegenseitigen Abhängigkeiten, die wohltuend solidarisch sind. Viele Menschen glauben sich heute in einer kalten, fremden Welt, weil sie das Solidarsystem genauso wenig wahrnehmen können wie die Winderzeugung beim sommerlichen Orgelkonzert. Eine kleine Orgel ist heute so demokratisch, sozialromantisch, ökologisch und nachhaltig wie ein Fahrrad.

Bleibt nur noch zu hoffen, dass die Glocken von einem einsamen Rentner, der seinen Lebenssinn darin wiederfindet, oder willigen Hartzvieristen, der einen kleinen Teil dessen, was er der Gesellschaft schuldet, zurückzugeben hofft, geläutet werden, und nicht von einer gott- und seelenlosen energieverbrauchenden Maschine.

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In einem winzigen Dorf in der menschenleeren Uckermark wird am Reformationstag 2014 eine neue alte Orgel eingeweiht. Früher, im neunzehnten Jahrhundert, war die Orgel eine Schnittstelle zwischen elitärer Kultur und dem so genannten einfachen Volk. Diese Kultur war nicht insofern elitär, als dass sie niemand hätte verstehen können, sondern in dem Sinne, dass sie, mangels Reproduzierbarkeit, selten zu hören und zu sehen war. Wenn sie allerdings stattfand, waren an ihr mehr eingeborene Personen beteiligt als heute. Wir nehmen einmal an, der Dorfschullehrer von Woddow oder Bagemühl hätte sich zum Reformationstag 1814 vorgenommen, einen Bachchoral aufzuführen. Den kräftigsten Schüler hätte er als Kalkanten eingesetzt, die schönsten Stimmen hätten gesungen. Viele hätten mitgemacht. Mädchen denken immer, dass sie gut singen können, Jungen denken meistens, dass sie es nicht können. In einem Bachchoral gibt es keine Hierarchie, alle Stimmen sind gleichverpflichtet, die Orgel muss so laut sein, dass sie jeder hört, aber so leise, dass sie nicht die zarten Stimmen der angeblich groben Dorfkinder übertönt. Wie sollen die Kinder nicht die Schönheit dieses Chorals empfunden haben? Und wie soll das im Gegensatz zur Kirmesmusik gestanden haben, wie man damals Pop nannte? Nur in einer Hierarchie gibt es oben und unten, gut und schlecht. Nach zwei verheerenden Kriegen, die eine Hierarchie der Nationen stützen sollten, brach die internationale Hierarchie zurecht zusammen, aber nicht Freiheit war das Ergebnis, sondern zunächst Chaos. Vandalismus kann nie Freiheit bringen, aber vielleicht doch Befreiung. Gutshäuser wurden angezündet, Kirchen geplündert. Die Gutsherren und die Kirchenfürsten hatten sich zu sehr ins Zerstörungsgeschäft gemischt. Die Pfeifen der Woddower Orgel, wir wissen noch nicht einmal, wer das Werk einst gebaut hatte, wurden, nachdem sie Kindern zum Gespött dienten, als Altmetall verscherbelt und der Rest als Altholz verbrannt. Die Kirche verfiel, ihr Inventar, darunter ein wertvoller mittelalterlicher Altar, wurde ausgelagert. ‚Ach wie flüchtig, ach wie nichtig…‘ ächzten die Fugen des Feldsteinbaus.

Inzwischen war in Berlin durch denselben Krieg zum fünften Mal jene Kirche zerstört worden, die an der ältesten Stelle dieser nicht so sehr alten Stadt gestanden hatte, die Petrikirche. Aber im Gegensatz zu Woddow kam der Krieg nicht als fremdes unverstandenes Schicksal auf Berlin, sondern er war von hier als böses Schicksal für viele Millionen Menschen ausgegangen. Von der ältesten Gemeinde blieb ein Schutthaufen übrig, aber auch Hoffnung in einem Gemeindehaus. Für den weiteren Verfall wird gerne der durch die Diktaturen geförderte Atheismus verantwortlich gemacht, denn das haben wir alle in Hierarchien und Diktaturen gelernt, dass es leichter ist, von äußeren Ursachen auszugehen. In jeder Schuldzuweisung liegt ein falscher Trost. Zum Schluss wurde auch dieses Gemeindehaus verkauft, so dass, nachdem die Petrikirche einst die größte Orgel Berlins besessen hatte (Carl August und Carl Friedrich Buchholz, IV, 60, 1860), die letzte kleine Orgel heimatlos übrig blieb.

Und man möchte beinahe glauben, dass auf wunderbarem Weg sich diese beiden Geschichten trafen. Die Orgel scheint für die gerettete Kirche von Woddow wie gemacht, hier erst entfaltet sie ihren wahren Klang, ungedämpft durch Querelen und Hölzer. Aber für wen wurde die Kirche gerettet? Zunächst wurde sie für die Retter gerettet, die Bewohner des Palindromdorfes und der umliegenden Orte. Sodann aber auch für willkommene Gäste, seien es Verwandte und Bekannte, Touristen und Migranten. Gerade in diesen Dörfern kamen vor dreihundert Jahren französische Glaubensflüchtlinge an, die vielleicht nicht in jedem Falle willkommen waren, zumindest haben sie selbst auch lange gefremdelt, aber dann haben sie sich so sehr integriert und assimiliert, dass ihre Nachkommen heute noch nicht einmal mehr ihre eigenen Namen französisch aussprechen. Die Uckermark ist also auch ein Landstrich der Migration. Vielleicht sollten wir wieder ausrufen, dass Flüchtlinge, aus welchem Grund und Land auch immer, hier jederzeit willkommen sind. Vielleicht wird Woddow dann die erste Moschee mit einer Orgel, noch besser aber: keine Moschee und keine Kirche, sondern ein Haus für alle Menschen haben. Die einen beten – in welchem Kult und in welcher Sprache auch immer – zu Gott, die anderen beraten, was man Gutes für die nächsten Generationen tun kann. Dann hätte die alte Feldsteinkirche von Woddow dieselbe Bestimmung wie der Ort der Petrikirche, wo gerade jetzt ein Tempel der drei monotheistischen oder abrahamitischen Religionen entsteht, das HOUSE OF ONE. Um die Ecke haben übrigens zwei berühmte Pfarrer gewohnt: Gotthold Ephraim Lessing erdachte dort den weisen Nathan und den weisen Saladin und den weisen Tempelherrn, der aus der Hierarchie aussteigt wie aus einem falschen Mantel, und Johann Peter Süßmilch, der übrigens tatsächlich auch Pfarrer an der Petrikirche war, erdachte dort die Statistik als Beschreibung des perfekten göttlichen Wirkens. Er war nicht nur einer der Begründer der Demografie, sondern auch der erste Denker, der Evolution und Glauben zusammenbrachte, ein gottnaher Mathematiker.

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Die Nachhaltigkeit einer mechanischen Orgel erklärt sich aus ihrem Material, Kiefernholz, Eichenholz, Kupfer, Blei, Zinn und Zink, wie aus ihrer robust mechanischen Bauweise und Zweckbestimmtheit. All das wirkt in Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit zusammen. Eine Orgel besteht sicher hundert und zweihundert, oft dreihundert und vierhundert Jahre. Sie muss allerdings gepflegt und benutzt, gewollt und gemocht sein. Solange die Kirche das Monopol und den Primat im menschlichen Lebenslauf hatte, war also auch die Orgel, wo sie überhaupt vorhanden war, allgegenwärtig. Bis in das Denken und die Sprache hinein war sie zu hören: Kinder wie die Orgelpfeifen, denen man die Flötentöne schon beibringen wird, wo du nicht bist, Herr Organist, da schweigen alle Pfeifen, alle Register ziehen, den Riemen auf die Orgel werfen, die Pfeife spricht oder ist blind, zu der Orgel gehören andere Bälge, draußen orgelt der Wind. Fast jede Orgel hat viele Generationen von Menschen erlebt, fast jede Kirche hat mehrere Generationen Orgeln gehört. Konkurrenz hat die Orgel in dieser Beziehung zum Menschen nur im neunzehnten Jahrhundert vom Harmonium und vom Wohnzimmerklavier bekommen. Ansonsten steht sie einzig da: das Musikinstrument, das die meisten Menschen in vielen Jahrhunderten begleitete. Nachhaltigkeit ist also keineswegs nur eine Materialfrage. Vielmehr kann man von einer Prägung der abendländischen Bevölkerung sprechen. Sprechen die Glocken mehr als Signal, so kann die Orgel Gefühle kommentieren und sogar hinterfragen. Die Symbiose des europäischen Menschen mit der Orgel wies aber auch in die Zukunft:  Jeder kleine aufmerksame Kalkant wusste schon im neunzehnten Jahrhundert, was programmieren ist: eine Melodie oder Harmonie als Software und eine Flöte oder Trompete als grundlegende Hardware zusammenbringen. Dieses Prinzip wurde in der weitgehend verachteten Drehorgel noch weitergeführt, so dass man sagen kann, der Lochstreifen des Zuse-Computers ist die legitime Tochter der Walze von Drehorgeln oder der Lochplatten von anderen mechanisch-automatisierten Instrumenten.

Ist die Musik uns emotional am nächsten, so ist es das Haus rational. Beide treffen sich im Ton. Die mit Abstand meisten Orgeln stehen in Gotteshäusern. Es gab eine ganz kurze Periode von Kinoorgeln, die allerdings schnell durch den Tonfilm abgelöst wurde. Dennoch ist die Verwandtschaft der Kultorgeln in Kirchen und Kinos nicht zu übersehen. Die Allgegenwart des christlichen Kultus erscheint im zwanzigsten Jahrhundert abgelöst durch die Allgegenwart narrativer Medien. Wenn man noch die unvermeidliche Globalisierung hinzudenkt, ist die Angst vor Synkretismus unverständlich bis lächerlich. Alle Reinheitsvorstellungen sind notwendig absurd. Es gibt keine hundert Prozent. Alle Balken brechen nach dem Muster der Eulerschen Knickfälle und alle aufeinandertreffenden Systeme bilden Schnittmengen nach Venn, auch er übrigens ein Pfarrer.

Kultische Häuser sind einerseits Versammlungsstätten, Orte der Gruppen. Andererseits aber zeigt ihre Anzahl, ihr Raum und der Ort, auf dem sie stehen, an, dass sie gleichzeitig Symbole der Transzendenz sind. Jeder Mensch fühlt, dass es eine höhere Kraft als ihn selbst und die Summe von seinesgleichen gibt.  Selbst wenn wir das moralische Gesetz, das Kant unter dem gestirnten Himmel spürte, als Kindchenschema oder gar als biochemische Schutzreaktion der Arterhaltung deuten, ist uns klar, dass dahinter eine höhere Rettungsmacht steht, die sozusagen naturwidrige Wunder vollbringt: der gefürchtete Wolf zieht ein Menschenbaby auf und umgekehrt. Der Wolf löst gleichzeitig Furcht und Nähe aus. So ist auch das Verhältnis von Technik und Leben: sie schließen sich gleichzeitig ein und aus. Heute ist uns erst klar geworden, wer in diesem Wettstreit letztendlich obsiegen wird.  Ganz ähnlich wirken die von uns so genannten Gotteshäuser auf uns, weil wir wollen, dass etwas so auf uns wirkt. Wir spüren Gott, weil wir im gotischen Dom oder in der prächtigen Moschee Gott spüren wollen und sollen, der Architekt baut, was wir alle fühlen. Wir alle fühlen hinter den Feldsteinmauern, die durchaus auch den Regeln von Feuchte und Moder gehorchen, das Übernatürliche.

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Alle Hochrechnungen sind letztlich falsch. Als man von Telepathie träumte, wurde das Telefon erfunden, kurz darauf die die Television. Zwar spinnen wir Luftgespinste (empty visions), wie es in einem der schönsten Lieder heißt, aber selbst der felsenfesteste Fundamentalist wird zugeben müssen, dass doch nicht nur eine erstaunliche Anzahl von leeren Visionen Wirklichkeit wurde, sondern auch auf höchst erstaunlichen Gebieten. So sind wir selbst als Körper hochmobil, aber noch schneller sind unsere Gedanken. In wenigen Sekunden sind sie in Amerika oder Australien. Aber braucht sie dort jemand, fragte schon Samuel Morse?

Je schneller unser Leben zu sein scheint, desto mehr Entschleunigung benötigen wir. Man kann nach Schweden fahren oder in die Feldsteinkirche Woddow gehen, denn alles, was früher galt, gilt auch heute, wenn auch mit einer anderen Wertigkeit.  

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Also, wozu brauchen wir diese Orgel?

So wie das Kreuz die Zusammenführung zweier Linien ist, so ist die Orgel in gewisser Weise ein Symbol für das Abendland, für alles, was gestern war und von dem wir fürchten, dass es morgen nicht mehr sein wird. Unsere eigene Angst vor der Vergänglichkeit, von der die Fugen des Feldsteinmauerwerks singen, wird in der Bewahrung aufgehoben. Unser Leben hat nur Sinn auf andere Menschen hin, so wie wir von anderen Menschen leben, leben wir auch für sie. Wenn wir also etwas bewahren, tun wir es gerade auch für andere Menschen, Generationen und sogar Nationen.

Und obwohl diese Feldsteinkirche, die nach 69 Jahren Schweigen wieder eine Orgel hat, ein doppeltes und dreifaches Symbol für das Abendland ist, ist sie gerade durch ihre Leere, durch ihr Verwurzeltsein im leeren Raum, in einer Landschaft, die nahezu menschenleer ist, offen für alles Neue, ob es nun Flüchtlinge sind oder elektronische Gedankenstützen und Gefühlsreproduzenten. In der Feldsteinkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert wohnte schon immer die Hoffnung und wohnt sie wieder. Nur wenige Touristen eilen durch unser abgelegenes Brüssower Land. Aber wenn in jedem Jahr einer darunter ist, der hier Entschleunigung und Trost findet, Stille und einen neuen Gedanken, dann hat es Sinn gehabt, die Schukeorgel opus 278 aus dem verkauften Petrigemeindesaal der fünfmal zerstörten ältesten Kirche Berlins, dort wo jetzt das HOUSE OF ONE gebaut wird, ganz in der Nähe vom Geburtsort des weisen Nathan,  in das fast schon verlassene Dorf in der menschenleeren Uckermark zu bringen, in die Kirche, die schon aufgegeben und vergessen war, an die Stelle der Orgel, an die sich niemand erinnert…

Jedes Dach ist ein Obdach und jede Melodie ist Heimat.

LIFE IS MY ROOM FROM WOMB TO TOMB

ZWEI BERLINROMANE, DIE KEINE SIND

Jeweils wenige Straßen in Berlin sind die Landschaft von zwei höchst unterschiedlichen Romanen. Beide Bücher wirken eher dokumentarisch, ihre Fiktion tritt hinter der offensichtlichen und meisterhaften Recherche zurück. So kompliziert und novellenhaft die Plots sein mögen, so greifbar, ja fast plakativ sind die Orte der Handlung: die Utrechter Straße im Wedding und das Großgebiet von der Linien- bis zur Rykestraße in Mitte und Prenzlauer Berg. Und die letzte Gemeinsamkeit: beide leiden etwas unter unübersichtlichem Personal, obwohl Seilers STERN 111 einen eindeutigen und sogar autobiografisch gestimmten Protagonisten hat. Allerdings werden in beiden Büchern die Geschichten hinter den Gesichtern bis in die Einzelheiten geradezu entblößt.

Regina Scheers GOTT WOHNT IM WEDDING liest sich wie eine allwissende Reportage über ein durchschnittliches Mietshaus. Der Leser ahnt natürlich, dass vieles schon deshalb Erfindung sein muss, weil kein Mensch alle diese Einzelheiten der Geschehnisse, Geschicke und Gedanken wissen kann. Allzu oft ist der Berliner Arbeiterbezirk als eindeutig definiert dargestellt worden. Das Lied, in dem das festgehalten wurde, wird selbstverständlich auch zitiert: DER ROTE WEDDING MARSCHIERT. Aber schon wenige Jahre danach marschierte der braune Wedding, dann der türkische, dann der studentische. Die Halbwertzeiten halbieren sich, die Botschaften verkommen zu Palimpsesten. Zwei historische Scheusale stammen aus dem Wedding: der wenig bekannte und gut getarnte Spitzennazi Artur Axmann, nach Baldur von Schirach Reichsjugendführer, er war es, der Hitler einen Tag vor dessen Tod noch die letzten verfügbaren Hitlerjungen vorführte, bevor sie zur Schlachtbank gejagt wurden, und der allseits noch erinnerte Erich Mielke. Beide hatten arme Eltern und erhielten deshalb Stipendien, um im Gymnasium lernen zu können. Beide lernten scheinbar nichts, denn auf den plumpen Sozialdarwinismus als Quintessenz ihres Verbrecherlebens hätten sie auch ohne Stipendium kommen können.

Die beiden Freunde Leo und Manfred, dessen Vater der Besitzer des Hauses ist, müssen in den dreißiger Jahren in die Illegalität gehen. Wenn man bedenkt, dass im heutigen Wedding der schöne Satz gesprayt wird KEIN MENSCH IST ILLEGAL, dann kann man daran erkennen, wie langsam die Geschichte fortschreitet, wenn sie überhaupt fortschreitet. Das sieht man auch daran, dass es schon einmal ein Buch über eine Sintifamilie im Wedding gab, nämlich EDE UND UNKU von Alex Wedding, die Vorurteile gegen die Roma, die seit 600 Jahren unsere Mitbürger sind, aber kaum weniger wurden. Wenngleich es auch viele so genannte U-Boote gab, Menschen, meist jüdischer Herkunft, die untertauchen mussten, weil sie nicht mehr fliehen konnten, so zeigt der Roman doch, dass ihre Überlebenschancen höchstens 50:50 waren. Leo überlebt, Manfred wird in einer Falle verhaftet und ermordet. Die in der Gegenwart steinalte, kaum noch bewegliche Frau Gertrud ist mit allen den Schicksalen im Haus und nur wenig darüber hinaus verknüpft. Sie liebte Manfred und er sie, aber beide bemerkten nicht die Falle aus Eifersucht und Antisemitismus. Freiheit und Demokratie haben aber auch Schmuddelecken. So kommt es, dass in der Gegenwart das Haus zum Spekulationsobjekt verkommt. Menschen ohne Genehmigungen leben dort und zahlen an Subsubunternehmer überteuerte Mieten, die ihnen aber keinen vertraglichen Schutz gewähren.

Seilers STERN 111 ist dagegen beinahe ein Entwicklungsroman, denn der Protagonist Carl sucht seinen Sinn, ja sein Leben. Dagegen stellt sich erst am Ende heraus, dass seine Eltern ein Ersatzleben gelebt hatten und ihren wahren Lebenssinn kannten und verfolgten. Dafür ist das Akkordeon zunächst unverständliche Metapher, dann aber naturnotwendiges Attribut eines ungeahnten und ganz unspießigen Lebens.

Es hört sich trivial an, wenn wir verkünden, dass jeder Zusammenbruch einen Aufbruch enthält oder zumindest von ihm gefolgt wird. Aber wir sollten bedenken, dass die Akteure jeweils den Ausgang ihrer Epoche nicht kennen können. Der Untergang der DDR hätte auch ein Orkus werden können, ein Bürgerkrieg unter Beteiligung der Sowjetunion, ein gewaltsam niedergeschlagener Aufstand, an dessen Ende ein schon zerstörtes Land in Chaos versinkt. Erich Mielke hätte die Macht übernommen und aus der biederen DDR ein Nordkorea ohne Ende gemacht haben können. Dass die Staatssicherheit der größte Unsicherheitsfaktor war, weil er auf Misstrauen gründete, zeigte sich in ihrem schmählichen Untergang und in der letzten Rede ihres unsäglichen Chefs aus dem Berliner Wedding. Aber weil das so unglaublich war, glauben es auch wirklich viele Menschen bis heute nicht und vermuten überlebensstrategische Geld- und Menschenströme im Untergrund, wahrscheinlich noch unter der U-Bahn. In den Reihen der Stasi waren sicher Profiteure, die im Untergang gewannen. Aber was haben sie gewonnen? Sie erhielten zum Lohn den Kapitalismus, den sie vier Jahrzehnte lang verteufelt hatten. Dagegen konnte der gesamte Ostberliner Untergrund mit seiner Harmlosigkeit, seiner Originalität, seiner Verschränktheit auf der einen Seite mit der kurz aufblühenden Prostitution, auf der anderen Seite mit der als Ordnungsmacht gedachten Sowjetarmee, deren klägliche Reste für sich zu retten versuchten, was für sie zu retten war. Eine Großmacht erkennt man an ihrem Bruttosozialprodukt, nicht am Militarismus – so verständlich er in diesem Fall gewesen sein mag – und nicht an den Losungen an den Häusern. Denn auch für die gilt unser schöner Satz, dass das Schicksal der Botschaft das Palimpsest ist. Genauso trivial ist es zu sehen, dass im Zusammenbruch eines großen Systems – also Staat, Gesellschaft, Industrie, Bürokratie – konkrete Menschen tatsächlich zusammenbrechen. Die lost people der DDR beziehen heute Hartz IV und wählen AfD, nachdem sie früher DIE LINKE gewählt haben. Aber es gibt diese verlorenen Menschen auch in Bochum und Dortmund, wo das zusammengebrochene System nicht der Staat, sondern die Industrie war.

Menschen aber, die im Zusammenbruch den Aufbruch wagen, werden in dem meisterhaften STERN 111 beschrieben. Zwar sind es nur die linken Chaoten, die Wohnungs- und Hausbesetzer, die Kellergastronomen und SAMISDAT-Schriftsteller, aber der wirtschaftliche Aufbruch folgte auf dem Fuße und verlangte nicht weniger Mut. Das sieht man schon daran, dass die beschriebenen Stadtteile damals alternativ-verfallen und abgeschrieben waren und heute zu den angesagtesten Wohngegenden gehören, das Gebiet von der Linienstraße in Mitte bis zur Rykestraße im Prenzlauer Berg und zur Richard-Sorge-Straße im Friedrichshain. Aber man muss gar nicht die zumeist aus dem Westen stammenden Investoren meinen, sondern vor allem die einheimischen Handwerker und Handelsleute, die aus eigener Kraft zum Aufschwung beigetragen haben, vor allem auch zu ihrem eigenen. Der Roman straft die Jammerer und ihre Parteien Lügen. Er ist ein literarisches Meisterwerk.

Literarisch ist GOTT WOHNT IM WEDDING nicht so überzeugend, wir nannten die Sprache oben schon ‚journalistisch‘. Aber er hat, vielleicht ohne es zu merken, die vielleicht sogar größere Vision zu bieten. In jeder Straße sind die Geschichten der Häuser enthalten und jedes Haus beherbergt die Geschichten der Menschen, die in ihm gewohnt haben, wohnen und wohnen werden. Und da zeigt sich, dass es in einem beliebigen Haus in Mitteleuropa die Vielfalt der ganzen Welt gibt. Es besteht selbstverständlich eine Korrelation zur Größe der Stadt: die Vielfalt nimmt in Abhängigkeit zur Gesamtbevölkerung zu oder ab, wenngleich heute auch viele Dörfer, da sie mehr Wohnplatz als Produktionsort sind, nicht mehr homogen erscheinen. Auch der Berliner Stadtteil Wedding, der früher einmal ein Dorf mit einer heiltätigen Quelle (‚GESUNDBRUNNEN‘) war, hat seine homogene Einfältigkeit aufgeben müssen und dabei gewonnen. Einfalt ist ein gutgemeint-freundliches Synonym für Dummheit. Vielfalt dagegen bündelt nicht nur die Argumente, sondern auch die Kontraargumente, und kommt zu kreativen Synthesen, durch Denken, durch Arbeiten, durch Erfinden, durch Ergänzen und nicht zuletzt durch Heiraten.  Ich lese den Roman als Spiegelbild einer idealen multikulturellen Gesellschaft. Natürlicherweise hat sie Defizite und Inflationen. Damit müssen wir leben. Nicht nur niemand ist perfekt, sondern auch nichts, auch nicht der sympathischste Stadtteil. Und so spannend wie das wirkliche Leben ist auch dieser so sorgfältig recherchierte und komponierte Roman.     

PLOT ODER SPOT?

Da das Land Brandenburg ausgerechnet in der größten Nachkriegskrise, wie Angela Merkel sagte, kein Geld für seine bedürftigen Schüler hat, die ohnehin, also auch ohne Krise, einiges aufzuholen haben, Brandenburg befindet sich im ranking auf Platz 14 von 16 möglichen, da also trotzdem kein Geld da ist, müssen meine Förderschüler vergeblich auf Förderung warten. Am gleichen Tage aber, an dem wir dieses unschöne Ende erfuhren, erhielt ich ein Angebot zur Förderung einer hochbegabten Schülerin, die Tochter reicher Eltern ist. Leider rief am Abend vor dem ersten Unterricht á la Rousseau der besorgte Vater an und teilte mit, dass das Töchterchen sich an der Côte d’Azur eine eitrige Angina geholt hätte und die Förderung fürs erste ausfallen muss. Das Schöne an der Freiheit, dachte ich, ist ja, dass man frei für Neues ist, ich beschloss also, nach Berlin zu fahren und die Straßen aus dem Roman GOTT WOHNT IM WEDDING noch einmal, denn eigentlich kenne ich sie, in der Hoffnung aber, Neues zu entdecken, entlangzugehen. Der Bahnhof war leer, weil kein Zug fuhr, weil die Lokomotivführer streikten. Gut, dachte ich, dann mache ich meine neue Skulptur KÖPFE MIT NÄGELN fertig, fahre zum Baumarkt, um die noch benötigten Hölzer und Metallteile zu kaufen. Immer belästigen uns viele Menschen mit ihrer unsinnigen Ankündigung, dass sie nun aber Nägel mit Köpfen machen werden. Das ist ein Spruch aus der Zeit der handgeschmiedeten Nägel, und wenn es drängte, dann machte der Schmied eben schnell Nägel ohne Köpfe. Dagegen grassieren gerade wieder Ideologien, die nichts anderes können als vernagelte Köpfe zu produzieren, als Bretter an die Stirnen zu nageln, als vorzutäuschen, es gäbe für irgendetwas eine schnelle Antwort oder gar Lösung. Aber mein Auto sprang nicht an. Es wird wohl meine vierte defekte Lichtmaschine innerhalb von vier Jahren sein, obwohl ich ein großer Bewunderer von Werner von Siemens bin. Ich rief einen meiner vielbeschäftigen Söhne an, aber die beiden bodenständigen Söhne hievten gerade einen neun-Meter-Balken auf ihre Feldsteinscheune. Ich würde also mit dem Bus nach Hause fahren müssen und das Auto zunächst hier stehen lassen. Auf der Vorderseite des Bahnhofs kontrollierten drei Bundespolizisten, der vierte wartete im Auto mit laufendem Motor, einen tätowierten Punk. Aber in seinem Ausweis stand wohl nicht, dass er ein Verbrecher wäre, deshalb verschwanden die drei Polizisten in der Bahnhofshalle mit den automatischen Schwingtüren. Aber in dem Moment flog (flog?) ein Eurofighter Typhoon über den Bahnhof genau auf der Strecke, in vielleicht zwanzig bis dreißig Metern Höhe, mit vielleicht 2.400 Kilometern pro Stunde, weswegen uns die Bezeichnung ‚fliegen‘ zweifelhaft erscheint. Der dritte Bundespolizist rannte aus der Halle zurück nach draußen und fragte: WAS WAR DENN DAS?  Der Punk merkte, wie recht Hamlet hatte, als er sagte, dass es eben mehr Dinge als Bundespolizei und Schulweisheit gäbe.

In der Bushaltestelle wollte ich mein neues Buch zu lesen beginnen, es ist wirklich neu, denn es erhielt im vorigen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse, zurecht, wie ich schon auf der ersten Seite bemerkte. Weiter kam ich nicht, denn neben mir debattierten zwei stockbetrunkene ältere Männer, wo sie nun trotz des Streiks noch hinfahren könnten. Der eine Mann schlug vor, die drei dreiköpfigen tschetschenischen Familien, die auf dem übernächsten Bussteig lautstark aufmarschiert waren, mit einer Kalaschnikow zu erschießen, wenn man eine hätte. Diese Notwendigkeit oder Möglichkeit bestritt der andere vehement, gleichzeitig betonend, dass er schließlich nicht aus der DDR stammte. Daraufhin begann der erste ältere betrunkene Mann BAUAUFBAUAUF FREIEDEUTSCHEJUGEND BAUAUF zu lallen, was die Tschetschenen stark verunsicherte, vielleicht, weil es Erich Honeckers Lieblingslied war. Aber sehr wahrscheinlich kannten sie Erich Honecker gar nicht und Putin und Ramsan Kadyrow reichen ihnen als Gewaltherrscher. Warum sie aber, obwohl in Deutschland geduldet, kaum Anzeichen von Anteilnahme, Interesse oder gar Mitarbeit zeigen, das bleibt uns ein Rätsel.

In dieser Betrachtung störte mich ein nicht mehr ganz junger, aber keinesfalls alter Mann, vielleicht höchstens Mitte dreißig. Er hätte, sagte er, schon seit zwei Stunden am Bahnhof auf einen Zug gewartet, suche nun aber den Bus nach Neuruppin. Den gibt es nicht, erwiderte ich wahrheitsgemäß, aber das konnte und wollte er nicht fassen. Ich glaube zwar, dass er Neustrelitz meinte, aber dorthin gibt es auch keinen Bus. Es stellte sich heraus, dass er nicht etwa ein verirrter Reisender war, sondern hier in dieser Stadt beheimatet. Und plötzlich stellt er fest, dass es keinen Bus nach Neuruppin gibt. Am liebsten hätte ich ihn zu dem beschränkten Schulrat geschickt, der Förderstunden für Brandenburger gestrichen hat.

TRANSIT IN EBERSWALDE

Am schwersten ist es beim Schreiben, die Beweglichkeit der Welt und der Menschen einzufangen. Leichter ist es, die Welt so zu beschreiben, als wäre sie ein Gemälde von Pieter Brueghel. Diese bewegliche Beschreibung nannte Michail Bachtin den polyphonen Roman und in diesem Roman tritt jedes Wort in Dialog mit dem Leser. Bachtin wurde von Stalin verbannt und schrieb als Buchhalter und später deklassierter Lehrer an einem Lehrerbildungsinstitut seine bahnbrechenden Werke. Sein Schicksal und seine Bedeutung sind gut mit Lew Theremin oder dem Raketenkonstrukteur Koroljow vergleichbar, die sogar in GULAGs verbannt wurden.

In brennender Hitze bietet eine im Innern dunkle neogotische Kirche Trost und Erfrischung, die sogar – wie sich gleich zeigen wird – in Erbauung überführt werden kann. Eberswalde ist die einzige städtische Siedlung in Preußen, in die im achtzehnten Jahrhundert Schweizer Religions- und Wirtschaftsflüchtlinge gelangten. Die meisten bevorzugten Dörfer, wie zum Beispiel Linow bei Rheinsberg (‚Ruppiner Schweiz‘) oder Nattwerder, heute ein Stadtteil von Potsdam. Eine der Linower ähnliche Fachwerkkirche mag am Eberswalder Markt gestanden haben. Sie wurde baufällig und im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts durch einen bemerkenswerten Neubau ersetzt. Zwar wurde der Entwurf des Wettbewerbssiegers nicht verwirklicht, er stammte von dem Schöpfer der Hartungschen Säulen, die in Berlin Verkehrsgeschichte geschrieben hatten, aber die gebaute Kirche ist heute dennoch ein, wenn auch makelhaftes, Kleinod. Denn sie wurde im zweiten und letzten Weltkrieg hart getroffen. Die Antifa-Jugend führt deshalb an einer Mauer in der Eisenbahnstraße einen Graffito-Kampf gegen die Fa-Jugend: wurde Eberswalde wie Anklam und viel früher Freiburg im Breisgau durch die Nazi-Luftwaffe oder durch allied Aliens zerstört? Heute, nach gelungener Wiederaufbauarbeit, stellt sich allerdings auf der Website der Kirchengemeinde die Frage nach der Zukunft. Die wenigen Beter benötigen in der Innenstadt noch nicht einmal eine, geschweige denn zwei große und schöne Kirchen.

In der Kirche befinden sich äußerst freundliche Einladungen zum Verweilen, auf denen mehrfach betont wird, dass man nicht verpflichtet ist zu spenden oder sich taufen zu lassen. Auch die Adresse der Wiedereintrittsstelle fehlt dankenswerterweise. Stattdessen hört man leise Musik, die sich zunächst wie ein einzelnes und auch einstimmig gespieltes Orgelregister anhört. Aber von der architektonisch interessanten Eule-Orgel auf der Empore kann die Musik nicht kommen. Da immer noch der dunkle Kirchenraum dominiert, verzögert sich die Analyse der mysteriösen Musik. Sie könnte von einem Theremin stammen, dem ersten elektronischen Musikinstrument, lange vor der Hammond-Orgel. Zusammen mit seinem Erfinder war es lange verschollen und vergessen. Nun klingt es wie ein klagend verflötetes Flageolettcello und ganz entfernt auch nach einer frühen Hammond-Orgel. Auf dem Büchertisch liegt, passend zur Herkunft der Kirche, Anna Seghers‘ Roman TRANSIT. Wer zu lesen beginnt oder sogar bis zuende liest, wird höchst erstaunt sein über die Aktualität eines über achtzig Jahre alten Buches:

„Und selbst wenn von diesen Unzuständigen einige sich bis hierher gerettet hatten, an Leib und Seele noch blutend, sich in dieses Haus hier doch noch geflüchtet hatten, was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“

Der Roman beschreibt in geradezu filigranen Winkelzügen die immer wieder verhinderte Abfahrt nicht nur des namenlosen Protagonisten, sondern ganzer Heerscharen ungeduldig Wartender. Die Bürokratie, einst geschaffen, um die eigenen Leute zu schützen, erweist sich als die größte Hürde bei der Rettung von Menschen. Im Altarraum tauchen nun plötzlich Inge Keller und Jürgen Holtz auf, zwei gendervertauschte Uraltgreise, die das sechsundsechzigste Sonett von Shakespeare tänzeln:

„…und hohles nichts nur hochgezoomte tollerei / und reinste treue ohne glück in schwur und zwist / und goldne ehre ganz beschämend deplatziert / und mädchentugend hingeworfen zum verhuren / und rechte perfektion als schaden vorgeführt / und kraft springt hinkend aus den guten spuren / und kunst wird mundtot durch autorität / und die gelehrte narrheit kontrolliert den sinn / und simple wahrheit ist zur dummheit umgedreht / und güte vom bösen boss gefesselt als verbrecherin…“

Das sind zehn böse Unds, von denen so viele glauben, dass sie erst in der neuesten Neuzeit gälten. Davon handelt der Roman. Er gibt detailliert Auskunft über menschliches und unmenschliches Verhalten an einem Staudamm der Gefühle. So viele Menschen fliehen vor dem Bösen und landen in der Dummheit oder Verbohrtheit. Dabei ist es gleichgültig, wovor man flieht, denn der Fliehende hat abgeschlossen mit seiner Vergangenheit, die er nur mit seinem Gesicht mit sich durch die Welt trägt. Erst jetzt erschließt sich: das Buch stammt von der ersten Dichterin der bürokratischen Diktatur des Proletariats. Honecker, so könnte man denken, schaltet seine aus Westberlin importierten Pornofilme auf Pause und liest dieses Buch. Es ist unvorstellbar. Sie, die Dichterin, kam fünf Jahre vor ihrem Mann aus dem mexikanischen Exil und reihte sich ein in die erzwungene Arbeitereinheitsfront, besah sich Schauprozesse gegen ihre Freunde, schwieg zu Ausbürgerungen und Zuchthausstrafen und genoss ihren Ruhm. Sie war neben dem frühverstorbenen Brecht die einzige Weltliteratur in unserem kleinen verfluchten Land, mit immerhin drei Büchern, von denen im Osten nur Das siebte Kreuz Kult war, und das auch nur in der Anfangszeit. Am Ende ihres Lebens, das ihr wie ein Wartesaal in Marseille vorkam, soll sie nur noch betrunken gewesen sein. Aber vielleicht ist das auch nur ein böswilliges Gericht.

PALIMPSEST IST DAS SCHICKSAL ALLER BOTSCHAFTEN.

Ein polyphones Gewirr von Bleibenden und Fliehenden, die sich untereinander und gegenseitig behindern, verspotten, betäuben und helfen. Die Geschichte ist ganz und gar unideologisch. Kommunisten spielen in ihr eine geringere Rolle als etwa die Frau, die zwei Doggen in Pflege nimmt und dafür ein Einreisevisum erhält. Der mexikanische Konsul, den es wirklich gegeben hat, kommt öfter vor als alle Nazis und spanischen und italienischen Faschisten zusammen. Und obwohl das zum Zeitpunkt der Niederschrift und der größten Rezeption gar nicht absehbar war, kann man heute sagen: und so ist es auch. Der gutwillige Konsul ist der Pate des Europas geworden, von dem die damaligen Flüchtlinge träumten. Aber Europa konnte erst gut werden, nachdem Millionen Menschen flohen, ermordet wurden und Krieg führten, nachdem im kalten Krieg das alles noch einmal, aber eher theoretisch durchgespielt wurde, wenn auch eine Mauer zu Flucht und Jagd und Ermordung verleitete.

„…Vergangenheit und Zukunft, einander gleich und ebenbürtig an Undurchsichtigkeit, und auch an den Zustand, den man auf Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart…“

Der heiße Tag ging zuende. Leider spielte niemand auf der schönen Orgel oder auf dem Theremin ‚Abend wird es wieder‘ oder ‚Der Mond ist aufgegangen‘. Stattdessen schob sich durch die quietschende Nordpforte ein kranker Nachbar aus dem Lied und aus der Stadt in die dunkle Kirche, die nur durch ihre Freundlichkeit erhellt war. In Wirklichkeit aber kam er aus dem Transit, das in seinem Land መተላለፊያ hieß.  

Er war in dem Krisenjahr 2015 über das Mittelmeer zu uns gekommen und der Fahrschullehrer mit der schmutzigen Schaufensterscheibe hätte nur das Buch lesen müssen, das in der Kirche der Schweizer Migranten ausliegt. Aber lag es damals schon aus? Oder liegt es erst aus, seitdem die neuen Migranten kamen? Er hätte es, wann auch immer, lesen können: „…was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“  Der Junge war also durch den höllenheißen Sudan gekommen, das ging noch, durch Libyen, das war die Hölle, auf einer Schaluppe über das Mittelmeer, dort lag er fast die ganze Zeit auf dem Boden, weil er der kleinste war, dann von der italienischen Polizei mit Latexhandschuhen hart angefasst, dann durch Italien, in Mailand hat ihm eine Dame ein Frühstück in ihrer Wohnung gemacht, in Paris gab es eine Frühstücksstube kostenlos, in Aachen stand ein mürrischer alter Mann bereit, der ihn in sein Auto lud, damit er sich ordentlich bei der Polizei melden konnte, dann kam er nach dem unaussprechlichen und unsäglichen Eisenhüttenstadt, wo sie keine Flüchtlinge mochten, obwohl so viele Wohnungen leerstanden und auf den Spielplätzen nur Hunde kackten und keine Kinder spielten, dann lernte er Deutsch, dann bekam er sein erstes Praktikum, seine erste Arbeit, wurde wegen Corona gefeuert, sie feuern immer die schwächsten zuerst, hire and fire only the poorest, dann bekam er eine gute Arbeit, er ist aber auch sehr fleißig und sehr freundlich. Nun ging er daran, seinen zweiten Traum zu erfüllen. Der erste Traum war eine kleine Wohnung, die hatte er als WG, zusammen mit seinem Freund in einer winzigen Zweiraummansarde, die Möbel stammten von einem alten Mann, der einsam im Pflegeheim gestorben war, dessen entfernte Verwandten aus dem noch entfernteren Schwerin hatten im Kaufland annonciert: Möbel zu verschenken und eine Gitarre. Und der zweite Traum war die Fahrschule. Auch hier ging zunächst alles gut. Er bestand auf Anhieb die Theorie, fuhr leidlich gut, gut, alles verstand er dann doch nicht, es dauerte etwas länger, aber seine Freunde erzählten ihm, dass es bei ihnen auch so war. Doch dann häuften sich die Beschimpfungen des Fahrschullehrers mit der schmutzigen Schaufensterscheibe. Seine Tiraden wurden so schmutzig und gottverlassen wie sein Schaufenster. Jedenfalls kündigte der Junge, nachdem er so viel Geld bezahlt hatte. Der Fahrschulbesitzer mit der schmutzigen Scheibe und Seele verhinderte aber ein halbes Jahr lang, dass der Junge, der inzwischen ein junger Mann geworden war, sich in einer neuen Fahrschule anmelden konnte, indem er ihm seine Unterlagen, den Nachweis, dass er gefahren war, vorenthielt. Und der Grund war vielleicht gar nicht einmal, dass er ihm schaden oder sich rächen wollte. Der Grund war vielleicht, dass die Kladde, die Unterlagen, mit der Hand geschmiert, von Schmalzstullen besudelt, gar zu unordentlich für einen deutschen Fahrschullehrer waren, der noch dazu eine stadtbekannte schmutzige Schaufensterscheibe hatte.

Stand das nicht alles schon in dem Buch? Stand da nicht, dass das Leben wie eine Flucht ist, die Gegenwart ein Transit zwischen Vergangenheit und Zukunft? Und dass Transit ein Auf und Ab, eine ewige Sinuskurve, ein Kreuz ist, das du tragen musst?

Eigentlich ist die dunkle Kirche der einstigen Schweizer Migranten, die längst vergessen und verwest sind, auch ein Transitraum, für jene zumindest, die daran glauben, dass es irgendwie weitergeht. Und, sagte der weitgereiste junge Mann, irgendwie muss es weitergehen, schön, dass wir sprechen konnten und dass es einen so schönen Raum zum Sprechen gab.  

Eberswalde 13.7.2021