KEINE BLEIBENDE STATT

Nr. 392

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD. Beethoven an Struve

Die frühen Höhlenmalereien sind nicht nur der Beginn der Kunst, sondern auch der Religion und der Medien. Wahrscheinlich ging es nicht darum, die Technik der Jagd weiterzugeben, sondern den Mut, den es braucht, um die Mitmenschen über den Winter zu bringen. Aber wenn das Bild gemalt ist und wenn es hunderte, tausende Jahre zu sehen ist, verwechselt man es leicht mit der Wirklichkeit. Die Welt ist nicht logisch, aber wir verstehen nur, was auch verständlich ist. Hegels Versuch, die ganze Welt in zwanzig Bände Gesamtausgabe zu pressen und damit zu zeigen, dass es immer aufwärts geht und einen Endpunkt erreichen wird, musste scheitern, sein Einfluss bleibt bedeutend.

Wenn wir Hegels berühmten Satz, dass der Unwissende unfrei ist, weil er die Welt nicht gemacht hat, umdrehen, dann ergibt sich ein Missverständnis unserer Zeit: wer alles sozusagen weltweit kommentieren kann, glaubt auch, alles zu wissen und alles verändern zu können. Warum soll ich deinen Vätern mehr glauben als meinen? So ist es aber nicht.  Die Welt ist nicht logisch und sie ist auch nicht immer verständlich. Wenn sie auch immer mehr, fast inflationär, aus Artefakten zu bestehen scheint, aus menschengemachten Dingen, die wir auch alle für Güter halten, für käuflich, so trügt hier, wie so oft, der Schein.

Wir können uns die Welt, in der wir leben, nicht aussuchen, und sie ist auch nur zu einem äußerst geringen Teil menschengemacht. Das Haus, in dem ich lebe, ist der Natur abgetrotzt, es besteht aus natürlichem Material, Ton, Holz und Metall, seine Statik wird den Winden und Wassern nur solange trotzen können, wie wir sie stützen. Unsere Freiheit, die tatsächlich vom Wissen abhängt, besteht darin, dass wir den Ort wechseln können. In diesem Spannungsfeld müssen wir leben: den Umständen trotzen oder weggehen. Normalerweise werden die Migranten beschimpft: und die AfD irrt, wenn sie glaubt oder propagiert, nur Migranten mit einer anderen Kultur seien unwillkommen. 1945 wurden auch die eigenen Landsleute, die aus dem ehemals deutschen Osten flohen, als ‚Zigeuner‘ beschimpft, dem damals gängigen Pejorativ für angeblich Heimatlose. Bei Angermünde gibt es einen kleinen Wohnplatz, an dem es genau andersherum war: es wurden die mit vermeintlichen Schimpfwörtern belegt, die blieben. Vor den herannahenden russischen Armeen wichen ganz viele Menschen zurück, manche blieben, und ihre Häuser wurden von Panzern überrollt. An diesem kleinen Wohnplatz bauten sich die Menschen, um bleiben zu können, kleine Rundhütten, die von den zurückkehrenden Feiglingen dann – gelebter Rassismus im Angesicht seines totalen Scheiterns –  mit der als Herabwürdigung gemeinten Bezeichnung ‚Afrika‘  belegt wurde. Die Menschen, die noch heute da leben, sind aber im Gegenteil und zurecht stolz auf das Prädikat ihres Beharrens.

Wir können uns die Menschen, mit denen wir leben, nicht aussuchen. Das wird von vielen Zeitgenossen vehement bestritten. Wir können uns unsere Eltern, denen wir so sehr vertrauen müssen, nicht aussuchen. Aber auch unsere Kinder sind nicht unsere Kopien. Partnerinnen und Partner werden nach tief eingeprägten Mustern gesucht und gefunden und verlassen. Schulklassen, Kollegien, Reisegesellschaften, Einwohner eines Ortes – all das sind zufällige Cluster. Wäre es anders, gäbe es keine Liebe auf den ersten Blick, kein Kindchenschema, keine Menschlichkeit, kein Vertrauen. Denn wir vertrauen sehr wohl Menschen mit anderen Vorvätern ungeachtet ihrer Herkunft aus Nation, Religion oder Kultur, wenn wir sie nur eine Weile beobachten, mit ihnen zusammenleben, sie schätzen lernen können und wollen. Und immer wieder – wer könnte es sich aussuchen – beendet der Tod liebgewonnenes Vertrauen und Verhalten und Verhältnis. Ist es nicht offensichtlich, dass selbst die Heiratsformel lautet: bis dass der Tod euch scheidet?

Wir aber suchen eine Welt, die wir selbst gemacht haben, Menschen, die wir uns angeblich aussuchen können, Häuser, die nicht einstürzen, Blumen, die immer blühen, Erdbeeren und Spargel, die immer wachsen und sich selbst ernten. Wir suchen Sicherheit statt Liebe. Aber so gesehen ist die Welt wie ein Dorfkonsum im alten Ostblock: das eine gibt es gar nicht, das andere die Fülle, und wir fragen immer nur nach dem, was es nicht gibt.

Vielleicht gibt es Zeiten im menschlichen Leben, in denen wir akzeptieren, was ist, und andere, in denen wir aufbrechen, und nur, wer weise ist, erkennt den Unterschied. Der Trost ist doch in jedem Fall: nichts bleibt, wie es ist, und wir wünschen uns oft das Gegenteil: dass es so bleibt oder aber dass es nicht so bleibt.

Die Hegelsche Hybris, dass man nur wissen muss, um die Welt zu erschaffen oder die Resignation in der Vorbestimmung des Augustinus oder Calvins – aus der nach Max Weber der Kapitalismus entsprang – mögen die Eckpunkte menschlichen Denkens und Fühlens sein. Tatsächlich ist der Mensch hin und her geworfen zwischen Angst und Tat. Fliehen wir in die Tat, so bleibt für die Angst weniger Raum. Leider gilt das auch umgekehrt: fliehen wir in die Angst, so wird es eng für die Tat, weil Angst lähmt, das Tun aber befreit, wenn es mit Denken auf Veränderung verknüpft wird.

ES GIBT NICHTS GUTES

Nr. 267

Sechster Hauptsatz:

Es gibt nichts Gutes,

außer man tut es.

Erich Kästner

 

 

Dieser bestechend kurze, konsistente und prägnante Satz, der nur aus acht Wörtern in einer symmetrischen Konstruktion besteht, weist uns auf zwei Hauptfehler menschlichen Lebens hin und gibt gleich noch zwei Richtungen für unser moralisches Handeln vor, hat also bei einer minimalen Form ein Maximum an Inhalt. Er kann auch rhetorisch als Vorbild dienen.

I

Zunächst richtet er sich gegen unsere Neigung, anderen die Schuld zu geben und wieder  andere vorzuschieben, weil wir angeblich nicht in der Lage sind, dieses oder jenes zu tun. Nun sind wir ja tatsächlich nicht zu allem fähig. Wir brauchen also die Gemeinschaft, die anderen, um durch die Fährnisse des Lebens zu gelangen und um das Leben, da wo es nicht schwer ist, zu genießen. In eine funktionierende Gemeinschaft kann man aber nur mit Taten eintreten, die anderen helfen oder die andere erfreuen. Auf Dauer nur Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist nur wirklich Hilfsbedürftigen erlaubt und muss ihnen erlaubt bleiben. Daran zeigt sich gerade die Stärke einer Gemeinschaft, wieviel Hilfsbedürftige sie durchzubringen vermag. Merkwürdigerweise ist es nicht eine der großen Religionen, die uns hier die praktikabelste Hilfe an die Hand gibt, sondern es sind die von Lord Baden-Powell gegründeten boy scouts, die die einfachste Spur gelegt haben: wenn du jeden Tag eine gute Tat vollbringst, kannst du nichts falsch machen. Es ist natürlich erlaubt, mehr zu tun, aber man muss sich auch nicht übernehmen. Hielte man sich tatsächlich an die Regel, So würde man im Jahr 365 gute Taten vollbracht haben, im Leben, bei neunzig Lebensjahren, immerhin  32.850 gute Taten.

II

Eine andere Hauptschwäche von uns Menschen ist es, Situationen zu zerreden. Natürlich kann man auch Ereignisse zertun, und das wird auch häufig getan, aber am meisten werden sie zerredet. Wer jetzt daraus einen Angriff auf die Demokratie vermutet, irrt. Denn zunächst ist das Redenkönnen eine große Gabe. Wir interpretieren die Makrowelt und wir deuten die Mikrowelt, wir blicken vor unsere Haustür genau so wie auf andere Kontinente. Mit vermehrter Freizeit und verbesserten kommunikativen Hilfsmitteln können wir unseren Blick erweitern, vertiefen und schärfen. Allerdings liegt hier auch die Gefahr der Verwechslung: mancher hält das Mittel für den Blick, das Medium schon für die Botschaft (MacLuhan). Indem wir reden, können wir Aktionen vortäuschen und imaginieren. Das beruhigt unser Gewissen, aber es ist noch nichts getan. Die Ritualisierung, zu der wir naturgemäß auch neigen, erleichtert uns das wegschauen, die Ausrede: ‚Wir haben zu tun‘. Zur Ritualisierung und zur Überinterpretierung gehört allerdings auch der Alltag. Die Kraft, die unsere Vor- und Nebenfahren in den ärmeren Gegenden und Zeiten für die Nahrungsbeschaffung brauchten, geben wir für Ritualisierung, Verwaltung und Rechtfertigung aus. Das wird sich auch weder ganz vermeiden noch grundsätzlich verbessern lassen, aber wenn wir uns wenigstens beim Zerreden erinnern würden, was wir tun sollten und was wir auch tun wollten, dann wäre schon viel getan. Dieses zerreden kann gemeinschaftlich stattfinden, und dazu bietet die Demokratie, deren Alternativen wir im Moment alle aus gutem Grund ablehnen, einen schönen Nährboden, es kann aber auch ein Zergrübeln im eigenen Kopf sein. So etwas macht krank oder Literatur. Die Mahnung gegen das Zerreden ist also auch ein individuelles Heilmittel.

III

Zu tun haben wir, so suggeriert uns völlig zu recht unser Satz, das Naheliegende, das, was jetzt und hier zu tun ist. Man kann viele Witze darüber machen, was wohl das Richtige sein mag [wenn du an einer Weggabelung stehst, wähle den richtigen Weg], aber das ist auch nur wieder bewusste Fehlinterpretation. Denn sowohl die Menschheitsgeschichte als auch die Geschichten, die großen und kleinen Erzählungen geben uns so viel Beispiele des Guttuns, dass wir in uns ein Navigationssystem zu errichten vermögen, das wir Moral nennen können, Religion, Goldene Regel, guter Pfad, Säulen, Fundamente, die Hauptsache ist, dass wir so oft wie möglich so viel wie möglich Gutes tun. Denn die Male, die wir das Gute nicht getan haben, wo wir es hätten tun können oder sollen, belasten unser Gewissen, die Kehrseite unserer Navigation, so stark, dass diese dann aber auch wieder angetrieben wird. Unser Versagen darf uns nicht vernichten. Wir müssen uns immer wieder und so schnell wie möglich aufrichten. Deshalb ist die Einteilung der Menschen in Gewinner und Verlierer nicht nur falsch und entmutigend, sondern sie würde, konsequent angewandt, uns alle zu Verlierern machen. Viel einfacher und viel erfolgbringender ist es, sich den sechsten Hauptsatz über die Tür zu nageln und sich so oft wie möglich, mindestens aber einmal pro Tag, nach ihm zu richten. Wer das schnell wieder vergisst, sollte sich vom nächsten boyscout, den er etwa auf dem Markt trifft, dessen Halstuch geben lassen und es mit Knoten versehen als Erinnerungsstütze benutzen. [nicht vergessen: für das Halstuch eine Spende zu überweisen!]

IV

Die Arbeitsteilung, der dadurch erreichte Wohlstand, der Sozialstaat, die Spendenfreudigkeit, das alles bringt uns dazu, weniger zu tun. Es reicht für viele und vielleicht für immer mehr, zu gaffen, zu konsumieren, zu lamentieren, glaubt man. Denn blickt man in die alten Bücher, dann liest man dort die gleichen Klagen. Es liegt also in der Natur des Menschen, tun vorzutäuschen, Täter zu verurteilen, über die Untaten der anderen herzuziehen, das eigene Nichttun zu verharmlosen und zu rechtfertigen, sich in der Masse der Nichttäter oder gar Untäter zu verstecken, mit den Achseln zu zucken, sich zu ducken anstatt sich zu recken. Solange wir reflektieren, reflektieren wir auch darüber.

Wie freuen wir uns, wenn jemand zu uns sagt: dich schickt der Himmel. Also sollten wir doch versuchen, immer so zu handeln, als schickte uns tatsächlich der Himmel, das Gute, das Richtige, das Notwendige. Natürlich sind dabei viele falsche Wege, Rückschläge und Fehler möglich. Bei deren Analyse darf man sich auf keinen Fall so lange aufhalten, dass man die nächste Tat verpasst, nicht die nächste mögliche, sondern die nächste notwendige, für uns unumgängliche. Aber man muss, auf der anderen Seite, nicht suchen. Es gibt so viel zu tuendes, dass man fast willkürlich, zufällig zupacken kann und es wird das richtige sein, wenn wir unseren filter aus Großmutterweisheiten, Wissenschaft, Kunst und Religion angelegt haben.

obwohl uns hamlet widert, ziehn uns faust/jesus/gandhi nicht genügend an. obwohl uns faust/jesus/gandhi anziehen, widert uns hamlet nicht genügend.