ANTIKRIEG IN WODDOW

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.[1]

Carl von Clausewitz schrieb einst in seinem berühmten und philosophischen Buch, dass im Krieg keine Absicht so verwirklicht wird, wie sie gedacht war. Die Absicht wird von den Friktionen unseres Tuns aufgefressen.

„So wenig man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung, das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, so wenig kann man im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen halten.“[2]

Viele Jahre lang saß gegenüber dieser vom Krieg geschändeten Kirche ein alter Mann auf einem weißen Plastikstuhl. Und er erzählte seine Geschichte:

Als im April 1945 die Großen des Reiches und des Dorfes sich schon auf den Weg weg von der Verantwortung machten, erließ der Reichsverteidigungskommissar Goebbels die Verordnung zur Verpflichtung der alten Männer und der sogenannten Hitlerjugend in die letzte Schlacht. Den Brief der Kreisleitung Prenzlau der Hitlerjugend in der Hand befahl der Vater des Mannes, der damals ein vierzehnjähriger Junge war, die Sachen zu packen, den Handwagen zu holen, und er nahm ihn an die Hand und floh mit ihm in Richtung Westen, weg von der nahenden Front. ‚Mein Vater‘, sagte der alte Mann, ‚hat mir so das Leben gerettet, denn alle, die hier noch mitgemacht haben, sind umgekommen, verdorben und gestorben.‘

„…denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“[3]

Die Schlacht um Berlin, in deren Verlauf auch die Kirche in Woddow zernichtet wurde, begann am 16. April 1945 diesseits der Oder, an ihr nahmen zweieinhalb Millionen sowjetische und eine Million deutsche Soldaten teil, eine gigantische Sinnlosigkeit, denn der Krieg war längst verloren. Die Parallele zu heute – am 30. Juli 2023 –  ist unübersehbar, nur merkwürdigerweise streiten wir heute, die wir gar nicht beteiligt sind, darum, wer verlieren wird. Ich glaube, dass schon immer in der Geschichte das Böse nicht gewinnen kann und auch letztlich nicht gewinnt. Wenn das Böse die Summe aller falschen Entscheidungen ist, dann zeigt sich das auch in jedem Krieg, denn jeder Krieg ist falsch. Das ist keine Ermutigung des Angreifers, sondern allenfalls des Verteidigers.

So war es auch 1945 in Woddow. Stalin hatte kurzfristig entschieden, die 2. Belorussische Front unter Marschall Rokossowski im Eilmarsch an die Elbe zu schicken und nicht an der Schlacht um Berlin teilnehmen zu lassen, die von da ab von den Marschällen Shukow (1. Belorussische Front) und Konjew (2. Ukrainische Front) allein geführt wurde. Die deutsche Seite ließ dagegen, offensichtlich in Unkenntnis der veränderten Lage, von den alten Männern und den Hitlerjungen Stellungen bauen, vielleicht so ähnliche wie in den Gemälden vom BRUCHWALD an der Westwand der Kirche zu sehen sind. Diese Stellungen, teils Sperren, teils Gräben, wurden von Panzerarmeen Rokossowskis einfach überrollt. Wo sich Wehrmachts- oder SS-Soldaten etwa in den Kirchtürmen positioniert hatten und widersinnigen Widerstand leisteten, wurden sie samt dem Kirchturm hinweggeblasen, um erneut einen biblischen Ausdruck zu zitieren. Das war am 27. April[4]. In der Nacht davor hatte die dritte deutsche Panzerarmee unter General von Manteuffel mangels Materials und Muts und Möglichkeiten den Kampf aufgegeben. Die angestaute Randow und die hilflosen Gräben wurden in schönster NAZI-Überheblichkeit WOTANSTELLUNG genannt. Sie sind sang- und klanglos untergegangen. Die Menschen flohen oder starben. Der Kirchturm war zerstört. Die Kirche stand in Flammen. Die Panzer wälzten sich und ihre tödliche Last weiter durch das Land, aber bereits am 25. April waren die sowjetischen Sieger auf ihre amerikanischen Verbündeten in Torgau an der Elbe getroffen.

Karin Christiansen, o.T.

Das Gemälde von Karin Christiansen zeigt einen menschlichen Reflex und Überlebensversuch: eine Mutter mit mehreren Töchtern, die zu Puppen erstarrt sind, schläft in einem Nest aus Möbeln und Müll. Sie liegen zusammengerollt und imitieren Geborgenheit. Denn eine wirkliche Geborgenheit, das Nest, die Wärme, den Schutz, kann es im kalten, leeren Raum nicht geben. Die Trümmer, Ruinen und Reste zeigen vielmehr, wo das vermeintliche Nest sich befindet. Es ist irgendwo im Krieg, in jedem Krieg. Im Krieg zerbersten die Zitadellen, stürzen die Kirchtürme und verlieren sich die Menschen im leeren Raum. In jedem Krieg sind die Kinder die bedauernswertesten Opfer: durch Ostpreußen huschten die verhungerten und verwaisten Wolfskinder, in Afrika – so einige Bilder von Christiansen – werden Kinder als billige und willige Soldaten missbraucht. Aber waren nicht auch die Hitlerjungen missbrauchte Kindersoldaten? Putin lässt ukrainische Kinder stehlen, um der russischen demografischen Katastrophe aufzuhelfen. Selbst dieses grausige Detail hat er Hitler und Himmler abgeschaut.

Als wir Kinder waren, wurden nach den Nachrichten im Radio Meldungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes verlesen:

GESUCHT WIRD ERIKA, BLONDES HAAR, BLAUE AUGEN, DAMALS SIEBEN JAHRE ALT,

ZULETZT GESEHEN IN TAUROGGEN

Heute finden wir in den Suchmaschinen des Riesenkraken Google alles. Aber alles ist unwichtiger als die damals verloren gegangene Erika, die vielleicht ihre letzte Nacht in imitierter Geborgenheit in diesem Nest mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihren Puppen verbracht hatte, das dann später, in besserer Zeit, von Karin Christiansen gemalt wurde. Und wie schon das berühmte Sonett von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg oder das nicht weniger berühmte Gedicht `S IST KRIEG UND ICH BEGEHRE NICHT SCHULD DARAN ZU SEIN von Matthias Claudius oder wie das noch berühmtere Picassobild vom zerstörten Guernica, so will uns auch diese Sammlung von Bildern und Installationen sagen, was wir tun können: Menschen helfen, Kriegsrhetorik ächten, die richtige Partei wählen oder jedenfalls nicht die falsche, glauben, dass das Böse nicht siegen kann, hoffen, dass immer letztlich das Gute sich durchsetzt, die Menschen auch dann noch lieben, wenn sie offensichtlich irren[5].    


[1] 1. KORINTHERBRIEF, 1312

[2] CLAUSEWITZ, Vom Kriege, Leipzig 1935, S. 88

[3] MATTHÄUS, 2652

[4] KIESELBACH, Aufzeichnungen über die Stadt Brüssow, S. 131ff.

[5] 1.KORINTHERBRIEF, 1313

DIE WELT IST AUS DEN FUGEN

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Auf der einen Seite war sie noch nie ‚in den Fugen‘, auf der anderen Seite sagt diesen berühmten Satz eine Kunstfigur, ein Zauderer mit Atemnot, der sich noch nicht einmal für die Frau entscheiden kann, die ihn liebt. Er schickt also sie in den Wahnsinn und die Welt in das Chaos. Aber da ist die Welt schon. In dem berühmten Theaterstück werden Politiker gezeigt, die damals mit Mord und Totschlag, heute mit Filz und Fake ihre kleine Politik besserwisserisch durchsetzen wollen, nicht, weil sie besonders schlecht und böse wären, sondern weil sie Menschen sind wie du und ich. Aber wir, die Konsumenten von Politik, sind andere geworden. Wir sind keine Analphabeten mehr, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Wir sind keine unmündigen Elemente eines zwar funktionierenden, aber doch hierarchisch-autoritären Systems. Das nächste ABER muss gleich folgen: und autoritäre und hierarchische Systeme funktionieren nur soweit und solange ihr Zusammenbruch mit drastischen Strafen vorweggenommen und gleichzeitig zu verhindern versucht wird. Wer das System bedroht, wird bedroht. Dadurch verrohen die, wie Rousseau meinte, anfangs idealen Sitten. Die Demokratie versucht nun das Gegenteil, sie macht die Menschen nicht nur mündig, sondern auch zu Produzenten der Verhältnisse. Allerdings stößt sie dabei auf fast gleich erbitterte Widerstände wie seinerzeit und seinesorts der Autoritarismus. Gegen ihn richtet sich der Freiheitswille des Individuums, den man an jeder Stubenfliege am Fenster beobachten kann, an jedem Käfer. Gegen die Freiheit der Demokratie richtet sich der Ordnungszwang, dem wir ebenso unterliegen. Wir glauben, und alle Religionen und Philosophien bestärken uns in diesem Glauben seit Jahrtausenden, dass die Welt ursprünglich oder eigentlich geordnet, aber durch den bösen Willen und Unverstand immer wieder ins Chaos abzurutschen gefährdet sei. Das ist der Grund, warum sich jede Ordnung, sei sie nun autoritär oder liberal, für alternativlos erklärt. Das gilt im übrigen auch für Texte. Man könnte keine Politik machen, wenn man an Alternativen glaubte. Wenn man sich alte Bundestagsdebatten anhört, dann kann man das sehr schön illustriert finden: jeder Redner – zum Beispiel Strauß und Wehner – geht zwar auf die Argumente der anderen Seite ein, aber nur, um festzustellen, dass lediglich die eigene Politik das Problem lösen kann und wird.

Es gibt allerdings zwei Auswege, die sich natürlich, wie alles auf der Welt, überschneiden und nicht etwa unversöhnlich gegenüberstehen. Das Wort unversöhnlich scheint einen gemeinsamen Sohn doch nur auszuschließen, denn praktisch, das weiß jeder, gibt es, wo Menschen aufeinander treffen, immer auch Söhne und Töchter. Der erste Ausweg sind charismatische Führer.

Führer scheuen Diskurs.

[Arbeitshypothese: Könnten die Führer die Lösung sein, wenn sie den Diskurs zuließen?]

Sie demonstrieren ihre Macht und glauben, dass jedes Problem mit ebendieser Macht zu lösen sei. Aber die Macht ist nur eine taube Nuss, ebenso wie das Talent, wenn es keinen Inhalt, keinen Fleiß, kein Abarbeiten der Einzelfälle gibt. Es hilft selbstverständlich nicht, wenn die Menschen nur in Gruppen eingeteilt werden: Freund und Feind, innen und außen, schwarz und weiß, rechts und links. Das Charisma des Führers erlaubt die einfachen, unglaubwürdigen Lösungen. Aus Erfahrung weiß man eigentlich, dass es nicht geht. Alle autoritären Gesellschaften verweisen deshalb auf die Weisheit des Führers oder der führenden Gruppe, denn: bei aller Rechthaberei oder Besserwisserei, wer bezeichnet sich selbst schon als weise? Darauf setzt die Autorität. Sie glaubt, dass sie nur durch Gegengewalt gestürzt werden kann. Tatsächlich aber haben sich alle Diktaturen durch ihre Inkompetenz selbst gestürzt. Das Hitlerreich hat die eigenen Kirchtürme bombardiert, um nicht zugeben zu müssen, dass es zurecht verlor; das zusammenbrechende Sowjetreich hat, hier bei uns, alles was nicht niet- und nagelfest war mitgenommen, wohlwissend, dass es in die Armut zurücktorpediert würde.

Putin bombardierte oder annektierte Tschetschenien, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, den Donbass und Luhansk, Syrien, und schließlich die Ukraine um zu verdecken, dass es im eigenen Land durch eigene Schuld für die ländliche Mehrheit weder WCs noch sonst einen Wohlstand gibt. Nationalismus braucht keinen Wohlstand, dafür reicht das Staatsfernsehen. Wohlstand braucht keinen Nationalismus, deshalb sind wir in jenem Staatsfernsehen das Beispiel für Dekadenz und Untergang. Die ganze Misere der Autokratie wird auf uns projiziert, und die genervten Bewohner der Autokratie sind getröstet, dass es den anderen – also uns – wenigstens schlechter geht als ihnen. Leider erleben wir im vorigen und in diesem Jahr als Zeugen einer erbärmlichen Geschichte mit, wie der Tyrann nicht nur seine Nachbarn und den lange herbeidiskutierten Konsens schwer beschädigt, sondern das eigene Land in den Orkus seines Untergangs mitreißt.

Diskurs scheut Führer.

[Arbeitshypothese: Könnte der Diskurs die Lösung sein, wenn er Führer zuließe?]

Der Diskurs demonstriert eher die Unmöglichkeit, ein Problem zu lösen als die Möglichkeit. Den Kompromiss empfinden viele Menschen als Schmach. Es ist schwer einzusehen, dass man selbst nicht recht hatte oder nichts zur Lösung beitragen konnte. Das Ausdiskutieren jedes Problems dauert manchmal Generationen. Deshalb sehnen sich die Menschen in diskursiven Systemen so oft nach Ordnung, Charisma, vielleicht einfach nur Anhaltspunkten. Eine Demokratie ist also schlecht beraten, immer wieder aufs Neue, aus Kostengründen, wegen der Rationalität oder aus anderen Gründen, Ordnungen zu beseitigen. Demokratie ist ohnehin schon schwer zu verstehen, wenn dann auch noch die Kreisverwaltung schließt oder der Name des Heimatortes in eine anonyme Bezeichnung – ORTSTEIL – geändert wird, verlieren die Menschen Vertrauen und Orientierung.

Viele vermuten daher als Urheber von Ereignissen einen Masterplan oder sogar eine Weltherrschaft. Der Prinz in unserem Titelzitat beklagt nicht etwa, dass die Welt aus den Fugen, sondern dass ausgerechnet er dazu berufen sei, sie wieder in Ordnung zu bringen. So gesehen sind wir alle Egoisten. Wir glauben immer und überall, dass wir gemeint sind. Wir können uns nicht für anonym halten, weil wir einen Namen haben. Wir haben einfach vergessen, dass wir, um einen Namen zu haben, uns erst einen Namen machen müssen. Wer aber in der Demokratie seine Namenlosigkeit beklagt, wie will der in der Diktatur glücklich werden? Er kann nur erfolgreich sein durch den Ausschluss anderer, und das verbietet nicht nur die Menschlichkeit, sondern das verbieten auch alle Religionen und Philosophien, allerdings im Kleingedruckten. Der Preis des Sieges ist das, was man nicht hören will. Niemand lässt sich gerne belehren von Menschen, die unter ihm stehen. Wie soll er da verstehen, dass niemand unter ihm steht.

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Sie verbessert sich nur langsamer, als wir gehofft haben. Niemand ist allein berufen, die Welt zu verändern. Keiner kann allein die Probleme der Menschheit lösen. Nur der Diskurs selbst ist alternativlos, allerdings sollte er das Charisma zulassen. Charismatiker sollte man weder erschießen oder ans Kreuz nageln, weil man niemanden erschießen oder kreuzigen darf, noch unterdrücken, weil man niemanden unterdrücken sollte, noch nach ihrem Tod diskreditieren, weil man keinem Toten Schlechtes nachreden muss, denn man kann ihn nicht mehr ändern.

Vielmehr müssen wir lernen, den Diskurs und das Charisma auszuhalten. Unsere Medien sind nicht unsere Kompetenz, sondern nur unser Krückstock.

WAS TUN?

In einem kleinen Dorf wohnte ein Mädchen, das immer eine rote Kappe trug. Es wurde deshalb Rotkäppchen genannt. Eines Tages sagte die Mutter zu dem Mädchen: ‚Rotkäppchen, die Großmutter ist sehr krank und ich habe keine Zeit. Gehe du zu ihr und besuche sie. Ich packe Kuchen und Wein ein, damit die Großmutter wieder zu Kräften kommt.‘

Die Großmutter wohnte aber in einem Wald, drei Kilometer von dem Dorf entfernt. Deshalb sagte die Mutter: ‚Rotkäppchen, du weißt, dass in dem Wald auch der böse Wolf wohnt. Wenn du den Weg verlässt, wird er dich fressen.‘ Rotkäppchen versprach aufzupassen. Aber in Wirklichkeit hatte es keine Angst, denn es ging gerne durch den Wald und hatte dort noch nie einen Wolf gesehen.

Als nun Rotkäppchen im Wald war, bemerkte es dort schöne Blumen. Rotkäppchen wollte für die Großmutter Blumen mitnehmen, denn die Großmutter liebte Blumen über alles und arbeitete gerne in ihrem Garten. Aber erst einmal musste sie wieder gesund werden.

Rotkäppchen pflückte Blumen, da hörte sie eine tiefe Stimme. War das nicht ein Wolf? Und stand neben ihm nicht eine Ziege?

Der Wolf sagte zu der Ziege: ‚Ich bin nicht böse. Ich fresse nie dein Gras. Es wäre also nur gerecht, wenn du mir ohne Gewalt dein Fleisch geben würdest.‘*

Die Ziege antwortete: ‚Nein. Man kann nicht das Leben gegen die Freiheit tauschen. Ich habe Hörner und ich habe Hufe. Ich werde solange gegen dich kämpfen, bis du verschwindest.‘

Rotkäppchen nahm schnell den Korb mit dem Kuchen und dem Wein und ihre Blumen und rannte so schnell sie konnte zu dem kleinen Haus ihrer Großmutter.

‚Großmutter‘, rief sie, ‚ich habe den Wolf gesehen und gehört. Er ist nicht nur böse, sondern auch dumm. Er wollte die Ziege überreden, sich fressen zu lassen.‘

Der Großmutter ging es schon viel besser. Sie setzte sich im Bett auf und sagte: ‚Rotkäppchen, wenn du allen Kindern der Welt auf Facebook schreibst, was du heute erlebt hast, dann wird es Frieden für alle Menschen und für alle Zeit geben. Kein Mensch ist besser als der andere, kein Land ist schöner als das andere. Niemand darf lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.‘ Und so ging Rotkäppchen nach Hause und schrieb in ihrem Computer: WAS DU NICHT WILLST, DASS MAN DIR TU, DAS FÜG AUCH KEINEM ANDERN ZU**. Und sie schickte es an alle Kinder der Welt. Und als die erwachsen waren, gab es nur noch Frieden.

*nach einer Idee von Karel Čapek

**Goldene Regel

Що робити або Червона Шапочка в часи російсько-української війни

В одному маленькому селі жила дівчинка, яка завжди носила червону шапочку. Саме тому назвали її Червона Шапочка. Одного дня мати до неї каже: «Червона Шапочко, твоя бабуся захворіла, а у мене зовсім немає часу. Піди, будь ласка, та провідай її. Я спакую тобі печиво та вина, щоб бабуся швидше одужала.

Але бабуся жила у лісі, що за три кілометри від села, тому мати наголосила: «Червона Шапочко, ти ж знаєш, що у лісі живе злий Вовк. Якщо ти зіб’єшся зі шляху, він з’їсть тебе.» Червона Шапочка пообіцяла вважати на себе, але насправді вона не боялася, тому що дуже любила гуляти в лісі і ще жодного разу не зустріла там вовка.

Коли вже Червона Шапочка була у лісі, вона помітила багато квітів. Вона захотіла зірвати їх для бабусі, адже бабуся понад усе на світі любила квіти та працювати в своєму садку, тільки для цього їй потрібно було спочатку одужати.

Червона Шапочка рвала квіти, аж раптом почула голос. Чи це не був Вовк? І чи це не Коза стоїть поруч з ним?

Вовк саме промовляв до Кози: «Я не злий. Я не з’їм твоєї трави. Але це буде по-чесному, якщо ти без жодного пручання віддаси мені своє м’ясо.»*

Коза відповіла: «Ні. Не можна проміняти своє життя на свободу. У мене є роги та копита і я буду боротись з тобою доти, доки ти не зникнеш.»

Червона Шапочка схопила швиденько свою корзинку з печивом та вином, квіти та побігла щодуху до маленького будиночку своєї бабусі.

«Бабусю!», – закричала вона, – «Я бачила та чула Вовка. Він не лише злий, а ще й дурний! Він хотів вмовити Козу, щоб та дозволила себе з’їсти.»

Бабуся вже почувала себе краще. Вона припіднялася з ліжка і промовила:

«Червона Шапочко, якщо ти всім дітям на світі напишеш в Фейсбуці, що ти сьогодні пережила, тоді запанує на світі мир на всі часи. Жодна людина не є краща за іншу і жодна країна не є гарніша ніж інша. Ніхто не може брехати заради своєї вигоди.»

Тому Червона Шапочка пішла додому і написала в своєму комп’ютері: ЧОГО НЕ ХОЧЕШ, ЩОБ ЧИНИЛИ ТОБІ, НЕ ЧИНИ ІНШОМУ.** Вона вислала це всім дітям на світі і коли вона вже була дорослою, на світі панував Мир.

*за ідеєю Карла Чапека

** Золоті Правила

Переклад: Аліна-Марія Сенюх

DAS IST ES. MIGRANTEN SIND WIR SELBER.

 

Nr. 370

Die ältesten überlieferten Geschichten erzählen von Zwist, Neid, Hader und Brudermord. Aber diese Geschichten sind keine Zustandsberichte, keine Soziologie des Altertums, sondern sie sind Warnungen. Dem Verfasser einer dieser alten Warngeschichten fiel auf, dass wir, wenn man seine Geschichte wörtlich nähme, alle von Kain, dem Brudermörder und Stammvater des Neids, abstammten. Also bekamen Eva und Adam noch einen Sohn, Seth. Wenn wir alle von Neid und Bruderzwist zerfressen wären, wären wir schon längst ausgestorben. Sollten wir aussterben, dann nicht am Bruderstreit, sondern an unserer schamlosen Ausbeutung der Natur. Es wird ihr, seit wir nicht mehr hungern,  mehr entnommen als zurückgegeben. Das ist kein guter Deal.

Die menschlichen Beziehungen dagegen scheinen nur subjektiv enttäuschend zu sein, was tatsächlich eine Quelle der Kunst ist, der subjektivsten Art der Weltbetrachtung. Objektiv betrachtet – soweit das überhaupt geht -, jedenfalls in der Bilanz aller Bilanzen, soweit sie erkennbar ist, muss die Solidarität den Hass überwogen haben.

Wenn aber nun alle Feldzüge, die nach Meinung der Konservativen notwendig und allgegenwärtig, sogar der Vater aller Dinge wären und in der Natur des Menschen lägen, die dem Landerwerb oder der Landverteidigung dienten, nichts als verkürzte, komprimierte und militarisierte Migrationen wären? Dann würde die Migration aus dieser Sicht vom Makel befreit sein. Denn immer noch steht in fast jedem Dorf und in fast jeder Stadt ein Obelisk mit der Aufschrift, dass diese militarisierte Wanderung mit Gottes ausdrücklichem Segen stattfand. Im ersten Europakrieg wurden von hunderttausenden Soldaten tausende von Kilometern hin- und zurückgelegt und dabei zwei Dutzend Millionen Menschen umgebracht.  Das war nicht nur kein gutes Beispiel für Sesshaftigkeit und Lebensraum, es hatte auch nichts mit Treue, Nation und Religion zu tun. Es ging nur um Geld und Abschlachten. Zum Schluss dieses verheerenden und totalen Krieges trafen sich die Fürsten Europas in Münster und Osnabrück und schlossen das erste europäische Vertragswerk. Nicht der Krieg war also notwendig, sondern eine neue Ordnung, und die ist nicht durch den Krieg erreicht worden, sondern durch den Westfälischen Frieden.

Was aber sind die unbewaffneten Völkerwanderungen? Können sie nicht die Folge zu stringenter Ordnungen sein, die dann zum Krieg oder zum Ausweichen ganzer Bevölkerungsgruppen führen? Die Hamelner Rattenfängerlegende und vorher der Kinderkreuzzug können Hinweise auf gezielte Migration überzähliger Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall von Kindern und Jugendlichen sein. Aber auch sonst weisen Migranten eine Reihe gemeinsamer Merkmale, wie Flexibilität, Resilienz und eine große eidetische Bewahrkraft,  auf. Nicht unbedingt eine überdurchschnittliche Intelligenz oder eine hohe Berufsqualifikation, sondern eine – auch sprachlich-mental – besondere Anpassungsfähigkeit und -willigkeit. Eine schleichende Invasion völlig feindlicher Kräfte zur Unterwanderung einer alten Kultur, wie sie AfD und andere rechte Gruppierungen besonders seit Sarrazins unseligem Buch von 2010 und seit 2015 immer wieder beschworen haben, ist schon von daher Unsinn. Sarrazin geht einerseits von einer Übernahme durch Fertilität, andererseits aber von der genetischen Unfähigkeit muslimischer Einwanderer durch Inzucht aus. Eine ähnliche Ungereimtheit trat dann gleich zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise aus, indem einerseits den Flüchtlingen unterstellt wurde, dass sie weder arbeiten könnten noch wollten (‚make the lazy nigger working‘), sie aber andererseits und enigmatischerweise eine direkte Bedrohung für die Arbeitsplätze der autochthonen Bevölkerung wären.Inzwischen hat die Rechte ohnehin die Gefahr aus dem Islam zugunsten der afrikanischen Invasion fallengelassen.

Auch das Ausweichen vor Hungersnöten, wie zum Beispiel die irische und deutsche Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, fällt in diese Kategorie, denn spätestens seit Friedrich II. wissen wir, dass der Staat sehr wohl, auch vorausschauend, für seine Untertanen sorgen kann und muss, nicht nur für die bewaffneten.

Der Kulturaustausch in Kriegszeiten wird fast immer im wesentlichen auf der Vergewaltigung und Zerstörung menschlicher, wirtschaftlicher und baulicher Existenzen beruhen. Trotzdem lässt sich nicht bestreiten – auch wenn das den Vorwurf des Zynismus einbringt -, dass alle Konzepte oder auch nur Vorstellungen von nationaler oder ethnischer Reinheit eben durch die Angreifer und immer ad absurdum geführt werden. Es gibt sie nicht. Wo Menschen aufeinandertreffen, ob im Guten oder Bösen, tauschen sie Gene und Geist, Erfahrungen und sogar auch Traditionen aus. Deshalb flüchten alle segregationistischen Modelle, alle erzkonservativen Ordnungen, alle Mauerbauer und Intelligenzverwalter zum Schluss immer in biologistische Wahnvorstellungen: es ist eben so. Durch Segregationsschübe kommt es immer wieder auch zu Liberalisierungen. Da aber die Bildung weltweit zunimmt, haben autokratische Systeme und segregationistische Modelle immer weniger Chancen sich durchzusetzen, wenn sie es auch auch wieder und wieder, wie eben jetzt, versuchen.

Auf die Frage, ist aber zum kulturellen Austausch Migration zwingend erforderlich, kann man leicht antworten: nein, wahrscheinlich nicht, es reichen auch Kriege. Gemessen an den wirklich großen Kriegen, gibt es immer weniger und immer kleinere Kriege. Da wir heute viel mehr über Gerechtigkeit wissen und nachdenken, da wir viel mehr von der Opferperspektive ausgehen, finden wir solche asymmetrischen Kriegen wie den saudisch unterstützen Bürgerkrieg im Jemen oder den syrischen Stellvertreterkrieg unerträglich. Das war früher, als es immer wieder auch große Kriege gab, ganz anders. Goethe hat das in der Osterszene im Faust I mit sprichwörtlich gewordener Präzision beschrieben. Empathie ist ein Ergebnis der Demokratie, der Bildung und des Wohlstands.

Zwar ist die Berliner Mauer wahrscheinlich die einzige Sicherung eines rigiden Staatssystems nach innen, aber sie ist – vom Jubiläum ihres Falls ganz abgesehen – hervorrragend geeignet zu zeigen, dass alle natürlichen und anscheinend auch alle sozialen Systeme Osmose als Grundprinzip haben. Andersherum gesagt: es gibt keine Undurchlässigkeit. Die Berliner Mauer hatte ihren Höhepunkt vielleicht 1976, also fast genau in der Mitte ihrer Existenz, als Gartenschläger durch Abbau von Selbstschussanlagen nachwies, dass die Mauer selbst, ohne Hunde und diese Schießautomaten, hochdurchlässig war. Er musste es mit dem Leben bezahlen, aber die DDR-Regierung musste die Anlagen, die übrigens ein SS-Ingenieur für die KZ erfunden hatte, abbauen. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon das Mauermuseum am Checkpoint Charlie, das bis heute die verlogene Großspurigkeit der DDR-Führung und die Großporigkeit der Mauer zeigt. Nach Berlin kommen jährlich mehr als dreißig Millionen Menschen, wahrscheinlich sehen sie sich alle die Reste der porösen Mauer an und wissen, dass so etwas nicht funktioniert. ‚Je kompakter die Ordnung, desto aggressiver die Entropie,‘ sagt der polyglott-philosophische Reiseführer afrikanisch-jamaicanischer Herkunft, ‚die Definition ist der Grund der Spaltung.‘ Aber da wendeten sich schon viele Touristen der Currywurst zu.

 

‚Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswanderer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlandes rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren.‘ 

Heinrich Heine, Vorrede zum ersten Band des ‚Salon‘, Werke, Band 12, S. 21, Leipzig 1884       

FRANKFURT ODER ÇANAKKALE

 

Nr. 251

Solch eine Stadt müsste jedes Land haben, aber nicht als Museums- oder Gedenkstadt, sondern mit all den kaputten Menschen darin, die nicht ausbleiben, wenn eine Stadt so sehr und eigentlich für immer zerstört ist. Im Osten Deutschlands gibt es überflüssigerweise einige solcher Städte, die dem heutigen Besucher weh tun. Das Mitleid treibt uns die Tränen ins Gesicht, wenn wir Anklam sehen, das von der deutschen Luftwaffe in den allerletzten Tagen des Krieges als Strafe dafür zerstört wurde, dass es kampflos sich ergeben wollte, wie schon vorher die Nachbarstadt Greifswald. Friedland in meckelnburg ist sogar zweimal der Erdboden gleichgemacht worden, im dreißigjährigen Europa- und im zweiten Weltkrieg. Aber keine war so wichtig, dass ihre Zerstörung die ganze Nation berührte, zumal sie schon dadurch bekannt ist, dass es den Namen zweimal gibt und man immer den Fluss dazusagen muss, über den zu gelangen der Grund für die Gründung dieser Stadt war. Die Stadt im Osten hatte das Pech, dass sie nach der Zerstörung eben im äußersten Osten lag, zur geteilten Grenzstadt wurde und die Führung der DDR keinen Grund sah, die Stadt etwa historisch wieder aufzubauen. Statt dessen wurden die gleichen Neubaublocks hingeworfen wie in Bratislava oder Stettin oder Braşov, von denen man sie dann in der Folgezeit nicht besonders gut unterscheiden konnte. Die beiden berühmtesten Bürger der Stadt haben mit ihr nichts zu tun, der eine, Kleist, ist hier geboren, der andere, Carl Philipp Emanuel Bach, hat hier studiert aber keinen Abschluss gemacht. Der eine hat ein sehr schönes Museum, der andere eine sehenswerte Konzerthalle. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt sind sonst das alte Rathaus mit einem bemerkenswerten Südgiebel und eine Kirchenruine.

Nach der Wiedervereinigung bekam die Innenstadt zwei Einkaufszentren, die an Hässlichkeit und Öde kaum zu überbieten sind. Deshalb sind sie auch immer leer, vielleicht und hoffentlich außer Weihnachten. Selbst die Junkies und Alkis, die es reichlich gibt, versammeln sich lieber im angrenzenden Kleistpark und vor dem leerstehenden Kino. Das ist so ein Kulturpalast, den es in der DDR als Typenbau gab und der Trost spenden sollte über all die Kultur, die es außer billigen Büchern, nicht gab. Aber auch bei den billigen Büchern fehlte einiges: Hesse und Grass, Mann und Maus*.

Wenn wir einen Dichter von solcher Sprachgewalt wie Kleist hätten, dann sollte er schreiben: Anekdote nach dem letzten preußischen Kriege über eine Stadt als lebendiges Mahnmal. In solch einer Stadt kann auch der letzte rechte Ignorant sehen, dass Kriege nicht nur keine Gewinner, sondern ewige unabsehbare Folgen haben. Der Schaden wäre beinahe nicht so groß, wenn es die Stadt gar nicht mehr gäbe. Aber das geht natürlich nicht, weil es immer Menschen gibt, die an ihrer Heimtatstadt hängen, und, beinahe noch wichtiger, weil es immer Menschen gibt, die bis hierher geflohen sind und nicht mehr weiter können. Ihnen ist es gleichgültig, wie eine Stadt aussieht, wenn sie nur Dächer oder wenigstens Schlupfwinkel hat. Und wir reden hier nicht über die Antike.

Statt dessen gibt es solche Gedenkorte wie Çanakkale. Das ist eine Stadt und ein Landkreis an den Dardanellen, wo die Türken im Bündnis und unter dem Befehl der Deutschen gegen die Entente eine wichtige und opferreiche Schlacht gewonnen haben. Ein junger Oberst des osmanischen Heeres machte zum ersten Mal von sich reden: Mustafa Kemal. Im zweiten Weltkrieg gab es einen jüdischen Witz, der ging so: Hitler ist wütend auf die jüdischen Generäle. Wieso, der hatte doch gar keine. Eben. Aber die Türken in Çanakkale hatten einen: der deutsche Oberbefehlshaber der türkischen Armee, Marschall des Osmanischen Heeres und deutscher General der Kavallerie, Otto Liman von Sanders hatte einen jüdischen Großvater namens Liepmann. Für uns ist das nicht wichtig, aber sowohl in Deutschland als auch in der Türkei gab es in der Folgezeit reichlich Antisemiten, und die sollten wissen, wem der grandiose Sieg in Çanakkale zu verdanken war. General Liman von Sanders ging, was den Ruhm betrifft, ziemlich leer aus, den ernteten vor allem Mustafa Kemal und Enver Pascha.

Über der grandiosen Gedenkanlage, die über der seit der Antike berühmten Meerenge thront, vergessen viele Besucher und viele Türken, dass trotz dieses Sieges der Krieg auf deutscher und türkischer Seite nicht nur verloren, sondern das ganze Reich unter ging. Das war in der Türkei die Stunde des Generals Mustafa Kemal, der dann in der Namensreform zurecht den Ehren- und Nachnamen Atatürk, Vater der Türken, erhielt, weil er in nicht einmal zwei Jahrzehnten die Türkei zu einem modernen demokratischen Rechtsstaat machte. Die lateinische Schrift wurde eingeführt, alle lernten lesen und schreiben, europäische Nachnamen und Gesetze brachten das Land schnell auf den Stand Europas. Aber alle Reformen, die Menschen betreffen, brauchen immer Generationen. Was man einsieht, wird nicht Gewohnheit, was man als Zwang empfindet, sieht man noch nicht einmal ein. Seit Atatürks Tod im Jahre 1938 gibt es ein Auf und Ab von Demokratie, Säkularisation und Religion. Unter Erdoğan, der einen wirtschaftlichen und zunächst auch einen demokratischen Aufschwung zu verantworte hatte, tritt eine Geschichtsvergessenheit oder sogar -verdrängung ein, die nicht zu verantworten ist. Der deutsche General Liman von Sanders hat zum Beispiel energisch, auch unter Androhung militärischer Gewalt gegen den Genozid an den Armeniern protestiert, der, weil er gegen Russland gerichtet war, sonst aber vom Deutschen Reich und von Österreich-Ungarn toleriert wurde. Das war der Grund für die Entschließung des Bundestages. Abdülhamid II., der die Verfassung außer Kraft setzte und seinen Namen für die ersten Massaker an den Armenier hergab (Hamidische Massaker), wird plötzlich zum Helden und Vorbild für Erdoğan. Tausende türkische Jugendliche sehen billige Propagandafilmchen, in denen der kritisierte Sultan und Kalif Abdülhamid II. erscheint und didaktisch fragt: wem hast du alle das Gute zu verdanken? Da er einen Teil der Tanzimat-Reformen zurücknahm, ist Abdülhamid, sind aber vor allem aber seine Söhne, die letzten Sultane, verantwortlich für den endgültigen Niedergang des osmanischen Reiches, des kranken Mannes vom Bosporus.

Auch die Deutschen hatten solch eine übertriebene und einseitige Gedenkstätte aus dem ersten Weltkrieg: das Tannenberg-Denkmal, eine gigantische Großanlage militaristischen Gedenkens an Friedrich II., der pietät- und stillos dahin umgebettet worden war, und an Hindenburg, der angeblich die Schlacht bei Tannenberg gewonnen hatte. Sie ging im zweiten Weltkrieg wie die gesamten deutschen Ostgebiete verloren. In den letzten siebzig Jahren ging auch der Sinn für den Krieg, die Freude an gewonnenen Schlachten und der Militarismus verloren. Gründe dafür sind natürlich nicht vorrangig die vorhandenen oder nicht vorhandenen Gedenkstätten, sondern die Demokratie, die Bildung, der Wohlstand. Zur Bildung gehört natürlich auch das historische Wissen.

Übrigens hat jener damals noch unbekannte junge Oberst später als Staatspräsident eine bemerkenswerte Rede zu  Gedenken an die vielen Opfer der Schlacht bei Çanakkale gehalten, in der er sagte: Im Gedenken an die Opfer  gibt es keinen Unterschied zwischen den Johnnies und den Mehmets, gemeint waren die britischen und die türkischen Soldaten. Erdoğan hat diese Sprechweise pervertiert. Er fragt nur noch die Hälfte der Mehmets.

 

 

*Isaak Maus, 1748-1833