
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.[1]
Carl von Clausewitz schrieb einst in seinem berühmten und philosophischen Buch, dass im Krieg keine Absicht so verwirklicht wird, wie sie gedacht war. Die Absicht wird von den Friktionen unseres Tuns aufgefressen.
„So wenig man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung, das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, so wenig kann man im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen halten.“[2]
Viele Jahre lang saß gegenüber dieser vom Krieg geschändeten Kirche ein alter Mann auf einem weißen Plastikstuhl. Und er erzählte seine Geschichte:
Als im April 1945 die Großen des Reiches und des Dorfes sich schon auf den Weg weg von der Verantwortung machten, erließ der Reichsverteidigungskommissar Goebbels die Verordnung zur Verpflichtung der alten Männer und der sogenannten Hitlerjugend in die letzte Schlacht. Den Brief der Kreisleitung Prenzlau der Hitlerjugend in der Hand befahl der Vater des Mannes, der damals ein vierzehnjähriger Junge war, die Sachen zu packen, den Handwagen zu holen, und er nahm ihn an die Hand und floh mit ihm in Richtung Westen, weg von der nahenden Front. ‚Mein Vater‘, sagte der alte Mann, ‚hat mir so das Leben gerettet, denn alle, die hier noch mitgemacht haben, sind umgekommen, verdorben und gestorben.‘
„…denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“[3]
Die Schlacht um Berlin, in deren Verlauf auch die Kirche in Woddow zernichtet wurde, begann am 16. April 1945 diesseits der Oder, an ihr nahmen zweieinhalb Millionen sowjetische und eine Million deutsche Soldaten teil, eine gigantische Sinnlosigkeit, denn der Krieg war längst verloren. Die Parallele zu heute – am 30. Juli 2023 – ist unübersehbar, nur merkwürdigerweise streiten wir heute, die wir gar nicht beteiligt sind, darum, wer verlieren wird. Ich glaube, dass schon immer in der Geschichte das Böse nicht gewinnen kann und auch letztlich nicht gewinnt. Wenn das Böse die Summe aller falschen Entscheidungen ist, dann zeigt sich das auch in jedem Krieg, denn jeder Krieg ist falsch. Das ist keine Ermutigung des Angreifers, sondern allenfalls des Verteidigers.
So war es auch 1945 in Woddow. Stalin hatte kurzfristig entschieden, die 2. Belorussische Front unter Marschall Rokossowski im Eilmarsch an die Elbe zu schicken und nicht an der Schlacht um Berlin teilnehmen zu lassen, die von da ab von den Marschällen Shukow (1. Belorussische Front) und Konjew (2. Ukrainische Front) allein geführt wurde. Die deutsche Seite ließ dagegen, offensichtlich in Unkenntnis der veränderten Lage, von den alten Männern und den Hitlerjungen Stellungen bauen, vielleicht so ähnliche wie in den Gemälden vom BRUCHWALD an der Westwand der Kirche zu sehen sind. Diese Stellungen, teils Sperren, teils Gräben, wurden von Panzerarmeen Rokossowskis einfach überrollt. Wo sich Wehrmachts- oder SS-Soldaten etwa in den Kirchtürmen positioniert hatten und widersinnigen Widerstand leisteten, wurden sie samt dem Kirchturm hinweggeblasen, um erneut einen biblischen Ausdruck zu zitieren. Das war am 27. April[4]. In der Nacht davor hatte die dritte deutsche Panzerarmee unter General von Manteuffel mangels Materials und Muts und Möglichkeiten den Kampf aufgegeben. Die angestaute Randow und die hilflosen Gräben wurden in schönster NAZI-Überheblichkeit WOTANSTELLUNG genannt. Sie sind sang- und klanglos untergegangen. Die Menschen flohen oder starben. Der Kirchturm war zerstört. Die Kirche stand in Flammen. Die Panzer wälzten sich und ihre tödliche Last weiter durch das Land, aber bereits am 25. April waren die sowjetischen Sieger auf ihre amerikanischen Verbündeten in Torgau an der Elbe getroffen.

Das Gemälde von Karin Christiansen zeigt einen menschlichen Reflex und Überlebensversuch: eine Mutter mit mehreren Töchtern, die zu Puppen erstarrt sind, schläft in einem Nest aus Möbeln und Müll. Sie liegen zusammengerollt und imitieren Geborgenheit. Denn eine wirkliche Geborgenheit, das Nest, die Wärme, den Schutz, kann es im kalten, leeren Raum nicht geben. Die Trümmer, Ruinen und Reste zeigen vielmehr, wo das vermeintliche Nest sich befindet. Es ist irgendwo im Krieg, in jedem Krieg. Im Krieg zerbersten die Zitadellen, stürzen die Kirchtürme und verlieren sich die Menschen im leeren Raum. In jedem Krieg sind die Kinder die bedauernswertesten Opfer: durch Ostpreußen huschten die verhungerten und verwaisten Wolfskinder, in Afrika – so einige Bilder von Christiansen – werden Kinder als billige und willige Soldaten missbraucht. Aber waren nicht auch die Hitlerjungen missbrauchte Kindersoldaten? Putin lässt ukrainische Kinder stehlen, um der russischen demografischen Katastrophe aufzuhelfen. Selbst dieses grausige Detail hat er Hitler und Himmler abgeschaut.
Als wir Kinder waren, wurden nach den Nachrichten im Radio Meldungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes verlesen:
GESUCHT WIRD ERIKA, BLONDES HAAR, BLAUE AUGEN, DAMALS SIEBEN JAHRE ALT,
ZULETZT GESEHEN IN TAUROGGEN
Heute finden wir in den Suchmaschinen des Riesenkraken Google alles. Aber alles ist unwichtiger als die damals verloren gegangene Erika, die vielleicht ihre letzte Nacht in imitierter Geborgenheit in diesem Nest mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihren Puppen verbracht hatte, das dann später, in besserer Zeit, von Karin Christiansen gemalt wurde. Und wie schon das berühmte Sonett von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg oder das nicht weniger berühmte Gedicht `S IST KRIEG UND ICH BEGEHRE NICHT SCHULD DARAN ZU SEIN von Matthias Claudius oder wie das noch berühmtere Picassobild vom zerstörten Guernica, so will uns auch diese Sammlung von Bildern und Installationen sagen, was wir tun können: Menschen helfen, Kriegsrhetorik ächten, die richtige Partei wählen oder jedenfalls nicht die falsche, glauben, dass das Böse nicht siegen kann, hoffen, dass immer letztlich das Gute sich durchsetzt, die Menschen auch dann noch lieben, wenn sie offensichtlich irren[5].
[1] 1. KORINTHERBRIEF, 1312
[2] CLAUSEWITZ, Vom Kriege, Leipzig 1935, S. 88
[3] MATTHÄUS, 2652
[4] KIESELBACH, Aufzeichnungen über die Stadt Brüssow, S. 131ff.
[5] 1.KORINTHERBRIEF, 1313
