DAS PARADOX DER NÄCHSTENLIEBE

Nr. 328

Wer einem Menschen oder einem Tier oder einer Pflanze etwas Gutes tut, muss damit leben, dass die Welt dadurch besser wird, obwohl er oder sie das gar nicht gewollt hat. Das gleiche gilt leider auch für das Böse, das aber wunderbarerweise niemals dauerhaft gewinnt. Mit dem Guten ist es so wie mit dem Bäcker von Adam Smith: obwohl er bäckt, damit er satt wird, werden auch wir satt. Trotzdem steckt in diesem Vorgang Planung, Arbeit, Mühe und Zuversicht. Nicht jeder Bäcker wird reich. Insgesamt geht von der Tätigkeit der Bäcker und Dönerläden ein Grundvertrauen aus, dass wir nicht verhungern können. Uns scheint es so, als dass eine unsichtbare Hand, auch dies eine Metapher von Adam Smith, dafür sorgt, dass wir nicht nur nicht verhungern, sondern an Döner und Croissants unser Wohlgefallen haben. Der Staatsrechtler Georg Jellinek, dessen Bruder übrigens einem urdeutschen Symbol den Namen gab: Mercedes, nannte dies die normative Kraft des Faktischen. Wir tun wiederholt  etwas, und dann erscheint es uns als Norm. Das ist leicht zu verstehen.

Aber was machen wir mit dem Bösen oder mit den Bösen? Die platteste Lösung ist eine Losung, die oft an Wände geschrieben wird und wie ein Menetekel wirkt: NAZIS RAUS. Das hört sich gut an, ist aber nicht nur falsch, sondern eine Nazilösung. Denn der Faschismus beruht auf Segregation und auf dem Glauben an Segregation. Eine bestimmte Menschengruppe, so will der Segregationsglaube glauben machen, ist schuld am Elend. Diese Menschengruppe befindet sich wahlweise außen oder sie ist zwar innen, aber fremd. Und so funktioniert auch der Grafittospruch NAZIS RAUS. Er unterstellt, dass die Nazis andere Menschen sind, die man wegschicken, im schlimmsten Fall internieren kann. Tatsächlich sind die Nazis aber unsere Kinder, Eltern, Brüder, Schwestern, Nachbarn. Man kann sich Menschen nicht aussuchen. Natürlich kann nicht jeder Mensch mit allen seinen Mitmenschen gut klarkommen, aber wenn man vorn vornherein ganze Gruppen ausschließt, dann kann das nicht gut sein.

Die zweite Lösung, die oft angeboten wird, ist das von Karl Popper stammende Paradoxon der Toleranz. Das wird oft so verstanden, dass man gegen Intoleranten letztlich nicht mehr tolerant sein kann, weil sie die Basis der Toleranz zerstören wollen. Dieser Vorschlag unterstellt, ebenso wie jede Segregation, dass die Grenzen zwischen den Menschengruppen starr und unveränderbar sind, was selbst bei der Hautfarbe, aber ganz offensichtlich bei politischen Ansichten nicht stimmt. Popper meinte übrigens, dass sein Paradoxon nur dann griffe, wenn es keine Argumente mehr gäbe. Wer zum Molotowcocktail statt zum Wort greift, für den gilt selbstverständlich das Strafgesetzbuch als Minimum der Ethik, wie es Georg Jellinek formulierte. Würden wir also die heute Intoleranten aufgeben, so hätten wir und sie keine Chance, sie in das Lager der Toleranten hinüberzuziehen.

Vor ein paar Tagen hatte einer dieser Schlaumeier neunzigsten Geburtstag und sein Satz ‚Optimismus ist nur ein Mangel an Information‘ geisterte durch das Netz. Wenn Optimismus Mangel an Information ist, dann ist Pessimismus aber offensichtlicher Mangel an Glauben, Mut, Zuversicht, Realismus (denn da niemand in die Zukunft sehen kann, muss man auch für morgen nicht mehr befürchten als für gestern), Poesie, Solidarität, Menschenkenntnis, Geschichtsbewusstsein, Charisma, Fiktion und Magie. Ohne Information kann man leben, wenn auch vielleicht nicht die Welt verbessern, aber nicht ohne Zuversicht.

Nicht jeder Mensch wird zu jedem Zeitpunkt tolerant und optimistisch sein können. Aber aus diesem menschlichen Makel (Philip Roth) kann man keine Theorie gewinnen, dieser Fakt sollte nicht willkürlich zur Norm erhoben werden. Der Makel ist ja – im Gegenteil – nur ein Merkmal unter vielen, auf den sich der Mensch selbst gern fokussiert und auf den er gern von anderen fokussiert wird. So gesehen ist Intoleranz immer ein Mangel an Zuversicht, die aber, im Gegenteil zu Informationen, nicht immer leicht zu beschaffen ist. Das Leben ist nicht so rational, wie wir es uns wünschen. Demzufolge ist es auch nicht so leicht änderbar, wie uns manchmal scheinen will. Aber es ist auch nicht unveränderbar. Man muss nicht alles so hinnehmen, wie es gegeben wird. Das Leben unserer westlich-nördlichen Gesellschaften ist in den letzten zweihundert Jahren immer mehr in die Richtung von Wohlstand, Demokratie, Freiheit, Zufriedenheit gegangen. Trotzdem kann jeder einzelne Faktor immer wieder in die Krise geraten. Je ärmer die Menschen waren, desto sicherer konnten sie davon ausgehen, dass es sich nicht so schnell verändern wird. Je reicher die Menschen sind, desto mehr Unsicherheit akkumuliert und setzt sich wie Schimmel auf das Geld im Keller. Die hysterische Angst vor dem Verlust des Bargelds ist die Angst vor dem Verlust des Wohlstands. Das Organ oder das Attribut der Angst ist die Intoleranz. Es schwindet scheinbar nicht nur der Glaube an Gott, sondern mit ihm auch der Glaube an die Solidarität. Aber wer will übrigens wissen, woran wir nördlich-westlichen Menschen glauben? Und wer weiß, woran die südlich-östlichen Menschen glauben? Wenn all die Befürchtungen über verloren gegangene Werte stimmen würden, müsste das Leben deutlich schlechter werden. Aber es wird, zum Glück für uns alle und auch durch unsere kollektiven Anstrengungen, leichter und schöner.

Würden wir uns Wale, Wölfe und Elefanten, statt sie zu töten oder jedenfalls töten zu wollen, genauer ansehen, dann wüssten wir, woher unsere Empathie stammt. Sie ist das Fundament jeglichen Zusammenlebens, und Leben ist immer Zusammenleben. Zusammenleben ist immer Makel, Böses, Gutes, Empathie, Nächstenliebe, Paradox der Nächstenliebe. Dieses Zusammenleben geht nur mit Toleranz, man muss sich aushalten, wir können uns nicht gegenseitig aussuchen oder gar ausschließen. Auch Eremiten konnten nur überleben, weil sie toleriert wurden.

EMPATHIE STATT EMPHASE

 

Nr.  250

Nach dem letzten großen Krieg hat man in Deutschland genauso wie in vielen anderen Ländern hunderte von Kriegsfilmen gesehen. Allerdings war die gewünschte und vorgegebene, durch Kritik und Schule unterstützte und privilegierte Interpretation seitenverkehrt. Die deutsche Seite des Krieges wurde als das beschrieben, was sie war: grausam, unrecht, massenmörderisch. Die alliierte Seite wurde als edel, überlegen und siegreich beschrieben. Lange Zeit wurden Kriegsverbrechen der alliierten Seite ausgespart oder gar tabuisiert, edles Verhalten der deutschen Seite und ihrer Verbündeten verschwiegen. Das änderte sich erst mit Spielbergs Film ‚Schindlers Liste‘ von 1993.

Das dadurch entstandene Fühlen und Denken vieler Menschen in Deutschland wird von der rechten Seite als ‚Schuldkult‘ diskreditiert, was seinen vorläufigen Höhepunkt in der unsagbaren Rede des Bernd Höcke in Dresden am 17. Januar 2017 fand. Die rechte Seite meint seit langem, seit neuestem aber laut und aggressiv, dass sich die Deutschen durch diese seitenverkehrte Interpretation in eine unterwürfige, masochistische Rolle begeben hätten. Weiter kann dann eine Hörigkeit gegenüber den früheren Alliierten konstruiert werden, die alten antisemitischen Klischees können eine Rolle spielen, vor allem aber kommt die alte sozialdarwinistische Sicht wieder zum Vorschein. Da viele Rechte damals wie heute sich nicht auf einer durchschnittlichen Höhe der Bildung befinden, glauben viele von ihnen, dass Sozialdarwinismus Tatsache sei und keine Ansicht oder Theorie. Hitler und Himmler waren vielleicht die wirkmächtigsten Sozialdarwinisten, aber keineswegs die einzigen. Hundertundfünfzig Jahre Evidenz des Sozialdarwinismus haben dauerhafte Wirkung hervorgebracht. Die ständigen Vergleiche Höckes mit Goebbels sind völlig überzogen, Goebbels war ein fanatischer, aber doch auch restintellektueller Redner. Höckes Rhetorik dagegen erreicht noch nicht einmal die eines normalen Oberstudienrates, der er angeblich war, was dem hessischen Bildungswesen zur Schande gereicht.

Wahrscheinlich ist aber etwas ganz anderes passiert. Nur in Westdeutschland wurde von den drei westlichen Besatzungsmächten die Demokratie installiert, in Ostdeutschland dagegen wechselte die zweite Diktatur die erste einfach ab. Das war insofern im Einzelfall bizarr, indem Menschen glaubten, dass sie nun aber wirklich die Wahrheit besäßen. Ein pensionierter, 1945 reaktivierter Lehrer quittierte seinen Dienst erneut, als er von einem kleinen Mädchen gefragt wurde, warum denn Stalin, wenn er doch ein so guter Mensch und im Besitz der Wahrheit wäre, ihren Vater nicht freiließe.  Weder eine psyeudowissenschaftliche Ideologie noch die Demokratie entsprechen einer Wahrheit genannten scheinbaren Übereinstimmung so genannter Fakten mit den Gedanken, kürzer gesagt: es gibt keine Wahrheit. Aber es gibt einerseits Evidenz, das augenscheinlich oder empirisch Erkennbare und auf der anderen Seite die Einübung sozialen Verhaltens. Was wir als Fakt wahrnehmen, wird sofort einem Check unserer Erfahrung, Wahrscheinlichkeit, Evidenz, Wünschbarkeit (…jedes Denken ist Wunsch…), sozialen Grammatik, nicht zuletzt Taktik und Rhetorik unterworfen.  Das Denkbare ist nicht das Sagbare ist nicht das Machbare ist nicht das Wünschbare. Daraus leiten alle Ideologien ab, dass es auch nicht bezweifelbare Dinge gibt. Auch eine noch so universell scheinende Methode wie die Dialektik hat letztlich voraussagbare Ergebnisse, zum Beispiel, dass aus quantitativen Veränderungen qualitative entstünden. Das führt in die quantenmechanische Diskussion hinein, inwiefern das Verhalten der Dinge, insbesondere der Elementarteilchen, gesetzmäßig, also vorhersehbar sei. Dieser Diskurs hält seit Bohr, Heisenberg und Einstein an. Wir können nur schwer an die Willkür des Faktischen geschweige denn seine normative Kraft oder den Zufall glauben.  Gesetze, Götter und Identitäten sind uns lieber.

Wahrscheinlich ist also passiert, dass wir durch Literatur und  Filme, durch Geschichtsbetrachtung und Interpretation in siebzig Jahren gelernt haben, uns in das einzufühlen, was unsere Vorfahren noch als feindlich empfunden haben, ob es ihnen nun eingeredet worden oder tatsächlich in ihr Bewusstsein übergegangen war.  Erst im zwanzigsten Jahrhundert dämmerte der Gedanke auf, dass Solidarität einen evolutionären Vorteil bringt, obwohl die Gewaltlosigkeit Bestandteil vieler Religionen, vor allem aber des ursprünglichen Christentums ist. Krieg scheint immer die schnellere Lösung zu sein. Allerdings verkennen alle Kriegsapologeten, dass es keine Sieger gibt. Jedesmal wenn man sich auf den wohl eher sagenhaften König Pyrrhos beruft, wird nachgefragt, wer das sei. Dagegen kennen alle Hannibal und seinen scheinbar siegreichen Gegner Scipio Africanus, Wallenstein und Gustav II. Adolf, ein Krieger, nachdem sogar Kirchen benannt sind, in denen wahrscheinlich steht: wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. Selbst Rommel und Eisenhower sind bekannter als Pyrrhos.

Wenn wir weiter aufhören würden, die Menschen nach ihrer Herkunft zu klassifizieren und schneller auf die Sprache der Täter verzichten könnten, so sollten wir auf diesem Weg der Vermenschlichung der menschlichen Gesellschaft auch besser vorankommen. Für unsere Gesellschaft ist es nicht wichtig, wo ein Mensch herkommt, sondern wo er hinwill. Will er Mitglied unserer empathischen Solidargemeinschaft werden, so ist er willkommen, egal ob er durch Geburt oder durch Migration hergekommen ist. Will er nicht Mitglied dieser Gemeinschaft werden, haben wir ein Problem, das wir nicht durch Ausschluss lösen können, auch nicht durch verbalen Ausschluss. Wir können annehmen, dass das Erstarken rechter Gruppierungen auch durch den ständigen verbalen Ausschluss durch die demokratische und pluralistische Gesellschaft ermöglicht wurde. Empathie ist also einerseits die Voraussetzung, andererseits das Ergebnis seitenverkehrter Interpretation, pluralistischen Handelns und demokratischer Voraussetzungen. Es handelt sich um eine permanente Unumkehrbarkeit und Unvorhersehbarkeit sozialer Prozesse, einfacher gesagt, gibt es eben keine Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen und jedes Handeln hat Folgen, auch wenn wir sie nicht sehen oder sogar nicht sehen können. Wir sollten statt WOHER lieber WOHIN fragen, aber beides ist nur schwer beantwortbar.  Sir Karl Poppers Konzept der offenen Gesellschaft (das Buch erschien 1945) muss um diesen Aspekt erweitert werden: die Erziehung zur Einfühlung. Demzufolge ist es kein Zufall, sondern  notwendige Folge des bisherigen Handelns der letzten siebzig Jahre, dass es zu einer Renaissance des Fahrrads kam und dass wir uns von der Massentierhaltung abwenden. Dass es in Europa keinen Krieg mehr geben wird und wir immer mehr zu einer multinationalen und multikulturellen empathischen Gemeinschaft werden, die daraus folgend nur demokratisch, pluralistisch und offen sein kann, ist wünschenswert und absehbar. Das Ziel jeder Bildung ist soziale Durchlässigkeit. Nicht der Reiche steht dem gegenüber, sondern der Ignorant.

Der Mensch ist kein Mann deutscher, heterosexueller, rechtshändischer, unbezweifelbarer, weißer,  starker und siegessicherer Herkunft, sondern eine fragile Existenz. Es gibt keine Identitäten, sondern nur Entitäten.

Dass einige hundert Kriegsfilme solch einen Fortschritt gebracht haben, lässt hoffen.