VOM WARTEN AM SCHWARZEN NETTO

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Hier ist nicht einfach die Kirche von Fürstenberg an der Havel abgebildet. Um eine gedankenlose Postkarte zu sein, hat das Bild zwei Elemente zu viel: die Frau und die Pergola.

Eine alte Frau sitzt auf einer Bank und wartet. Sie schwebt zwischen Leben und Tod. Das Leben ist der Supermarkt hinter ihr, aus gelben Klinkern gebaut und mit einer Pergola verziert, die die räumliche Distanz zur neogotischen gegenüberliegenden Kirche verstärkt. Der Stil der Kirche verweist auf die ältere Gotik, auf das längst vergangene Leben, auf den Tod,  das Baumaterial auf die neuere Zeit, als in den Tongruben von Zehdenick und den Hoffmannsöfen von Mildenberg die Reichshauptstadt Berlin antizipiert wurde, und eben auch diese wunderschöne Kirche. Ihr Baumeister liebte Wimperge und Fialen. Seine schlanken Türme erinnern an Minarette, eine Bauauffassung, die mit dem maurischen Stil zum zweiten Mal in Europa Fuß fassen konnte, und die heute – wie durch ein Wunder – zu den allgegenwärtigen und allseits beliebten Istanbul- und Kappadokia-Grill- und Imbissstätten passen.

Vor der alten Frau liegt ihre Vergangenheit, hinter ihr die Gegenwart und Zukunft. In der Kirche wurde sie mit heute meist unverständlichen Ritualen an einen Kulturtyp gebunden, der, wenn er als Monopol und mit dem Staat verknüpft auftritt, übermächtig, einmalig und ausschließend erscheint und zur Segregation einlädt. Auf der anderen Seite des Schwedtsees war einer der Tiefpunkte dieser Richtung, das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Dort begegneten sich, wenn auch nur kurz und nicht synchron, Nina Gräfin Schenk von Stauffenberg, Rosa Thälmann, Margarete Buber-Neumann und Milena Jesenská, die Antagonistinnen des Nationalsozialismus waren genauso heterogen wie die Protagonisten. Aber noch vor kurzem, in der besten Zeit der alten Frau auf der Bank,  marschierten durch diese Stadt blutjunge russische Soldaten mit martialischer Blasmusik, dafür wurde an jedem Abend die B 96 (damals F 96) gesperrt. Wenn sie nicht gerade durch das Städtchen marschierten, bewachten sie die Atomsprengköpfe, mit denen Putin jetzt die Ukraine und uns bedroht.

Vielleicht erscheint der alten Frau das Verschwinden dieser eigenartigerweise vor ihr liegenden Vergangenheit wie das Verblassen eines Traums am frühen Morgen. Das wirkliche Wunder ihres Lebens liegt aber hinter ihr: der Supermarkt, der durch die Pergola und die gelben Klinker mit der Kirche eine Einheit bilden will, aber doch ihr genaues Gegenteil ist. Es ist ein mittlerweile auch schon arg abgegriffenes Bild, dass die Kaufhäuser und Supermärkte die Konsumkathedralen des Anthropozäns sind. Für die alte Frau, die in diesem Spannungsfeld ganz entspannt sitzt und mit einiger Wahrscheinlichkeit auf ihre Enkel oder eine Freundin wartet, ist der Supermarkt ohnehin weit mehr: er ist, ohne dass sie es gleich gemerkt hätte, die Erfüllung fast aller ihrer Träume. Sie hat genügend Geld, um sich an jedem Tag, den ihr der liebe Gott von gegenüber schenkt, alles, was sie braucht, kaufen zu können. In diesem Supermarkt, zu dem sie viel lieber Kaufhalle sagen würde und auch oft sagt, gibt es das alles – und noch viel mehr – aus mehreren Dutzend Ländern, Dinge und Länder, die sie früher nicht kannte. Aber warum gibt es weit mehr als man braucht? Einer ihrer Enkel hat ihr das in einem langen Vortrag, sie hört ihm sehr gerne zu, erklärt: your comfort zone will kill you. Junge, sprich deutsch mit mir, sagt sie dann gespielt echauffiert. Denn in Wirklichkeit ist sie stolz und froh: noch vorgestern kam ihr Vater aus französischer Kriegsgefangenschaft, noch gestern marschierten hier die Russen und schon heute erklärt der Enkel ihr die Welt auf Englisch und sie knabbern dazu Biskuits aus Italien oder Polen. Der Supermarkt bietet mehr an als wir brauchen können, weil wir mehr kaufen sollen als wir essen. Der Kapitalismus strebt nach Maximalprofit und beruht auf Maximalkonsum, und deswegen, Großmutter, sind wir beide genauso schuld wie Dieter Schwarz. Bist du denn jetzt Kommunist? Nein, ein Grüner.  

Die dazwischenliegende Straße ist genauso umstritten wie die Kirche und der Markt. Alles, was einst Segen war, wird zum Fluch. Wir können wohl mit dem Mangel besser umgehen als mit dem Überfluss. Uns tötet nicht der Hunger, sondern die Gier. Es kann nicht falsch sein, in der Idylle über Auswege aus dem Chaos nachzudenken.