Червона Шапочка

DAS NEUE ROTKÄPPCHEN

In einem kleinen Dorf wohnte ein Mädchen, das immer eine rote Kappe trug. Es wurde deshalb Rotkäppchen genannt. Eines Tages sagte die Mutter zu dem Mädchen: ‚Rotkäppchen, die Großmutter ist sehr krank und ich habe keine Zeit. Gehe du zu ihr und besuche sie. Ich packe Kuchen und Wein, damit die Großmutter wieder zu Kräften kommt.‘

Die Großmutter wohnte aber in einem Wald, drei Kilometer von dem Dorf entfernt. Deshalb sagte die Mutter: ‚Rotkäppchen, du weißt, dass in dem Wald auch der böse Wolf wohnt. Wenn du den Weg verlässt, wird er dich fressen.‘ Rotkäppchen versprach aufzupassen. Aber in Wirklichkeit hatte es keine Angst, denn es ging gerne durch den Wald und hatte dort noch nie einen Wolf gesehen.

Als nun Rotkäppchen im Wald war, bemerkte es dort schöne Blumen. Rotkäppchen wollte für die Großmutter Blumen mitnehmen, denn die Großmutter liebte Blumen über alles und arbeitete gerne in ihrem Garten. Aber erst einmal musste sie wieder gesund werden.

Rotkäppchen pflückte Blumen, da hörte sie eine tiefe Stimme. War das nicht ein Wolf? Und stand neben ihm nicht eine Ziege?

Der Wolf sagte zu der Ziege: ‚Ich bin nicht böse. Ich fresse nie dein Gras. Es wäre also nur gerecht, wenn du mir ohne Gewalt dein Fleisch geben würdest.‘

Die Ziege antwortete: ‚Nein. Man kann nicht das Leben gegen die Freiheit tauschen. Ich habe Hörner und ich habe Hufe. Ich werde so lange gegen dich kämpfen, bis du verschwindest.‘

Rotkäppchen nahm schnell den Korb mit dem Kuchen und dem Wein und ihre Blumen und rannte so schnell sie konnte zu dem kleinen Haus ihrer Großmutter.

‚Großmutter‘, rief sie, ‚ich habe den Wolf gesehen und gehört. Er ist nicht nur böse, sondern auch dumm. Er wollte die Ziege überreden, sich fressen zu lassen.‘

Der Großmutter ging es schon viel besser. Sie setzte sich im Bett auf und sagte: ‚Rotkäppchen, wenn du allen Kindern der Welt auf Facebook schreibst, was du heute erlebt hast, dann wird es Frieden für alle Menschen und für alle Zeit geben. Kein Mensch ist besser als der andere, kein Land ist schöner als das andere. Niemand darf lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.‘

Und so ging Rotkäppchen nach Hause und schrieb in ihrem Computer: WAS DU NICHT WILLST, DASS MAN DIR TU, DAS FÜG AUCH KEINEM ANDERN ZU*. Und sie schickte es an alle Kinder der Welt. Und als die erwachsen waren, gab es nur noch Frieden.

Що робити або Червона Шапочка в часи російсько-української війни

В одному маленькому селі жила дівчинка, яка завжди носила червону шапочку. Саме тому назвали її Червона Шапочка. Одного дня мати до неї каже: «Червона Шапочко, твоя бабуся захворіла, а у мене зовсім немає часу. Піди, будь ласка, та провідай її. Я спакую тобі печиво та вина, щоб бабуся швидше одужала.

Але бабуся жила у лісі, що за три кілометри від села, тому мати наголосила: «Червона Шапочко, ти ж знаєш, що у лісі живе злий Вовк. Якщо ти зіб’єшся зі шляху, він з’їсть тебе.» Червона Шапочка пообіцяла вважати на себе, але насправді вона не боялася, тому що дуже любила гуляти в лісі і ще жодного разу не зустріла там вовка.

Коли вже Червона Шапочка була у лісі, вона помітила багато квітів. Вона захотіла зірвати їх для бабусі, адже бабуся понад усе на світі любила квіти та працювати в своєму садку, тільки для цього їй потрібно було спочатку одужати. Червона Шапочка рвала квіти, аж раптом почула голос. Чи це не був Вовк? І чи це не Коза стоїть поруч з ним? Вовк саме промовляв до Кози: «Я не злий. Я не з’їм твоєї трави. Але це буде по-чесному, якщо ти без жодного пручання віддаси мені своє м’ясо.»*

Коза відповіла: «Ні. Не можна проміняти своє життя на свободу. У мене є роги та копита і я буду боротись з тобою доти, доки ти не зникнеш.»

Червона Шапочка схопила швиденько свою корзинку з печивом та вином, квіти та побігла щодуху до маленького будиночку своєї бабусі.

«Бабусю!», – закричала вона, – «Я бачила та чула Вовка. Він не лише злий, а ще й дурний! Він хотів вмовити Козу, щоб та дозволила себе з’їсти.» Бабуся вже почувала себе краще. Вона припіднялася з ліжка і промовила:

«Червона Шапочко, якщо ти всім дітям на світі напишеш в Фейсбуці, що ти сьогодні пережила, тоді запанує на світі мир на всі часи. Жодна людина не є краща за іншу і жодна країна не є гарніша ніж інша. Ніхто не може брехати заради своєї вигоди.»

Тому Червона Шапочка пішла додому і написала в своєму комп’ютері: ЧОГО НЕ ХОЧЕШ, ЩОБ ЧИНИЛИ ТОБІ, НЕ ЧИНИ ІНШОМУ.** Вона вислала це всім дітям на світі і коли вона вже була дорослою, на світі панував Мир.

                   рст

*за ідеєю Карла Чапека

** Золоті Правила

Переклад: Аліна-Марія Сенюх

MERKELS MEMOIREN

Warum Merkels Memoiren ‚Freiheit‘ heißen, kann gut mit ihrer Herkunft aus dem Osten, mit ihrem Aggregatzustand als Frau erklärt werden. In ihrer ersten Regierungserklärung bezog sie sich auf Willy Brandts erste Regierungserklärung, in der er ‚mehr Demokratie [zu] wagen‘ versprach. Sie wollte ‚mehr Freiheit wagen‘. Die Frage ist nun, warum eine law-and-order-Partei sich die Freiheit auf die Fahne schreibt. Partei und Parteivorsitzende sind nicht identisch, wie man leicht an der SPD studieren kann, die hat auf der einen Seite Bebel und Brandt hervorgebracht, auf der anderen Seite aber auch unterirdische Figuren wie Lafontaine und Scharping. Später ist Merkel unterstellt worden, sie hätte die CDU sozialdemokratisiert, von rechts in dieselbe Mitte transferiert, die kurz vor ihr Schröder und Blair, auch sie Parteivorsitzende, für ihre Parteien reserviert hatten.

Tatsächlich aber ist Merkel durch eine Verkettung für sie günstiger Zufälle an die Spitze von Partei und Land geraten, genauso wie Schröder aus seiner Armensiedlung. Biografien sind so wenig geradlinige Prozesse wie die Geschichte selbst. Die Koinzidenz von Person und Ereignis ist selbstverständlich zufällig und irrational. Deshalb gibt es Mathematik: um das Irrationale doch und irgendwie abzubilden. Deshalb ist einer der ersten Schlüsselsätze von Angela Merkel, dass sie zwar eine Wissenschaftlerin war, aber Gefahr lief, nicht bemerkt zu werden. Deshalb ist ihr Leben gegenüber reinen Parteisoldaten schon von vornherein abgehoben.

Für die ganze Klasse der rheinisch-katholischen Männer-CDU war Merkels Leben bis 1989 höchst erklärungsbedürftig. Mit der Spendenaffäre Kohls war andererseits ebendieser Männerzirkel an seine Toleranzgrenzen gelangt. Und drittens schließlich war das ganze Projekt der Volksparteien sichtlich beendet. Sie konnten nur noch um dieselbe Mitte kreisen. Die neuerliche Diskussion um den §218, den 80% der Bevölkerung abgeschafft sehen möchten, zeigt, wie weit die Bewahrungspartei sich von der Bewegungsbewegung entfernt hat, die in der Heimholung der Flüchtlinge des Sommers 2015 kulminierte. Unter Heimholung (‚Heim ins Reich‘) verstand man bis dahin irredentistische aggressive Akte wie die Rückeroberung des Saarlands, des Sudetenlands oder danach des Donbass. Merkel – in Absprache mit dem sozialdemokratischen österreichischen Kanzler Faymann – stellte dieses Prinzip vom Kopf auf die Füße: gerettet oder heimgeholt werden muss, wer sich in einer Notlage befindet. Es ging nicht um die allerdings sehr große Anzahl der Flüchtlinge dieses Jahres, sondern um jene, die von Viktor Orban auf die Straße – auf die Autobahn – getrieben worden waren: mehrere tausend Menschen, die schon eine dramatische Flucht vor allem auch aus Syrien[1] hinter sich hatten und denen nun zunächst Busse und dann Sonderzüge entgegengeschickt wurden. Die Bilder von ihrer Ankunft in München gingen um die Welt und zeigten Deutschland als Heimat der Menschlichkeit. Das hinderte aber die Bewahrungspartei, damals noch von Horst Seehofer, jetzt von Höcke, Weidel und Wagenknecht angeführt, nicht, entgegen dem offensichtlichen Willen einer Mehrheit auf dem Prinzip zu beharren, es zu bewahren, statt auf das Leben zu sehen und zu hören und etwas zu bewegen. Angela Merkel schreibt schon im Prolog ihres voluminösen Buches, dass die Rechtfertigung dieser weltpolitischen Szene der eigentliche Anlass für das bemerkenswert ausführliche, aber doch auch sehr schnelle Schreiben dieser Memoiren war. Diese Passagen sind auch spannend geschrieben, die eigene Erinnerung und der Text laufen über viele dutzende von Seiten synchron.

Die evangelischen Pfarrer in der DDR waren grob in zwei Gruppen geordnet vorstellbar: die Widerstandskämpfer, deren Konsequenz dann Gefängnis oder Brüsewitz-Syndrom[2] sein musste, und die Opportunisten, die mehr oder weniger mit der Schönherr-Formel ‚Kirche im Sozialismus‘ lebten. Zu denen gehörte auch der Vater von Angela Merkel, Horst Kasner, der noch dazu nicht Gemeindepfarrer, sondern Leiter eines Pastoralkollegs war, einer Fortbildungsstätte für Pfarrer. Das war der Verknüpfungspunkt der Merkel-Biografie mit der DDR-Geschichte, und nicht etwa, wie später vor allem von Pegida, AfD und Corona-Leugnern behauptet wurde, ihre Involvierung in die FDJ. Die FDJ war, außer in den Anfangsjahren der DDR, eher lächerlich. Die militaristische Infiltration oblag der GST, nicht der FDJ. So kann Merkel ihre Kindheit und Jugend glaubhaft und ohne Brüche als Idylle schildern. Zudem war sie eine Musterschülerin, die ihren Mangel an gesellschaftlichem Engagement durch die Teilnahme an den Russischolympiaden kompensieren konnte. Zur gleichen Zeit lernte in Dresden ein KGB-Offizier Deutsch. Im Gegensatz zu Merkel war und ist Putin geprägt von seiner Vergangenheit in einem Leningrader Hinterhof, dort im Kampf mit Ratten und Kriminellen, und später durch seine Ausbildung in einem der repressivsten Geheimdienste. Das war kein gutes Omen und schon gar keine Idylle.

Erst nach dem Studium kollidierte Merkel das erste Mal mit dem Staat, als sie in Ilmenau promovieren, aber nicht auf die Teilnahme an der evangelischen Studentengemeinde verzichten wollte und ebenso wenig bereit war, in dieser Gemeinde für die Staatssicherheit zu spionieren.

Ich habe nie CDU gewählt, auch nicht während ihrer Kanzlerschaft, mich interessierten an ihr nur die zeitliche und räumliche Nähe unserer Lebenswege und ihre überdurchschnittliche Fähigkeit, Krisen zu meistern. Nachdem ihre Ehe mit dem namensgebenden Dr. Merkel beendet war, eine Studentenliebe nennt sie sie, kam sie mit Dr. Sauer zusammen, der später ein bedeutender Chemiker und Professor wurde. Die eher provisorischen Altbauwohnungen in Ostberlin ergänzten die beiden bald – noch in der DDR-Zeit – durch den Ausbau eines nach 1945 von Umsiedlern, wie es bei uns hieß, oder Vertriebenen, wie sie im Westen genannt wurden, gebauten Hauses, das der Bauzeit und den Umständen entsprechend in einem schlechten Zustand war. Darin wohnen die beiden, neben der Wohnung gegenüber dem Pergamonmuseum, noch heute. Das ist der ganze Luxus der einst mächtigsten Frau der Welt.

Ausführlich beschreibt sie das Krisenmanagement, durch das sie weltberühmt wurde, jedenfalls in Politikerkreisen und dem interessierten Publikum. Die Griechenlandkrise, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch Lehman Brothers ausgelöst worden war, die Flüchtlingskrise und schließlich die Pandemie hat sie mit dem Stoizismus der märkischen Hausfrau, die sie auch ist, überstanden.

Während man gut verstehen kann, warum sich in der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine rechtskonservative Opposition bildete, bleibt dieses Verständnis während der Pandemie aus und wird von Merkel auch leider nicht vertieft. Selbst die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten wurden in vielen Städten und Dörfern unfreundlich bis feindselig aufgenommen. Mit dem Schimpfwort ‚Zigeuner‘ sollte wohl ausgedrückt werden, dass ihnen ein Mangel an Sesshaftigkeit nachgesagt werden kann. Flucht ist immer mit tatsächlichem Verlust auf Seiten der Flüchtlinge und Verlustangst auf Seiten der aufnehmenden Gesellschaft verbunden. Merkel und Faymann haben mit ihren – auch gegen die Dublin-Vereinbarungen verstoßenden – Entschlüssen einen größeren, menschlichen und auch christlichen Zusammenhang hergestellt, wie das in der Politik wahrlich selten ist. Die Bildung von teils recht aggressiven Oppositionen ist zwar nicht richtig und auch nicht verständlich, aber doch wenigstens verstehbar. Geld wird immer wieder als Pool, als endliche Menge vorgestellt. Wie vieles im Leben und in der Geschichte ist Geld aber ein Fluss. Die Billionen Euro, die durch Merkels umfangreiche Memoiren fließen und durch ihre Hände flossen, zeigen, wie falsch unsere absoluten Begriffe vom relativen Geld sind. Mir bleiben dagegen die Protestanten gegen die Pandemie-Maßnahmen bis heute ein Rätsel, da wir alle, die Politiker wie das Wahlvolk, nicht wissen konnten, was richtig und was falsch ist. Selbst Aktionismus war besser als abwarten oder vertuschen, wie es während der Spanischen Grippe, begünstigt durch den gleichzeitigen ersten Weltkrieg gang und gäbe war.

Die siebenhunderteinundzwanzig Seiten der Merkel-Memoiren zeigen, dass der Mensch, sei er nun Regierender oder Oppositioneller, nicht allwissend ist. Zum Leben gehört immer auch ein Grundvertrauen. Empörung ist keine Lösung, noch nicht einmal eine Option. Alternativlos ist nichts, aber nicht jede Wut ist schon eine Alternative. Wenn auch das letzte Drittel des Buches, wie auch schon vorher ein Abschnitt, wie der abgeschriebene Terminkalender wirkt, so bleibt es doch in seiner Gesamtheit nicht nur gut lesbar, sondern auch erhellend. In die Geschichte eingehen wird Angela Merkel mit ihren berühmtesten drei Worten, dem Credo aller Pragmatiker: WIR SCHAFFEN DAS.  

      


[1] Gerade heute [8. Dezember 2024], als ich das schreibe, wurde endlich der syrische Diktator Bashar al Assad gestürzt. Die neue Herrschaft muss nicht – aber kann – besser sein als die alte, aber es gibt einen Bösen weniger auf der Welt.

[2] Oskar Brüsewitz, umstrittener evangelischer Pfarrer, der sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche in Zeitz selbst verbrannte

DIE WELT, DIE FUGEN UND DIE HOFFNUNG

The time is out of joint, o cursed spite,

that ever I was born to set it right.

SHAKESPEARE, Hamlet, I5

Plädoyer für Dankbarkeit, Demut, Muße, Heiterkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Auf der einen Seite war sie noch nie ‚in den Fugen‘, auf der anderen Seite sagt diesen berühmten Satz eine Kunstfigur, ein Zauderer mit Atemnot, der sich noch nicht einmal für die Frau entscheiden kann, die ihn liebt. Er schickt also sie in den Wahnsinn und die Welt in das Chaos. Aber da ist die Welt schon. In dem berühmten Theaterstück werden Politiker gezeigt, die damals mit Mord und Totschlag, heute mit Filz und Fake ihre kleine Politik besserwisserisch durchsetzen wollen, nicht, weil sie besonders schlecht und böse wären, sondern weil sie Menschen sind wie du und ich. Aber wir, die Konsumenten von Politik, sind andere geworden. Wir sind keine Analphabeten mehr, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Wir sind keine unmündigen Elemente eines zwar funktionierenden, aber doch hierarchisch-autoritären Systems. Das nächste ABER muss gleich folgen: und autoritäre und hierarchische Systeme funktionieren nur soweit und solange ihr Zusammenbruch mit drastischen Strafen vorweggenommen und gleichzeitig zu verhindern versucht wird. Wer das System bedroht, wird bedroht. Dadurch verrohen die, wie Rousseau meinte, anfangs idealen Sitten. Die Demokratie versucht nun das Gegenteil, sie macht die Menschen nicht nur mündig, sondern auch zu Produzenten der Verhältnisse. Allerdings stößt sie dabei auf fast gleich erbitterte Widerstände wie seinerzeit und seinesorts der Autoritarismus. Gegen ihn richtet sich der Freiheitswille des Individuums, den man an jeder Stubenfliege am Fenster beobachten kann, an jedem Käfer im Glas. Gegen die Freiheit der Demokratie richtet sich der Ordnungszwang, dem wir ebenso unterliegen. Wir glauben, und alle Religionen und Philosophien bestärken uns in diesem Glauben seit Jahrtausenden, dass die Welt ursprünglich oder eigentlich geordnet, aber durch den bösen Willen und Unverstand immer wieder ins Chaos abzurutschen gefährdet sei. Das ist der Grund, warum sich jede Ordnung, sei sie nun autoritär oder liberal, für alternativlos erklärt. Das gilt im Übrigen auch für Texte. Man könnte keine Politik machen, wenn man an Alternativen glaubte. Man muss sich für richtig halten, wenn man etwas tun will. Wenn man sich alte Bundestagsdebatten anhört, dann kann man das sehr schön illustriert finden: jeder Redner – zum Beispiel Strauß und Wehner – geht zwar auf die Argumente der anderen Seite ein, aber nur, um festzustellen, dass lediglich die eigene Politik das Problem lösen kann und wird.

Es gibt allerdings zwei Auswege, die sich natürlich, wie alles auf der Welt, überschneiden und nicht etwa unversöhnlich gegenüberstehen. Das Wort unversöhnlich scheint einen gemeinsamen Sohn doch nur auszuschließen, denn praktisch, das weiß jeder, gibt es, wo Menschen aufeinandertreffen, immer auch Söhne und Töchter. Der erste Ausweg sind charismatische Führer.

1

Führer scheut Diskurs.

[Arbeitshypothese: Könnten die Führer die Lösung sein, wenn sie den Diskurs zuließen?]

Sie demonstrieren ihre Macht und glauben, dass jedes Problem mit ebendieser Macht zu lösen sei. Aber die Macht ist nur eine taube Nuss, ebenso wie das Talent, wenn es keinen Inhalt, keinen Fleiß, kein Abarbeiten der Einzelfälle gibt. Es hilft selbstverständlich nicht, wenn die Menschen nur in Gruppen eingeteilt werden: Freund und Feind, Mann und Frau, innen und außen, schwarz und weiß, rechts und links. Das Charisma des Führers erlaubt die einfachen, unglaubwürdigen Lösungen. Aus Erfahrung weiß man eigentlich, dass es nicht geht. Alle autoritären Gesellschaften verweisen deshalb auf die Weisheit des Führers (DAS KARPATENGENIE) oder der führenden Gruppe (DIE PARTEI DIE PARTEI DIE HAT IMMER RECHT), denn: bei aller Rechthaberei oder Besserwisserei, wer bezeichnet sich selbst schon als weise? Darauf setzt die Autorität. Sie glaubt, dass sie nur durch Gegengewalt gestürzt werden kann. Tatsächlich aber haben sich alle Diktaturen durch ihre Inkompetenz selbst gestürzt. Das Hitlerreich hat die eigenen Kirchtürme bombardiert, um nicht zugeben zu müssen, dass es zurecht verlor; das zusammenbrechende Sowjetreich hat, hier bei uns, alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen, wohlwissend, dass es in die Armut zurücktorpediert würde.

Putin bombardierte oder annektierte Tschetschenien, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, die Krim, den Donbass und Luhansk, Syrien, und schließlich die Ukraine, um zu verdecken, dass es im eigenen Land durch eigene Schuld für die ländliche Mehrheit weder WCs noch sonst einen Wohlstand gibt. Nationalismus braucht keinen Wohlstand, dafür reicht das Staatsfernsehen. Wohlstand braucht keinen Nationalismus, deshalb sind wir in jenem Staatsfernsehen das Beispiel für Dekadenz und Untergang. Die ganze Misere der Autokratie wird auf uns projiziert, und die genervten Bewohner der Autokratie sind getröstet, dass es den anderen – also uns – wenigstens schlechter geht als ihnen. Leider erleben wir seit drei Jahren als Zeugen einer erbärmlichen Geschichte mit, wie der Tyrann nicht nur seine Nachbarn und den lange herbeidiskutierten Konsens schwer beschädigt, sondern das eigene Land in den Orkus seines Untergangs mitreißt.

2

Diskurs scheut Führer.

[Arbeitshypothese: Könnte der Diskurs die Lösung sein, wenn er Führer zuließe?]

Der Diskurs demonstriert eher die Unmöglichkeit, ein Problem zu lösen als die Möglichkeit. Den Kompromiss empfinden viele Menschen als Schmach. Es ist schwer einzusehen, dass man selbst nicht recht hatte oder nichts zur Lösung beitragen konnte. Das Ausdiskutieren jedes Problems dauert manchmal Generationen. Bei uns in Deutschland wurde zum Beispiel der § 217 des Strafgesetzbuches, also die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, hundert Jahre lang diskutiert. Deshalb sehnen sich die Menschen in diskursiven Systemen so oft nach Ordnung, Charisma, vielleicht einfach nur nach Anhaltspunkten. Eine Demokratie ist also schlecht beraten, immer wieder aufs Neue, aus Kostengründen, wegen der Rationalität oder aus anderen Gründen, Ordnungen zu beseitigen. Demokratie ist ohnehin schon schwer zu verstehen, wenn dann auch noch die Kreisverwaltung schließt oder der Name des Heimatortes in eine anonyme Bezeichnung – ORTSTEIL – geändert wird, verlieren die Menschen Vertrauen und Orientierung.

Wenn einem Staatsvolk, dem ein intensiver Glauben an die Staatsmacht als Inbegriff nicht nur der notwendigen Bürokratie und Ordnung, sondern als pseudoreligiöse Allmacht abverlangt wurde, der Staat unter dem Boden verschwindet, so bricht nicht nur die Ordnung selbst zusammen, sondern verschwindet auch der Glaube an sie. Das scheint mir der Hauptunterschied zwischen West- und Ostdeutschen: auf der einen Seite Kontinuität, wo es sie nicht hätte geben dürfen, auf der anderen Seite unverdiente doppelte Diskontinuität, die als Progress gepriesen wurde.

Viele vermuten daher als Urheber von Ereignissen einen Masterplan oder sogar eine Weltherrschaft. Der Prinz in unserem Titelzitat beklagt nicht etwa, dass die Welt aus den Fugen, sondern dass ausgerechnet er dazu berufen sei, sie wieder in Ordnung zu bringen. So gesehen sind wir alle Egoisten. Wir glauben immer und überall, dass wir gemeint sind. Wir können uns nicht für anonym halten, weil wir einen Namen haben. Wir haben einfach vergessen, dass wir, um einen Namen zu haben, uns erst einen Namen machen müssen. Wer aber in der Demokratie seine Namenlosigkeit beklagt, wie will der in der Diktatur glücklich werden? Er kann nur erfolgreich sein durch den Ausschluss anderer, und das verbietet nicht nur die Menschlichkeit, sondern das verbieten auch alle Religionen und Philosophien, allerdings im Kleingedruckten. Der Preis des Sieges ist das, was man nicht hören will. Niemand lässt sich gerne belehren von Menschen, die unter ihm stehen. Wie soll er da verstehen, dass niemand unter ihm steht?

3

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Sie verbessert sich nur langsamer, als wir gehofft haben. Niemand ist allein berufen, die Welt zu verändern. Keiner kann allein die Probleme der Menschheit lösen. Nur der Diskurs selbst ist alternativlos, allerdings sollte er das Charisma zulassen. Charismatiker sollte man weder erschießen oder ans Kreuz nageln, weil man niemanden erschießen oder kreuzigen darf, noch unterdrücken, weil man niemanden unterdrücken sollte, noch nach ihrem Tod diskreditieren, weil man keinem Toten Schlechtes nachreden muss, denn man kann ihn nicht mehr ändern.

Vielmehr müssen wir lernen, den Diskurs und das Charisma auszuhalten. Unsere Medien sind nicht unsere Kompetenz, sondern nur unser Krückstock. Krückstock und Rollator* sind aber keine Wegweiser. Was also weder Politik noch Medien, leider aber auch nicht die Kirchen in ihrem bürokratischen Phlegma uns geben können, ist die dringend benötigte Hoffnung, von Zuversicht wollen wir gar nicht reden. Es bleibt eigentlich nur die Kunst, die allerdings quantitativ und qualitativ in eine nie dagewesene, fast inflationäre Riesendimension eingetreten ist, jegliches elitäre Merkmal für immer abgelegt hat, als das große Hoffnungsmedium.

Hoffnung ist sowohl eine ganz triviale Größe: wie viele hoffen auf einen Lottogewinn? Aber Hoffnung ist auch eine Kategorie der moralischen Oberklasse: das Neue Testament der Bibel stellt sie an die Seite des Glaubens und der Liebe**.

Glauben würden wir uns heute nicht (nur) als Mitgliedschaft in einer Glaubenskongregation vorstellen, wenn diese auch darauf insistieren. Glauben würden wir heute eher als ein Urvertrauen sehen wollen, das notwendigerweise mit den Eltern beginnt. Dabei ist die Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft nicht ausgeschlossen, aber auch nicht Bedingung. Jede Gemeinschaft drängt auf Hierarchie und Spaltung. Bei der Hierarchie ist die Bürokratie, die Ordnung, das Regelwerk eingeschlossen. Die Schismen entstehen sowohl durch den Diskurs als auch durch das Charisma der gewählten oder selbst ernannten Führer.

Es ist eines der größten Wunder der Liebe, dass sie sich im zwanzigsten Jahrhundert, das gleichzeitig der Tiefpunkt von Hass, Rache, Krieg, Mord und Totschlag war, das Auschwitz, My Lai, Waco (Texas), Gulag, Kulturrevolution hervorgebracht hat, so großer und wirkmächtiger Propheten oder Philosophen bedient hat: Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, James Baldwin. Sicher tut man dem Bösen unrecht, es so fragmentarisch aufzuführen, und erst recht dem Guten, das natürlich viel mehr Gute hervorgebracht hat. Es ging nur darum, das zwanzigste Jahrhundert nicht von seinem Makel als böse zu befreien, sondern es gleichzeitig auch als Ausgangspunkt der Liebe zu benennen. Die momentane Weltlage scheint dem zu widersprechen: die Autokraten formieren sich. Aber das täuscht. Es ist eine Krise der Demokratie, eine Krise des Diskurses, die Sehnsucht nach der Autorität verstärkt. Wenn der Diskurs in der Unkenntlichkeit der Beliebigkeit zu versinken droht, wird der Ruf nach Kontrapunkt und Führung laut. Es ist schon fast peinlich hinzuzufügen, dass bei uns in Deutschland die Bürokratie alles ersticken könnte, was an Edlem, Gutem und Hilfreichem hervorgebracht wurde.

Die Empathie ist die Schwester der Liebe und gleichzeitig das Bindeglied zur Hoffnung. Wenn es die krasseste Forderung ist, seine Feinde zu lieben, so ist das bis auf den heutigen Tag von allen Religionen und Philosophien verfehlt worden. Aber es ist auch keine Tatsachenbeschreibung, sondern eine Maxime. Ihre Verwirklichung setzt Empathie voraus. Zugegeben: Empathie ist auch ein Modewort, das aber seinen Ursprung im Mangel an Hoffnung hat. Würden wir uns in unsere Gegenüber besser einfühlen können, so müssen wir sie immer noch nicht lieben, aber es besteht Hoffnung.

Die Spaltung der Gesellschaften wird immer mehr vertieft durch das wachsende Unvermögen, sich in andere hineinzuversetzen. Individualisierung und Globalisierung stehen in Opposition zueinander. Leider wird viel Geld damit verdient, den Hass und die Angst zu forcieren. Die Demokratie und der Liberalismus müssen alle Meinungen erlauben und schützen. Alle Versuche, an diesen Grundprinzipien zu schrauben, führen zu ihrer Auflösung. Aber gegen Angst und Hass darf und muss man jederzeit argumentieren.

Deshalb muss die Hoffnung von außerhalb kommen, nicht von außerhalb der Gesellschaft, sondern von außerhalb der sich widersprechenden Gruppen. Es müsste einen Pool der Dankbarkeit, der Demut, der Muße, der Heiterkeit, der Freundlichkeit und der Hilfsbereitschaft geben. Mag sich jede und jeder heraussuchen, was ihrem und seinem Wesen gemäß ist, womit sie oder er in der Welt wirken will. Es klingt wie Sonntagspredigt, wird aber durch diesen Makel nicht unwahrer oder unwichtiger: Wenn jede/r ab morgen etwas besser ist als heute, wird die morgige Welt besser sein als die heutige. Wenn wir alle freundlicher sind, wird die Welt freundlicher. Von einer Gruppe Jugendlicher bin ich einmal gefragt worden, ob ich religiös bin, weil ich eine Gefälligkeit mit dem Satz begründete, dass man und frau jeden Tag eine gute Tat tun soll. Ist es nicht traurig, dass dieser schöne Satz nicht aus der Sonntagspredigt stammt, sondern von Lord Baden-Powell, dem Begründer der Boy Scouts?

Empathie mag ein Modewort sein, aber umso wichtiger ist die Botschaft, Empathie statt Emphase*** zu üben und zu stärken. Wenn wir dann auf dem berühmten Sterbebett oder wo immer wir bilanzieren wollen, sagen können, ja, die Zeit war durcheinander, aber ich habe daran gestellt, das wäre gut.  

*bei Kant heißt es noch ‚Gängelwagen‘

**1. Korinther 13

***Emphase = Verstärkung eines Gefühls, Ausruf;   Empathie = Einfühlung, Mitgefühl

1967

1967.1*

Vor fünfzig Jahren war das Jahr 1967, und alle diejenigen, die glauben, dass die Welt gerade jetzt aus den Fugen ist, sollten sich dieses Jahr ansehen. Hamlet glaubt wie so viele Menschen, dass ausgerechnet er all dieses Chaos nicht nur erlebt, sondern ordnen soll. Und da wird der bittere Zynismus offenbar: die Welt kann nicht aus den Fugen geraten, weil sie nie in den Fugen war. Die Welt ist kein Haus, und selbst wenn sie eines wäre, würde sie das Chaos beherbergen.

Was wir damals nicht wissen konnten, war, dass Stanley Milgram sein berühmtes Kleine-Welt-Phänomen in diesem Jahr entdeckt und begründet hat. Die Idee dazu hatte der ungarische Schriftsteller Frigyes Karinthy schon 1929, aber Milgram hat es experimentell bestätigt: Die Welt ist so klein, dass sechs kommunikative Schritte ausreichen, um einmal die Welt zu umrunden. Jeder kennt jeden. Alle Menschen wären Schwestern. Wir saßen unterdessen in einem ohnehin sehr kleinen Land, in dem auch jeder jeden kannte. Heute würde man solch ein Gebilde eine Echokammer nennen. Es war eine Echokammer, die sich außerdem in den beiden Sommermonaten auf Usedom oder Rügen einfand. Wir bestätigten uns selbst. Von jenseits unserer Zäune kamen zwar ‚Geschenksendungen keine Handelsware‘, aber keine Informationen, die uns nützen konnten.

In diesem Jahr starb Ilse Koch, deren böse Existenz uns näher ging als dem Westen, wo sie im Gefängnis gesessen hatte. Vielleicht hat ihr Sohn Uwe mit uns zusammen Abitur gemacht. Sie war die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten zuerst von Sachsenhausen und dann von Buchenwald. Er war so korrupt und grausam, dass er selbst für die SS nicht tragbar war. Er wurde 1944 von seinen eigenen Leuten hingerichtet. Nach dem Krieg kam das Gerücht auf, dass seine Frau, nicht weniger verbrecherisch als ihr Mann, sich Lampenschirme aus tätowierter Menschenhaut hat machen lassen. Im Gefängnis bekam sie dann noch diesen Sohn, wahrscheinlich von einem Gefängniswärter. Dieses biografische Detail musste sie allerdings mit Erich Honecker teilen, der aus Dankbarkeit auch eine Gefängniswärterin heiratete. Die DDR verstand sich damals, und wir mit ihr, als antifaschistische Trutzburg. Alle Nazis waren pünktlich zum 8. Mai 1945 gestorben oder emigriert oder eines besseren belehrt.

In diesem Jahr begannen die Studentenunruhen, die zum linken Terror und zur grünen Partei, auf jeden Fall zu mehr Demokratie führten. Der Student Benno Ohnesorg war während der Proteste gegen den Schah von Persien vor der Deutschen Oper, die wir gar nicht kannten, erschossen worden. Unsere Zeitungen brüllten geradezu den Protest heraus. Der Polizist, der den friedlichen Studenten der Literaturwissenschaft erschossen hatte, war ein alter Nazi wie zwei Drittel der Westberliner Polizei. Aber nach der Wiedervereinigung stellte sich heraus, dass er von der Stasi bezahlt war. So klein ist die Welt.

In diesem Jahr lasen wir in unserem Englischbuch das berühmte Gedicht I TOO AM AMERICA von Langston Hughes. Das Gedicht schildert den Traum eines afroamerikanischen Jungen, mit seiner weißen Herrschaft am selben Tisch essen zu können. Das Gedicht wurde eine Ikone, heute steht es in allen amerikanischen Lesebüchern. In einem Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko aus demselben Jahr stirbt ein Nihilist genannter Jugendlicher als er einen Menschen rettet. Jewtuschenko las seine Gedichte manchmal in Fußballstadien. Heute wissen wir, dass das ein kalkuliertes Ventil für das Volk war. Jewtuschenko lässt einen Generationskonflikt politisch ausdeuten, plädiert aber dann dafür, den unangepassten Jugendlichen anzuerkennen, aber erst, nachdem er tot ist. Die Großmächte kämpften natürlich nicht mit Gedichten gegeneinander.

In diesem Jahr, im letzten Drittel des April, starb Adenauer, die Generäle in Griechenland putschten die Regierung hinweg und der VII. Parteitag der SED beschloss die Fünf-Tage–Arbeitswoche. Ich war am meisten beeindruckt vom Tod Adenauers, weil auf allen Westsendern den ganzen Tag klassische Musik zu hören war. Bis heute liebe ich Mozarts Adagio und Fuge c-moll, die ich an diesem Tag zum ersten Mal hörte. Die Fünftagewoche interessierte uns nicht so sehr, weil wir zur Armee mussten und dann studieren wollten. Aus heutiger Sicht war das ein Geschenk in derselben Art, wie Elena Ceaucescu kurz vor Weihnachten 1989 ihrem Mann, dem Diktator, dessen letzte Rede gerade zu kippen beginnt, zuruft: gib ihnen zweihundert mehr. Das waren zwei D-Mark. Zwei Tage später wurden beide erschossen.

In diesem Jahr machten wir das Abitur, vielleicht mit jenem Uwe Koch zusammen, aber die Nordvietnamesen schossen das 2000. US-Flugzeug ab. Wer schon einen Fernseher hatte, konnte zum Abendbrot passend das große Schlachten in Vietnam sehen. In meinem Schulatlas habe ich 1963 die Farbe von Algerien geändert, weil es nun nicht mehr zu Frankreich gehörte. Der Vietnamkrieg zog sich noch acht Jahre hin, aber er war auch der letzte Krieg, von einigen unbedeutenden Bürgerkriegen einmal abgesehen. Die Amerikaner mussten einsehen und haben eingesehen, dass Kriege sinnlos und grausam sind. Sie bezahlen heute noch Entschädigungen. Vietnam ist heute noch eins der ärmsten Länder.

In diesem Jahr im Sommer lernte ich in Ungarn meinen ersten Türken kennen. Es war ein Lastwagenfahrer aus Stuttgart, den ich für einen Bulgaren hielt. Er bezahlte mein in Ostmark umgerechnetes sehr, sehr teures Bier und bot mir an, mich in die Türkei mitzunehmen. Vielleicht wären wir beide zusammen von den Bulgaren erschossen worden. Später musste ich einmal mit hinter dem Kopf verschränkten Armen vor dem Lauf einer Kalaschnikow auf einem Schnellboot der bulgarischen Volksmarine stehend ausharren, was eine sportliche und politische Herausforderung war, denn wenn ich ein Spion gewesen wäre, dann auf der richtigen Seite.

In diesem Jahr passierte noch etwas, das bis zum heutigen Tag wirkt und fortwirkt und uns damals, wenn wir wirklich nachgedacht hätten, eines besseren hätte belehren können, als in unseren Zeitungen stand und auch von den Pfarrerskindern geglaubt wurde, so wie man eben glaubt, was schwarz auf weiß geschrieben steht. Das ist ein anderes berühmtes Ironiezitat. Israel hat im Sechstagekrieg alle seine teils mit russischen Waffen hochgerüsteten Nachbarn besiegt. Die ägyptische Luftwaffe war zum Frühstück bereits zerhackstückt, während der Vater des jetzigen syrischen Diktators verkündete, dass Israel für immer von allen Landkarten mit ebendieser Luftwaffe ausgelöscht werden wird. Niemand wird diesen Krieg verherrlichen wollen. Aber vielleicht hätten wir besser lesen sollen, dann wäre uns die Zeit bis 1989  nicht so lang geworden. Nach der Tat wissen auch die Narren Rat.

In diesem Jahr entdeckte ich erst die linke Welt, als sie schon begann sich zu verabschieden. Tamara Bunke wurde erschossen, dann Che Guveara. Stalins Tochter mit dem religiösen Namen Swetlana Allilujewa flüchtete nach Amerika. In unserer Kleinstwelt wurde im Dezember das Geld umbenannt. Es hieß nun nicht mehr Mark der Deutschen Notenbank, sondern Mark der Deutschen Demokratischen Republik. Jeder von uns sollte einmal nachrechnen, wie oft er in seinem Leben Deutsche Demokratische Republik gesagt und nicht geglaubt hat, dass sie es war. Aber nicht übertreffbar waren die Nachrichtensprecher im Osten.

In diesem Jahr erreichte die Hippiebewegung trotz der weltpolitischen Desaster ihren Höhepunkt, um es auch einmal ironisch zu sagen. Ich war zum Glück mitten in diesem Sommer auf einem Moped namens Schwalbe in der Nähe von Nietzsches Geburtsort Röcken entjungfert worden. Ich hielt dabei ein Buch von Nietzsche in der Hand, das mir ein Zahnarzt aus Schmachtenhagen geliehen hatte. Sonst hätte ich vielleicht die Kälte der beiden folgenden Winter, die ich im Norden bei der NVA verbringen musste, nicht überstanden. Dass ich nicht zur Grenze musste, verdanke ich der Mutter eines Schulfreundes, die mir vor der Musterung zuflüsterte: Sag doch einfach, dass du Westverwandte hast.

In diesem Jahr wäre uns die Zukunft wie ein Gebirgsmassiv erschienen, wie ein Dreitausender in Montenegro, wenn du mit dem Mountainbike unterwegs bist und deine Wasserflasche leer und deine Mitfahrer noch weit unten in Dalmatien, wenn wir darüber nachgedacht hätten. Kein Mensch denkt aber fünfzig Jahre weit, und er tut gut daran.

Aus der heutigen Sicht sind die letzten fünfzig Jahre zwar oft steinig gewesen, aber mehr zäh als hoch, eine leicht hügelige Ebene ohne Ende. Am Straßenrand stehen Ruinen, die aus all den Vergangenheiten auferstanden sind, und Wegweiser in unverständlichen Sprachen. Manche glauben an Verschwörungen, andere an Alternativen, wieder andere folgen den Wegweisen, die sie gefunden haben.

vor deinem haus ein stolperstein
hab keine angst und zittre nicht
dann wird dein laufen stolpern sein
ein wind verdeckt das gegenlicht
– nur weil es dir an mut gebricht
und weil du stolperst – aber nicht

1967.2*

Damals, 1967, gab es in beiden Deutschlands ritualisierte und ideologisierte Klassenfahrten. Die westdeutschen Realschüler und Gymnasiasten fuhren nach Berlin, Ost und West, die ostdeutschen erweiterten Oberschüler, wir, fuhren nach Weimar. Aber fuhren wir wirklich nach Weimar? Mussten wir nicht auch im Goethehaus und am Frauenplan an Buchenwald denken? Auf jeden Fall sollten wir daran denken. Diese Art Ritual unterstellt, dass sich sozusagen jedermann für oder gegen Buchenwald entscheiden konnte. Aber war es nicht vielmehr so, ohne unsere Vorfahren entschuldigen zu wollen, dass der Staat von einer Partei usurpiert worden war und, was Filbinger* später bestritt, das Unrecht plötzlich zum Recht geworden war? Meinte nicht Filbinger sich verstecken zu können hinter dem, was alle dachten? Aber dachten sie es auch 1967 noch? Wir wohnten oben auf dem Ettersberg in einer Jugendherberge, die keine war, sondern sie befahl schon wieder, wie Jugend sich wo zu benehmen und was sie zu denken hätte. Auch ohne diese harschen Anweisungen wäre niemand von uns auf die Idee gekommen, jemanden ermorden oder auch nur diskriminieren zu wollen. In unserem Englischbuch stand das Gedicht, sein Autor war gerade in New York gestorben, I TOO AM AMERICA THEY SEND ME TO EAT IN THE KITCHEN WHEN COMPANY COMES, aber bei uns im Osten gab es keine Schwarzen, niemand war da, den man hätte diskriminieren können, um es dann zu unterlassen, aber wir jedenfalls wollten es auch gar nicht. Wenn man das Radio einschaltete, waren eher wir es, die diskriminiert wurden, einerseits als Deutsche allesamt, andererseits als moskauhörige Ostdeutsche, aber dann auch wieder als amerikagesteuerte Westdeutsche. Aber wir haben nicht sehr politisch gedacht. Wir hatten einen Politiklehrer, der uns erzählte, was sie alle taten, übrigens auch Filbinger, dass der Krieg sie politisch gemacht hätte. Mich hat der Krieg nicht politisch gemacht. Als wir Kind waren, haben die Einarmigen und Einbeinigen zum Krieg aufgerufen durch ihr Schweigen. Sie haben wieder Autorität um der Autorität willen und Waffen gegen vermeintliche Feinde gutgeheißen. Selbst die Waffe als Metapher war allgegenwärtig. In Lehnitz drohte der Dichter, der Vater des Meisterspions und des Meisterregisseurs, ehe er sich erschoss: Kunst ist Waffe, und wir schrieben fleißig Aufsätze darüber.

Wir haben uns auch auf dieser Klassenfahrt mehr um Sex und Songs und Seele gekümmert als um Buchenwald und Kalten Krieg. Unsere Gitarre wurde aber eingeschlossen. Wir sollten trauern um das, was unsere Vorfahren angerichtet oder erduldet hatten. In Goethes Haus sollten wir lernen, dass schon Goethe im Faust den Kommunismus vorausgesehen hat: als freies Volk auf freiem Grund zu stehen…

Am 3. Dezember waren wir im Weimarer Theater und hörten das in dieser Saison vierte Sinfoniekonzert der Weimarischen Staatskapelle, in der schon Bach und Hummel und Liszt gespielt hatten. Man gab Corellis Weihnachtskonzert, Haydns Sinfonie Nr. 86 und, warum ich das überhaupt erzähle, Ottorino Respighis ‚Fontane di Roma‘ und ‚Feste Romane‘. Respighi war schon lange tot, als wir ihn in Ostdeutschland hörten, was einem Wunder gleichkommt, er hätte unser Urgroßvater sein können, aber seine Musik klang in unseren Ohren absolut modern, so wie Picasso hundert Jahre lang als der Inbegriff der Modernität und Abstraktion galt. In der Schule hörten wir in schlechten Aufnahmen auf einem Tonbandgerät namens Smaragd Musik von Hanns Eisler und Schostakowitsch. Das ist neoklassisch. Respighi dagegen hat in seinen Römischen Festen nicht nur den Osterchoral nachgeahmt, sondern auch die Karussellmusik, den Straßenverkehr, den Zirkus und den Karneval dargestellt. Im gleichen Jahr wie Gershwin seinen Amerikaner durch Paris laufen ließ, erlebte man Rom mit Fahrradklingeln und Autohupen, aber eben auch Posaunenchorälen. Sowohl dem Weimarischen Programmverfasser als auch einigen Mitschülern war das zu laut und zu vordergründig. Dabei gibt Musik immer die Welt wieder, wie sie ist. Viel zu wenig lernt man in der Schule, wie die Welt ist, also auch die Sprache der Musik, die Sprache der Lyrik, die Sprache des Films. Vielmehr erscheint es so, als ob man lernt, wie es sein sollte oder könnte. Für mich dagegen war gerade diese Musik Programm, ein Fenster wurde aufgestoßen, Musik bildet doch die Welt ab, erfuhr ich. Als ich dann viel später das erste Mal in Rom war, habe ich genau diese Musik in Erinnerung an das denkwürdige Konzert in Weimar aus der Phase der Hochpubertät in meinem inneren Ohr gehört.

Liebe Zeitgenossinnen und Zeitgenossen,

als wir damals gemeinsam in unserer doppelten Echoblase saßen, in der Schule wie im Staat gefangen,  haben wir vielleicht über Ländergrenzen nachgedacht, aber nicht über Horizonte. Es war die Welt von gestern, in der wir aufwuchsen, es ist die Welt von morgen, in der wir alt werden. Auf der Straße zwischen Velten und Oranienburg überholte ich mit meinem Fahrrad, Baujahr 1928, ein Dreiradauto ‚Tempo Hanseat‘, Baujahr 1928, das Eisblöcke für Eisschränke transportierte. Mein jüngster Sohn, gerade war er doch noch Baby, erklärt mir die Probleme von KI und gutartigen bots und Astroturfing. Dagegen war Russisch weit weniger Chinesisch.   

Jetzt erst, wo wir täglich unser Schlüsselbund suchen, wird uns klarer, worin dieser verschlüsselte Lebenskreislauf besteht. Wer nur Geld angesammelt hat, steht vor dem Nichts, wer gar nichts gesammelt hat, ebenfalls. Vor einiger Zeit haben wir hier in dieser kleinen Stadt gelernt: edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Ab morgen wird zum ersten Mal eine Partei im Bundestag sitzen, die nicht hilfreich ist. Aber sind Parteien überhaupt edel und gut? Vor fünfzig Jahren haben wir vom Bundestag noch nicht einmal geträumt, von der Volkskammer bestimmt auch nicht.

Viele glauben, dass früher alles besser war. Aber heute sind wir alle viel politischer und gebildeter. Wir haben unseren Horizont über Hohen Neuendorf hinausschieben können. Wir haben ein paar Bücher mehr gelesen als ‚Wie der Stahl gehärtet wurde‘ oder ‚Die Väter‘ von Bredel. Wir haben eine tatsächliche Revolution erlebt, obwohl wir das Wort nicht mehr benutzen mögen, und damit meine ich nicht den Zusammenbruch der DDR, sondern den Aufbruch der Technik in den Minimalismus.

1967 war keine Weggabel. Der ständige Vergleich des Lebens mit Wegen und Weggabelungen stimmt nicht. Man merkt es gar nicht, wenn sich der Weg des Lebens gabelt. Man merkt vorher noch nicht einmal einen Abgrund. Man verabschiedet sich unter der S-Bahn-Brücke und sieht sich nie wieder und will nichts mehr voneinander wissen. Oder man hört etwas, um es sein ganzes Leben lang weiter und wieder zu hören, und man redet auf Klassentreffen mit genau den gleichen Menschen, mit denen man schon damals gesprochen hat. Oder man heiratet sich von der Schulbank weg und bleibt für immer zusammen, bis zur Gnadenhochzeit oder zum Gnadenschuss. Das Leben ist eher wie ein Fluss, ewig gleich und immer anders. Mäander und Sinus sind sinnverwandt. Deswegen gibt es auch in allen Völkern und Staaten die gleichen Typen, die Versager und die Vorsager, die Reichen und die Erfolgreichen, und diejenigen, die im Lotto des Lebens immer die Null gezogen haben.

An all dem kann man auch schön sehen, wie unwichtig dann doch wieder Politik ist, denn selbst Staatshymnen und Staatssysteme, die sich für unverzichtbar und zukunftweisend halten, verschwinden sang- und klanglos. Zwar hinterlassen sie Erinnerungsspuren, aber viel interessanter ist es, dass sich andere Kulturen – wie fastfood und Copyshop und Steuererklärung – fast lautlos über das brüchige Gebilde von Konsumkaufhallen, Kinderkrippen und Kulturhäusern, das sich für ewig hielt, schoben. Merkwürdig ist auch, dass sowohl Luther als auch Lenin, beide hatten 1967 und haben jetzt Jahrestag, ihren jeweiligen Anhängern einschärften: wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Zum Glück hat sich niemand länger daran gehalten, als es der staatliche Zwang gewährleisten konnte. Mit dem Zwang verschwindet auch immer der Wahn.

Deswegen hat, wer das Ende des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs östlich der Elbe erlebte, doch auch einen kleinen Vorteil: ewig und alternativlos, weiß er aus Erfahrung, ist nichts. Die S-Bahn fährt wieder. Das Haltlose verschwindet ebenso leise wie das Ewige, das Gestrige oder das Morgige. Was bleibt, ist die Musik, ist die Liebe, die Kunst und Ingenieurskunst, Geologie und Rechtskunde, die Medizin und die Landwirtschaft, also alles das, was wir unser Leben lang gemacht und getan haben. 

Ich hoffe, ihr habt eure Zeit genossen.

*geschrieben 2017 zum 50. Jahrestag unseres Abiturs, der Kursivtext ist meine Rede an die drei Klassen

**baden-württembergischer Ministerpräsident, der mit Schimpf und Schande zurücktreten musste, nachdem bekannt wurde, dass er noch nach Ende des Krieges Todesurteile gegen Deserteure gefällt und vollzogen hatte und das nachträglich zu Recht erklären wollte

(‚Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.‘)

DIE NEUE DREIEINIGKEIT

oder

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt…

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt, muss man gute Gründe haben, denn, wie groß der erwartete Erfolg auch sein mag, das Risiko ist größer. Vor einigen Jahren zeigte mir ein Leser meines blogs, dass meine Vorstellung von Gott exakt der Definition der neuronalen Netze entspreche, dergestalt, dass man, wenn es Gott gibt, ihn nicht um etwas bitten kann, das in der Zukunft liegt, sondern dass man ihm nur danken kann für etwas, das vergangen ist. Neuronale Netze lernen durch Bestätigung, und lernen ist besser als regeln. Vor einigen Tagen lachte ein guter Freund von mir über meine Bemerkung, dass Putin schon deshalb nicht siegen wird, weil das Böse nicht siegt und nicht siegen kann. Selbst wenn uns die Welt zunehmend böse erscheint – was sie nun bestimmt nicht ist -, müssen wir zugeben, dass letztendlich, auch unter Einbeziehung hartnäckig böser Beispiele wie Hitler, Trujillo, Amin, Kim, Stalin-Putin, das Böse sich nicht durchsetzt.

1

Dem alten Wettstreit zwischen Freiheit und Ordnung setzte als erstes die Globalisierung seit 1444 zu. In diesem Jahr landete das erste Schiff mit afrikanischen Sklaven in Portugal. Um diese neuen Universalarbeitskräfte und deren schonungslose Ausbeutung zu rechtfertigen, musste man ihnen das Menschsein, die christliche Qualität absprechen. Aber das ist nicht der einzige Makel des Christentums: zusammen mit den anderen Religionen vermochte es nicht, die einfachen Botschaften ‚Du sollst nicht töten‘ oder ‚Liebe deine Feinde‘ auch nur annähernd zu verallgemeinern. Stattdessen glauben Milliarden Christen und Nichtchristen, so als ob Yesus nie gelehrt hätte, weiterhin, dass der Stärkere Recht hätte, dass Geld die Welt regiere und – vielleicht am schlimmsten – dass es ein hierarchisches Gefälle zwischen Menschen gebe.

Auf diesem Aberglauben, der nicht zuletzt durch die Religionen gestützt wurde, baut der gegenwärtige Trend zu einem neuerlichen Autoritarismus, den seine Befürworter – die Antiglobalisten – für die Rückkehr zur Ordnung, seine Gegner aber – die Globalisten – für die Abkehr von der Freiheit halten. Merkwürdig dabei ist, dass die Globalisten die Globalisierung für irreversibel halten, die Autoritären dagegen wollen sie rückgängig machen. Der Slogan dafür stammt von Donald Trump ‚….first‘, vor dem das jeweilige Land eingesetzt werden muss. Höcke, der Rechtsaußenführer der AfD in Thüringen, versucht, das alles immer wieder in Beziehung zu setzen mit der Sprache der Nationalsozialisten, von denen er sich dann aber distanziert.

2

Während jedem Befürworter und jedem Gegner klar ist, dass Globalisierung Öffnung bedeutet, glauben viele die Demokratisierung auf Verfassungen und Wahlen begrenzt. Aber Demokratie und der Weg zu ihr hin bedeutet zuallererst einmal Emanzipation. Erst die großen Gruppen der Kinder, Frauen und Afrikaner, sodann die kleineren Gruppen der Behinderten und Homosexuellen, der unehelichen Kinder und geschiedenen Frauen mussten in die universell gültigen Menschenrechte heimgeholt werden. Wenn wir die Demokratisierung mit der französischen Revolution beginnen lassen, so ist das einerseits präzise, verkennt aber Alternativen, wie zum Beispiel den 1. November 1755 in Lissabon, das Wirken des Königs Friedrich II. in Preußen 1740-1786 oder das Erscheinen von Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘ 1762. Emanzipation und Aufklärung wurden zudem überschattet von der viel unmittelbarer wirkenden Industrialisierung, die wir hier der Globalisierung subsumieren. Die Bewohner Europas, später auch Amerikas, Asiens und Afrikas, zogen in die Städte, wo die Eltern Arbeit und die Kinder Bildung fanden. In Lagos, einer der größten Städte der Welt und der Welthauptstadt des Chaos, gibt es riesige Slums auf dem Wasser (Makoko), in denen privat initiierter Unterricht stattfindet! Hunger und Bildung gaben sich ein reziprokes Rennen.  Global gesehen ist der Hunger auf ein Zehntel der stark angewachsenen Weltbevölkerung reduziert. Die Pforte der Demokratisierung ist also die Bildung, die Öffnung ist die Aufklärung. Selbst wer nicht lesen und schreiben kann, profitiert, denn ihm wird vorgelesen und vorgeschrieben. Sprichwörtlich ist der Vorwurf, dass die Aufklärung sich nur an die Stelle der alten Götter gesetzt hat und nun mit dem gleichen totalitären und allwissenden Anspruch auftritt. Dies zeigt aber nur, dass sowohl Demokratie als auch Aufklärung keine Zustände sind, sondern Prozesse.  

3

Alexis de Tocqueville beschreibt den Anfang aller Demokratie mit der Installation von Briefkästen, deren englische Bezeichnung ‚mail box‘ aber auch gut zum dritten Element der neuen Dreieinigkeit passt, der Digitalisierung. Vielleicht könnte man den Beginn der Verschlüsselung mit der Entschlüsselung des höchstwertigen mechanisch, also analog erzeugten Codes benennen. Die Wehrmacht wollte Land, Ressourcen und politische wie mentale Hegemonie gewinnen. In einem riesigen, aber letztendlich stark überdehnten Angriffskrieg bediente sie sich sowohl der Überraschung (‚Blitzkrieg‘) als auch der strikten Geheimhaltung. Alle Befehle wurden mit mechanischen Maschinen, der Enigma und der Lorenz, verschlüsselt, vereinfacht gesagt wurden die Buchstabenreihen mehrfach zufällig ausgetauscht. Die Gegenseite hatte nun die Aufgabe, mittels elektronischer und digitaler Technik den Code für immer zu entschlüsseln. Dabei entstand das, was wir heute Computer nennen, der das nächste Zeitalter einläutete. Alan Turing, der großen Anteil an dieser mathematischen und technischen Großleistung hatte, starb, weil er nach moralischen Grundsätzen (auch des Christentums) des neunzehnten Jahrhunderts verurteilt wurde, und er starb in Verwirklichung eines Märchens und eines Märchenfilms.   

Je mehr Schlüssel verteilt werden, desto höher sind die Risiken; das ist das Argument der Demokratiefeinde, die ihre Herrschaft immer auf Loyalität und Korruption aufbauen. Dagegen ist Demokratie immer nur mit ansteigender Kompetenz verbunden und überhaupt vorstellbar. Selbst in den beiden schrecklichen Kriegen, die zurzeit geführt werden, ist der Metakampf intellektueller Art zwischen digitalisierter und konventioneller Herangehensweise, zwischen sozusagen antiker und moderner Kriegführung, zwischen autoritären, stark zentralisierten Befehlsketten und demokratischer, dezentraler Befehlsstruktur. Der mündige Bürger sogar auch in Uniform ist in Israel und in der Ukraine zuhause.

Wir dürfen uns das alles niemals ohne Friktionen vorstellen, Reibungen, die Carl von Clausewitz in seinem großen philosophischen Werk ‚Vom Kriege‘, aus dem immer nur ein einziger Satz zitiert wird, beschrieb. Jede Absicht wird im Stadium der Verwirklichung verzerrt, verwandelt, in ihr Gegenteil verkehrt. Nichts ist so verwirklichbar, wie es gedacht wurde. Wer losgeht, kommt nicht am gedachten Ziel an, man steigt nicht zweimal in denselben Fluss…Das gehört alles zu den Basics der mittleren Bildung, wird aber von uns gern und mit Inbrunst vergessen. Mit Inbrunst hoffen wir auf Ordnung und Sicherheit, verschlüsseltes Wissen geheimer Führer, Treue und Loyalität bis in den Tod. Und der Tod ist genau der Lohn dafür. Nur lernen und lieben ist leben.

    

SONY DSC

BROKEN MESSAGE

NATHAN DER WEISE IN DRESDEN

Der Rikschafahrer, der eigentlich durch die Stadt führen wollte, freute sich, dass ich wegen des Theaters nach Dresden gekommen war. Er kannte die Inszenierung und fand sie auch gut. Jedoch gestand er mir, dass er nicht verstanden hatte, warum das Mädchen, ‚aber eigentlich ist sie ja kein Mädchen‘, er meinte Recha, plötzlich einen Vortrag über das Judentum hält.

In älteren, meist schon recht angestaubten Inszenierungen wartet man sehr lange, bis endlich die Ringparabel kommt, fast genau in der Mitte [III,7] des recht langen Theaterstücks. Die neueste Dresdner Inszenierung beginnt mit der noch ungebrochen scheinenden, aber lieblos hingehaspelten Botschaft, nimmt, sozusagen, die theoretische Lösung, die Aufforderung zur gegenseitigen und andauernden Duldsamkeit, als selbstverständlich und unumgänglich vorweg.

Die eigentliche Eingangsszene, das Straßentheater, das die Kriegsmaschinen und Hinrichtungen figuriert, figuriert die Gegenwart des Nahen Ostens und erinnert uns zugleich an die Vorgeschichte, an die Tragödie des Nathan, den Krieg, den dritten Kreuzzug der höllischen Heerscharen. Das Straßentheater zeigt ein Märchen, aber das Märchen zeigt die Wirklichkeit der Welt: ‚nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab‘. Die Märchenmaschinerie ist das Instrumentarium der Zeitlosigkeit. Um es gleich vorwegzunehmen: die Enthauptungsorgien und die Rachefeldzüge gehen weiter trotz Ringparabel, Bergpredigt und Marsch auf Washington. Das Theater spielt auch gegen die relative Unbelehrbarkeit von uns Menschen an.

Sultan Saladin (Philipp Grimm), dessen Text durchaus auch einen kleinen, lernenden Weisen abgeben könnte, wird hier als Karikatur der Macht vorgeführt. Alle Mächtigen, jedenfalls fast alle, wollen Pharaonen und Halbgötter sein, die Monarchen und Autokraten mehr, die Demokraten weniger, aber auch Scholz posiert noch als grinsender Zwerg der Macht. Saladin, der hier in Dresden selbst gerne weise wäre, steigert sich immer mehr in die Verächtlichmachung des tatsächlich oder wenigstens apostrophiert weisen Nathan. Keiner ruft den Namen ‚Nathan‘ öfter und lauter und verzweifelter. Aber ist nicht dieser ständige Verruf der Eliten auch ein Ruf nach neuen Eliten, auch wenn sie alte weise Männer sind?

Sittah (Fanny Staffa), die Schwester des Sultans, durchaus auch seine Einflüsterin und Kreditgeberin, ist Katalysatorin des Geschehens und Mentorin von Recha, der Pflegetochter Nathans. Sie führt im Schachspiel die Unkalkulierbarkeit des Lebens vor.

Das Verhältnis Nathans zu seiner Tochter und seiner Tochter zu Nathan ist der eigentliche emotionale Kern der Inszenierung. Nathan ist tiefdankbar, als er nach seiner Wiederkehr in das abgebrannte Haus Recha gerettet und unverletzt vorfindet. Er ist dem Tempelherrn (Paul Kutzner) nicht nur dankbar, sondern überwindet an ihm und durch dessen Tat jegliche Rache und jegliches Vorurteil. Beinahe könnte man sagen, dass die beiden einen Modellversuch für den Nahen Osten abgeben. Recha ist durch ihre Rettung in eine wahnhafte Verzückung geraten. Sie, die außer Nathan keinen Mann kennt, hält den Tempelherrn für einen Engel und betet ihn an. Nathan kann mit dieserart emotionalem Fundamentalismus gut umgehen.

Er muss es auch bei Daja (Gina Calinoiu), seiner Haushälterin, einer Kreuzzugskriegerwitwe. Daja, deren stumpfe Autoritätsgläubigkeit schon eine Entfremdung an sich bedeutet, entfremdet sich durch ihren Akzent noch mehr und fast möchte man glauben, freiwillig. Dafür spricht ihre eigenartige Zwitterrolle (Haushälterin versus Aktivistin) im Religionskampf und Shakespeares schöner Gedanke vom Theater als Spiegel und abgekürzter Chronik des Jahrhunderts [Hamlet, II,2]. Schließlich leben wir in einer großen Sprache mit vielen Akzenten und Facetten. Dagegen spricht allerdings, stupid, die Verständlichkeit und die sprachliche Vorbildrolle des Theaters. Aber das ist vielleicht nur eine Besetzungsfrage.

Bühnenbild, Kostüme und ein Großteil der Regie beziehen sich auf die anachronistische Struktur des Textes und illustrieren sie hervorragend. Die drei Zeitebenen, Kreuzzug (1189), Aufklärung (1779) und Gegenwart (25. 09. 2024) treten plastisch hervor. Lessing selbst bezweifelte die Bühnenwirksamkeit seines Textes, und erst Goethe (Regie) und Schiller (Redaktion) gelang der Durchbruch auf der Bühne. Hier nun in Dresden wird der manchmal tatsächlich leicht didaktische Text zum wahren, guten und schönen Spektakel. Zu Zeugen rufe ich die beiden neunten Gymnasialklassen auf, die hinter mir saßen und immer aufmerksamer wurden, und den Rikschafahrer.

Der zweite Anlauf, die Ringparabel zu präsentieren, wird jäh unterbrochen. Recha (Nihan Kirmanoğlu) macht sich zur Sprecherin der jungen Generation, der neuesten Gegenwart und der brachialen Gegenseite. Wie ein Einwurf der Vorurteile, wie eine durch Feedback übersteuerte Palästinenserdemonstration mit ihrer menschlichen Berechtigung und ihrer abscheulichen Hybris zelebriert sie den Protest gegen das überlieferte Bild, die notwendige neue Sicht, die Veränderung der Verhältnisse und auch sogar die veränderte Vater- und Tochterrolle. Nur dass das kein Vortrag ist, sondern ein misslungener Aufbruch. Denn Ignoranz ist keine Navigation in die Zukunft, die Synthese ist immer schwerer als die Antithese. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Recha aus der Schwärmerei kommt und nun in die Welt der Argumente stolpert. Nathan hat sich unterdessen im Kostüm des achtzehnten Jahrhunderts in seinen Übervater Lessing verwandelt und spielt nun, im dritten Anlauf, die Ringparabel. Dass das die verstocktesten Intoleranten nicht überzeugt, sieht man an den Wahlergebnissen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Aber das ist nichts Neues auf der Erde. Hafez-al-Assad, der Vater des syrischen Kriegstreibers und Massenmörders, hat sich einst zum neuen Saladin erklärt und für weise gehalten. Zur Erinnerung: Saladin hat gewonnen, weil er weise war, Assad dagegen hat verloren, weil er nicht weise war.

Nathan wird trotz alledem immer überzeugender: nun verlegt er das Parkett der Aufklärung als aalglattes Puzzle und folglich können nun alle Menschen die Arien der Aufklärung [‚In diesen heil‘gen Hallen kennt man die Rache nicht…‘, 1791] mit Füßen treten.

Den skandalösen und obszönen Auftritt des Patriarchen mit seinem dreimaligen ‚TUT NICHTS, DER JUDE WIRD VERBRANNT‘ könnte man für übertrieben oder satirisch halten, wenn er nicht so wahr wäre und heute noch fast täglich stattfände, wenn die kardinalen Woelkis dieser Erde ihre gestrigen Parolen lallen. Die bitterste Schmach im Zusammenhang mit dem Lessingtext besteht darin, dass keine der ewig streitenden und spaltenden Religionen auch nur im Ansatz ihre Botschaft von Liebe, Toleranz und Frieden verwirklicht hat. Dagegen ist die relativ junge Botschaft des Nathan – auch nicht ungebrochen – weiter verbreitet und ihre Verwirklichung wenigstens in Sichtweite. Gegen den mittelalterlich-kuriosen Aufzug des Patriarchen steht Nathans Bücherwand im Bühnenbild und in unseren Köpfen. Wir hoffen und argumentieren in seinem Sinn. Die Familie mag auch nicht mehr orthodox daherkommen, doch verstehen wir alle die Freude der Umarmung, die Lust der Verwandtschaft, den Segen der Grenzenlosigkeit.

Ahmad Mesgarha, der früher schon, auch in einer Dresdener Inszenierung, den Saladin gab, glänzt als weiser Nathan, als liebevoller Vater, als Reicher mit Verstand, als lernender und praktisch tätiger Denker, als toleranter Nichtschwätzer und Gestalter großer Gedanken und Emotionen. Als junger Mann hätte er auch einen stylischen Tempelherrn abgegeben. Die Schauspieler haben doch Glück, es ist ein schöner Beruf und eine noch schönere Berufung, und wenn sie dann älter werden, kommen noch einmal ganz große Rollen in ihr Leben: Faust, Lear und eben Nathan. Wir gratulieren Dresden zu diesem Weisen, zu dieser Ringparabel, zu dieser Botschaft und schließlich zu dieser Inszenierung!

SONY DSC

SCHOLZ ODER CIRCUS

Scholz war gestern hier, aber ich wusste nichts davon. Zwar liegt die Hauptschuld dafür mit großer Wahrscheinlichkeit bei mir, aber ich bin immerhin mit einem SPD-Bundestagsabgeordneten auf Facebook befreundet. Das ist ein Mensch, von dem ich nicht regiert oder belästigt werden möchte. Nach meiner sehr subjektiven Beobachtung geht seine Kompetenz gegen Null. Allerdings habe ich nur einmal mit ihm gesprochen. Auf einem seiner Wahlplakate waren Hakenkreuze. Das Plakat hing an einer Kreuzung, an der ich noch nie – und ich wohne seit fast 35 Jahren hier – ein anderes Auto gesehen habe. Ich rief ihn also an und er sagte: ‚Da kann ich jetzt auch nichts machen‘. Er konnte also nicht hinfahren und das Hakenkreuz übersprühen. Er kannte dort keinen Sozialdemokraten, der das für ihn hätte tun können. Es gab keine Möglichkeit, das geschändete Plakat, und übrigens gehören Hakenkreuze zu den wenigen verbotenen Symbolen und Worten, die es bei uns gibt, abzunehmen. So stellt man sich die Regierung solcher Leute vor. Das Schlimmste daran ist noch nicht einmal die Untätigkeit oder die Inkompetenz, das Schlimmste ist, dass sie glauben, dass alles trotzdem immer so weitergeht wie bisher. Warum bin ich mit ihm befreundet, wenn auch nur auf Facebook? Man kann sich in einer menschenleeren Gegend nicht aus dem Weg gehen. Ich kenne noch weitere Sozialdemokraten, aber niemand hat mich auf Scholz aufmerksam gemacht oder gar eingeladen. Als Scholz, bevor er wider Erwarten Kanzler wurde, schon einmal hier und im Neubaugebiet Oststadt zur Diskussion bereit war, waren etwa dreißig Menschen da, von denen zwanzig den Kuchen gebacken hatten, den sie dort anboten. Einsam fuhr der Kandidat damals weg, eskortiert von einem einzigen Polizisten, als trauriger Kanzler erschien er nun wieder, aber ich wusste nichts davon.

Ich war statt dessen, und das hätte sich noch nicht einmal überschnitten, mit meinem Patenenkel im Zirkus. Das sind gleich zwei Optionen gegen den Mainstream, als dessen Repräsentant ich trotzdem von den Vertretern der drei zur Wahl stehenden Generaloppositionen (‚Merkel muss weg‘; ‚Scholz muss weg‘; ‚Merz muss weg‘) [AfD, BSW, WU] wahrgenommen werde. Im IC nach Rostock hat mir neulich ein reichsbürgerähnlicher Bahnsecuritymitarbeiter seine Zeitung erklärt. Ich hatte dummerweise versucht, die Zeitung kopfüber zu entziffern. Auch mein blog, den es schon viel länger gibt als die AfD, wurde schon von einem örtlichen AfD-Führer mit den Worten abgetan: auch nichts als Mainstream, das brauche ich nicht.

Aber noch in den Zirkus zu gehen, statt ihn zu kritisieren und aus Tierschutzgründen abzulehnen, ist ja gerade gegen die als woken Ungeist wahrgenommene und als Mainstream deklarierte Denk- und Politikart gerichtet. Zwar gehöre ich politisch und von der Lebensweise her eher zum postmateriellen Milieu, also zu den Leuten, für die es höhere, nichtmaterielle Interessen gibt, die die Welt retten wollen und nicht nur den Wohlstand sichern, trotzdem hängt mein Herz auch an alten, seit der Kindheit tiefverwurzelten Lebensweisen. Als Kind stand ich auf dem Karl-Liebknecht-Platz meiner Heimatstadt, der kurz vorher noch Adolf-Hitler-Platz geheißen hatte, obwohl weder Adolf Hitler noch Karl Liebknecht je diese kleine Stadt betreten hatten, und starrte gebannt nach oben, wo der in meinen Augen weltberühmteste und unnachahmlichste Artist Traber mit einem Fahrrad auf einem Hochseil fuhr. In meiner darauffolgenden alptraumhaften Nacht fiel er herunter und ich wachte schweißgebadet und tränenüberströmt auf. In den Zirkussen meiner Kindheit spielte noch eine Kapelle und traten noch Tiger auf. Das waren die einzigen Tiger unserer Kindheit, denn niemand fuhr mit uns zum nächsten Zoo, der weit entfernt war. Auch damals schon lebten nicht alle Menschen in Großstädten. Heute bin ich auch gegen Zoos, man muss die Tiere, glaube ich, anders retten als in Gefängnissen. Das wussten schon Rainer Maria Rilke und Rembrandt Bugatti, aber wir wussten es damals nicht und träumten vom Zoo und nahmen den Zirkus als Ersatz.

Dieser Artist Traber, der seinen Auftritt in meiner kleinen Heimatstadt glücklich überlebt hatte, gehörte zu einer alten Zirkus- und Artistenfamilie, genauso wie James Spindler, dem der Zirkus gehört, in dem wir gestern waren, oder wie Johnny Weisheit, André Sarrasani, wie Köllner, Frank, Lauenburger, Sperlich, Busch, Probst, Renz oder Althoff. An eine heute fast vergessene Zirkusfamilie erinnern in Magdeburg zweiunddreißig Stolpersteine ermordeter Familienangehöriger, allesamt Artisten, die sogar eine eigene Sprache, ein Gemisch aus Französisch, Jiddisch, Romanes und Zirkusbegriffen hatten. Deren Zirkus Blumenfeld hatte in seiner besten Zeit vor dem ersten Weltkrieg täglich 4.000 Besucher.

Gestern waren in der Hauptstadt der Uckermark gerade einmal knapp hundert Zuschauer in einem ziemlich großen Zelt, das bestimmt fünfhundert Interessierte hätte aufnehmen können. Es gab sehr gute Pferdedressuren, arabische Vollblüter, Friesenhengste, Shetland-Ponys und ein anthropomorphes Komikpferd, über das man streiten könnte. Brav liefen auch drei Kamele im Kreis. Zwei sehr gute Seilakrobatinnen wurden schließlich getoppt durch das leider so genannte Todesrad, denn es kam zum Glück niemand zu Tode, weder der schwungholende Assistent noch der tonangebende erstklassige Artist James Spindler, der mit schwarzem Augentuch, wie einst in meiner Kindheit Traber, und mit rasantem Absprung Glanznummern hinlegte, die den enormen technischen Aufwand mehr als rechtfertigten. Nicht überzeugend war dagegen der Clown und sein Kindermitspielprogramm und überhaupt die Gesamtstimmung und Moderation, die in kleineren Zirkussen persönlicher und mitreißender ist.

Mein kleiner Patenenkel stammt aus der Nachbarstadt, weil es bei uns keine Entbindungsstation mehr gibt. Seine Eltern dagegen kommen aus Eritrea, einem sehr kleinen Land in Ostafrika, einer durch einen dreißig Jahre währenden Bürgerkrieg erzwungenen Abspaltung von Äthiopien, einer bizarren Diktatur, die George Orwell nicht besser hätte erfinden können. Allerdings geht es in Eritrea weniger um die totale Überwachung als vielmehr um den totalen Arbeitsdienst, in den alle männlichen und viele weibliche Jugendliche nach der Schule gezwungen werden, deshalb hat keiner der weit über einer Million Flüchtlinge, davon etwa 130.000 in Deutschland, einen Schulabschluss.

Leider ist mein kleiner Patenenkel keine Fachkraft. Zu seiner Entlastung kann man aber sagen, dass auch bei uns Menschen nicht als Fachkräfte geboren werden, auch meine leiblichen Enkel nicht. Man muss sie ausbilden. Dafür gibt es in Deutschland die in Deutschland erfundenen Berufsschulen. Da mein kleiner Patenenkel bei solchen Gelegenheiten wie Zirkus, Museum, Theater, Konzert oder Kino der einzige Migrant ist, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir auch hier, obwohl bei uns angeblich ein links-grüner Zeitgeist herrscht, dem Mainstream entgegen schwimmen. Denn Ausbildung heißt nicht nur Schulbesuch, sondern auch osmotische Aufnahme der Kultur und Lebensweise. Kultur wird nicht per ordre de mufti und quasiautomatisch zur Leitkultur, sondern durch Leitung, Anleitung, Gewöhnung, Sozialisation, Fiktion. Kultur ist immer semipermeabel, weshalb genauso oft viele Widerstände überwunden werden müssen. Allerdings andererseits: Kultur ist Austausch, denn sie gibt uns etwas, wenn wir ihr etwas geben.

Alle rudern zurück, alle wollen plötzlich die Immigration stoppen, wir aber, mein kleiner Patenenkel und ich sagen: Niemand wird als Fachkraft geboren. Jeder muss ausgebildet werden. Weder folgt aus dem Geburtenrückgang, dass man ihn ’einfach‘ rückgängig machen kann, noch folgt aus dem Fehlen von Fachkräften, dass man sie ‚einfach‘ importieren kann. Im besten Fall kommen gute Eltern, die für ihre Kinder das Beste wollen, was dann auch das Beste für uns ist. Das Vorhandensein nichtausgebildeter Biodeutscher zeigt das Dilemma: wenn man nicht will, dass unter Brücken schlafende Menschen verhungern, muss man sie alimentieren, alimentiert man sie, will ein Teil von ihnen nicht mehr arbeiten. Das gilt für In- und Ausländer. Denn es geht nicht darum, woher du kommst, sondern wohin du willst.

Insofern war es nicht schlimm, dass ich Scholz verpasst habe, denn ich habe etwas für die Osmose getan. Er sagte ohnehin nur, dass er jetzt zurückrudern wolle.

IM FALSCHEN ZUG

Geschichte eines Stolpersteins

1

Mein Vater hatte die größte Gerberei weit und breit, bis Pommern hinauf und bis in den Barnim hinunter. Er war durch seine Gerberei und seinen Fleiß wohlhabend geworden, lief aber jahraus, jahrein mit seinen Arbeitssachen, die einen unangenehmen Geruch verströmten, durch die Stadt, was aber nicht allzu häufig vorkam. Wenn er etwas auf dem Bürgermeisteramt zu erledigen hatte oder kleine Besorgungen anstanden, schickte er seinen Prokuristen, seine Frau, also meine Mutter, oder später, seit ich zusammenhängend sprechen konnte, auch mich. Er war reich, aber er hatte die etwas eigenartigen Vorstellungen, dass sein Reichtum seinen Ursprung in der geografischen Lage seines Unternehmens hätte und dessen Fortbestand vom Schicksal durch mein Erscheinen vorbestimmt sei. Er hatte noch mehrere Kinder, aber mein Bruder Hugo fiel tatsächlich schon 1915 noch fast zu Beginn des Krieges. Mein Bruder Kurt interessierte sich nicht für Geschäfte und Gewerbe, nur für die alten Schriften. Er war der einzige Fromme von uns, aber das hat ihm dann letztendlich auch nicht geholfen. Meine Schwester Margarethe war wenig selbstständig, sie wollte eigentlich nur heiraten und las gerne Zeitschriften, in denen der noch ledige, aber furchtbar reiche Großherzog im benachbarten Strelitz abgebildet war. Wenn man bedenkt, dass es in der Zeit vor dem Weltkrieg schon emanzipierte Frauenzimmer gab, auch in unseren Kreisen, dann war unser Gretchen schwach und gestrig. Aber wir hatten sie trotzdem sehr lieb, jedoch hat sie dann keinen guten Mann gefunden und blieb erst dem Geschäft unseres Vaters, dann meinem Geschäft und mir zeitlebens verbunden. Die Hoffnungen meines Vaters richteten sich also auf mich, auch weil ich ohnehin der älteste war.  

Unsere Gerberei lag außerhalb der eigentlichen Stadt, aber natürlich in Sichtweite. Die Ucker teilt sich hier in zwei Arme, von denen der eine, kanalisierte, schneller fließt, weshalb er DIE SCHNELLE heißt. Die Schnelle begrenzte unseren Betrieb auf der Ostseite, westlich lag die Straße nach Neubrandenburg, nördlich waren Feuchtwiesen bis hin zur Zuckerfabrik, dahinter das Gaswerk, an der Straße schlossen sich kleine Handwerksbetriebe und einzelne Häuser an. Unser Haus lag mit dem Giebel zur Straße, trotzdem konnten wir aus dem Wohnzimmerfenster die riesige Marienkirche sehen, die sich in meinem Gedächtnis für immer eingebrannt hat, wo ich auch war und ungeachtet dessen, wofür sie – außer ihrer architektonischen Majestät – noch steht. In der Gerberei verbraucht man sehr viel Wasser, und unser Wasser kam aus dem nicht weniger majestätischen Unteruckersee. Es floss dann nach Ueckermünde ab und ins Stettiner Haff. Später, als ich schon kein Kind mehr war und unternehmungslustig und wissbegierig, fuhr ich mit dem Fahrrad, teils auf der Reichsstraße, teils auf wunderschönen Feldwegen an der Ucker entlang, ab Nieden und Nechlin heißt sie dann Uecker, um zu erforschen, wie lange man die Farb- und Gerbreste unserer Produktion sehen kann. Schon im großen Ueckertal bei Pasewald gab es keine Spuren mehr von uns. Die ganze Prozedur unserer Gerberei erschien mir widerwärtig. Die toten Felle, der Verwesungsgeruch, die Chemikalien, das verunreinigte Wasser des unschuldigen Flüsschens, das alles ekelte mich. Wenn mein Vater auf jemanden ärgerlich war, dann sagte er, dass er ihm das Fell über die Ohren ziehen wolle. Mir wurde dann speiübel, denn ich sah es täglich vor mir.  Gleichwohl war mir der Reichtum meines Vaters angenehm und er machte mich auch angenehm vor meinen Mitschülern in der Knabenschule am Mitteltorturm. Es ist leicht möglich, dass ich an diesem Tag meiner ersten Fahrradtour beschloss, auf keinen Fall Gerber zu werden. Auch wenn ich mich nicht an den genauen Tag meines Beschlusses erinnern kann, bin ich doch sicher, dass es in jenem Jahr war, als ich dreizehn Jahre alt wurde und sich so vieles veränderte. Mein Körper zeigte mir, dass ich ein Mann würde, und der Blick auf den Kalender bewies, dass ich zu Großem bestimmt war. Denn es begann eine neue Zeit, ein neues Jahrhundert, ein Aufbruch, den ich ganz gewiss zu meinen Gunsten würde nutzen können.   

Die Zeitungen damals waren voll von den Versprechungen für das neue und wieder einmal goldene Zeitalter, das nun begänne. Wir Jüngeren, besonders die Knaben und Jünglinge, waren angetan vom Siegeszug des Automobils, von dem der Kaiser, wiewohl er sieben Automobile besaß, sagte, dass es keine Zukunft hätte und er weiter an das Pferd glaube. Im Bahnhofsviertel gab es den Rossschlächter Blaumann, übrigens seit 1846, also länger als unser Geschäft, der hatte jetzt schon Hochkonjunktur. Die Gutsbesitzer der umliegenden Dörfer kauften Lokomobile oder die ersten Traktor-Zugmaschinen von Lanz aus Mannheim. Die reichen Leute schafften ihre Kutschen ab und kauften sich Automobile. Die Kutscher wurden Wagenlenker. Die Pferde wurden Salami. Aber hier bei uns stimmte die Welt noch, die Weiden waren voll, die Bierkutscher brüllten. Aber wir sahen uns jedes Automobil aufmerksam an.

Die Älteren dagegen bevorzugten als Objekt ihrer Bewunderung das Telephon. Jetzt könne man, sagten sie, gleichzeitig in der Heimatstadt und in der Reichhauptstadt sein. Mein Vater hatte einen der ersten Telephonapparate in Rantzlau. In der Schule und in den politischen Versammlungen, soweit man davon hörte, war viel von der deutschen Sache die Rede. Aber mein Vater, der alles praktisch und unter dem Vorzeichen seines blühenden Gewerbes sah, erklärte alle Tümer, das Deutschtum wie das Judentum, das Empire wie den american way of life und auch das hinterwäldlerische Russentum zu Irrtümern. Deutschtum, sagte er, ist nichts als ein Irrtum. Es kommt nicht auf die Herkunft an, sondern auf die Zukunft. Jeder will seine Waren verkaufen, deshalb erklärt er den andern für falsch, unmodern, erblich belastet, qualitativ schlecht. Tum heißt immer Neid, und aus Neid wird schnell Gier. Das steht alles schon in den alten Schriften. Lass es dir von deinem Bruder Kurt erklären. Selbstverständlich, sagte er weiter, sind meine Leder besser als die vom Gerber Mamlock aus Preußisch Stargard. Wenn ich das nicht glaubte, könnte ich meinen Laden zumachen, und du mein Junge, würdest nichts als heiße Luft und kaltes Wasser aus der Schnelle erben. Er lachte laut, voller Selbstbewusstsein und Würde. Und ich lachte aus vollem Herzen und gerne mit, denn ich liebte meinen Vater. ‚Ist der Mamlock aus der Steinstraße dieser Konkurrent?‘ fragte ich. ‚Nein,‘ sagte mein Vater, ‚sein Vater. Der Mamlock aus der Steinstraße ist leider ein Beispiel, das man nicht nachahmen sollte. Er kann nur handeln. Aber statt nur mit dem zu handeln, was auf seinem Firmenschild steht, handelt er im Hinterzimmer seines Ladens mit allerlei Schmuddelei. Das ist kein Verbrechen, aber auch keine saubere Sache. Wir bleiben bei unserm Handwerk, das nach außen schmutzig sein mag, das wir aber reinen Herzens betreiben können.‘ So versuchte mein Vater mir die hehren Grundsätze, ja die Ethik des Handwerks beizubringen. Und das hatte auch durchaus Erfolg, ich wurde später ein gewissenhafter Kaufmann, rechnerisch und moralisch. Aber, was mein Vater noch nicht einmal ahnen konnte, und er ist zum Glück auch rechtzeitig gestorben, um mit sich selber im Reinen zu bleiben, was er nicht wissen konnte, war, dass dieser eine Grundsatz nicht ausreichen würde, um unser Leben zu Sinn und Erfolg zu bringen.

Er ahnte ebenfalls noch nicht, dass ich seinen vergifteten Laden nicht erben wollte, um nichts auf der Welt. Ich liebte meinen Vater, aber ich hasste sein schmutziges Gewerbe. Ich war dem Geld nicht abgeneigt, aber es durfte nicht stinken.

Und ich ahnte noch nicht, dass ich, gerade dreizehnjährig, einen Abscheu und Widerwillen gegen jede Vorbestimmung entwickelte. Nach Meinung der meisten Lehrer und Väter war der Weg des Menschen auf der einen Seite durch seine Herkunft bestimmt. Der Gerbersohn wird wieder Gerber, der Gutsbesitzersohn wird Gutsbesitzer oder General. Der Kameruner bleibt ein Sklave, wenngleich er jetzt die einklassige und erstklassige deutsche Dorfschule durchlaufen darf, bevor er schuften muss. Auf der anderen Seite mussten zur Herkunft auch Fleiß und Wohlanständigkeit hinzutreten.

Mein Bruder Kurt, der ununterbrochen las, las nicht etwa nur fromme Bücher, wie er uns glauben machen wollte. Er las auch Philosophen und Romane. Eines Tages lag eines dieser Bücher aufgeschlagen auf dem Tischchen neben seinem Bett. Ich las den Satz DENN DAS BESTE, WAS EINER IST, MUSS ER NOTHWENDIG FÜR SICH SELBST SEIN und hatte mein Lebensprogramm gefunden. Ich war noch so jung, schickte mich gerade an, aus den kurzen Hosen und Leibchen herauszuwachsen, und wusste schon, was ich wollte. Ich wollte Ich sein, nichts weiter. Hatte Gott selbst nicht gesagt: Ich bin Ich? Was bedurfte es weiter Zeugnis? Welches Schicksal auch kommen würde, ich müsste stets versuchen, es auf meine Weise zu umgehen oder auszuführen. Wo ich ein unsichtbares Gängelband entdeckte, müsste ich es zerschneiden, zerstückeln und zernichten. Plötzlich schien mir mein vor mir liegendes Leben in einem wunderbaren Licht, in fast goldenem Glanz: wohin mich einer schicken würde, ich würde das Ziel verfehlen, was ein Jemand von mir wollen würde, ich wollte es verweigern und stattdessen meinen Weg gehen, wie steinigt jener Pfad, der meiner wäre, auch sein würde. Der trockene Ernst der meisten Leute rührt daher, dass sie an den Drahtfäden des Schicksals wie Puppen anhängen. Dagegen würde ich, wenn mir gelänge, was ich an diesem Tag angesichts des Satzes aus dem Buche des weisen Mannes mit dem schlohweißen Haar beschloss, wie der einzige Mensch in diesem Marionettentheater handeln. Die zumeist schläfrigen Zuschauer würden den Unterschied gar nicht oder erst zu spät bemerken. Welche Pläne das Schicksal mit mir auch haben würde, ich würde sie kühn durchkreuzen.

Meine Lehrer waren die ersten, an denen ich mein neues Ideal versuchte. Sie schwangen den Rohrstock und schlugen ins Leere. Zumal ich auch gute Leistungen in allen Fächern vorweisen konnte, waren ihre Vorhaltungen und Ermahnungen, die sie auch meinem Vater zukommen ließen, ganz unnütz und in den Sand geschrieben.  Überhaupt ging unsere Schule, wiewohl sie architektonisch hübsch anzusehen war, ganz anders als die roten neogotischen Klinkerbauten, welche die Stadt dominierten und mit der tatsächlichen Gotik auf das beste harmonierten, ganz anders, moderner, menschennäher war unser Schulbau, und die ihr zugrunde liegende Pädagogik am Menschen, jedenfalls an mir, vorbei. Sie zielte auf einen Menschen, der sich bereitwillig seinem Schicksal ergeben soll, immer auf dem vorgeschriebenen Pfad wandeln würde. Ein Mensch sollte das sein, dem das Vaterland mehr wert war als er selbst, die endliche Regel mehr galt als das lebenslange und unendliche Lernen. Lernen war ihnen kein Forschen, sondern ein Kopieren. Aber sie bemerkten nicht, dass es keine Kopien waren, die sie erzeugten, noch nicht einmal Kopien, sondern Karikaturen. Es gab keine Jugend, nur Greise, junge und alte, die bärtig und übellaunig, die Hände auf dem Rücken, blind durch die Stadt und ihr Leben wandelten. Am krassesten war das alles im Militär zu sehen, und davon war unsere kleine Stadt voll, voller als von Gotik. Allein die riesige Kaserne des 64. Infantrieregiments thronte beinahe bedrohlich über der Stadt. Während die Marienkirche in der Betrachtung Staunen erzeugte, brachte dieser Bau nur Schrecken hervor. Schon als Knabe dachte ich: ihr wahrer Gott war der Krieg, den beteten sie inständig an und hassten ihre Nachbarn. Am meisten meschugge waren die Soldaten, wenn sie betrunken waren, kurz vor dem Zapfenstreich. Dann zeigten sie ihr wahres Gesicht: es war zur Null geschrumpft, abwesend, löchrig, öde und blöde.

Mein Vater wollte, dass ich bald, noch vor dem Einjährig-Freiwilligen Jahr von der Schule abginge, um bei ihm im Geschäft als sein Lehrling einzutreten. Ich dagegen wollte das Abitur ablegen, um einen guten Start ins Leben zu haben, gleichgültig, ob ich studieren könnte oder nicht. Zum Fache hatte ich mir etwas Praktisches und Lebensnahes ausgewählt, nämlich die Ingenieurwissenschaften, die ich an der technischen Hochschule in Charlottenburg mir aneignen wollte. Mein Vater war empört und sagte, es gäbe auf der Welt nichts Ehrenvolleres als einen Handwerksberuf in deutschen Landen auszuüben. Sein ganzes Leben, sagte er, habe er auf diesen einen Moment hingelebt, mir, seinem ältesten und liebsten Sohn, das Erbe, den Betrieb, die Ehre und nicht zuletzt das angehäufte Vermögen zur weiteren Nutzung und Vermehrung zu übergeben. Er würde verstehen, sagte er, wenn ich nach altem Handwerksbrauch zunächst ein oder zwei Jahre durch Europa wandern wollte. Er würde auch verstehen, sagte er, wenn ich ganz ohne erkennbaren Sinn eine längere Reise unternehmen wollte, um mir die Welt anzueignen, bevor ich meine Pflicht und Schuldigkeit hier in unserem ehrwürdigen Städtchen antreten wollte. Das alles würde er verstehen. Aber was nicht ginge, wäre die Desertation, das Verschwinden aus dem Tribut vor der Leistung nicht nur meines Vaters, sondern der Väter überhaupt.

Zum ersten Mal, abgesehen von den Geplänkeln mit den müden Lehrern, musste sich mein Wille und meine Vorstellung bewähren. Ich sagte etwa dies: Vater, ehrwürdig ist an diesem toten Städtchen nur die gotische Maria. Alles andere ist Schall und Rauch. Mein Bruder Kurt kicherte in sich hinein, der Rest der Familie war entsetzt darüber, dass es ein Sohn wagte, nicht nur seinem Vater zu widersprechen, sondern den Widerspruch auch noch mit der Schmähung der Väter, der alten Schriften und jedweder Heimat überhaupt zu begründen.

Ich muss nun eingestehen, dass es mir weder im ersten noch im zweiten Anlauf gelang, mich tatsächlich zu lösen. Mir fehlten die Kraft und die Courage, mein Bündel zu schnüren und ohne Segen und Geld wegzugehen. Das Nomadentum war gerade einer der Vorwürfe, die unseren Kreisen immer wieder von vaterländischer Seite gemacht wurden. Der Deutsche wäre heimattreu, hieß es, unsereiner dagegen zu ewiger Wanderschaft verdammt. Zwar schmetterten die Sozialisten WACHT AUF VERDAMMTE DIESER ERDE, aber in mir gefror das Blut allein bei dem Gedanken, meinen Vater zu verraten. Ich war kein Sozialist und wollte auch keiner werden, obwohl aus unseren Kreisen viele dort mitmachten. Zudem war ich schon wach, wie ich glaubte, denn ich hatte damals an der Ucker, wo sie schon Uecker heißt, geschworen, dem Schicksal, was es auch brächte, zu widerstehen.

Statt Sozialist zu werden, kaufte ich mir über die nun folgenden Jahre die Hefte von Rustins Selbstlernmethode ‚Der deutsche Kaufmann und sein Rechnungswesen‘. Was mir im ersten Anlauf trockene Theorie zu sein schien und meinem Widerwillen dennoch trotzte, erwies sich im Laufe der Jahre als treuer Gefährte wachsenden Wissens. Immer stellte ich mir ein Geschäft vor, das eine weniger widerwärtige Produktion innehätte, vielmehr vielleicht gar keine Produktion, sondern eine Distribution: ein schönes Ladengeschäft in einer freundlichen Stadt. Dazu imaginierte ich eine bildschöne und liebreiche Frau, die treu und zärtlich an meiner Seite stünde, und eine kleine Schar hell aufgeweckter Kinder, denen ich ihre spätere Bestimmung nie und nimmer vorschreiben wollte. Alle Knaben wollen Polarforscher oder wenigstens Lokomotivführer werden, aber werden dann Handwerker wie ihr Vater, ziehen Frau und Kinder dem Abenteuer vor. Die Mädchen wurden damals bekanntlich nicht gefragt, hatten sich noch mehr zu fügen als die Knaben. Aber meinem Leben blieb es vorbehalten, den weiblichen Anteil schätzen zu lernen. Denn ich hatte eine sehr tüchtige und treue Schwester und später eine ebenso bewundernswerte, noch dazu gleichnamige Frau. Die Kinderschar blieb bis auf unsere geliebte Inge aus.

Während der Konflikt über die Jahre hinweg schwelte, erlernte ich neben dem Rechnungswesen aus den Selbstlernbriefen, die ich mir von meinem kärglichen Taschengeld absparte, das ungeliebte und giftige Handwerk. Mit meinem Vater sprach ich nur das Nötigste und kränkte ihn ohne notwendige Ursache. Hätte ich unser späteres Schicksal auch nur geahnt, so hätte ich in den Boden versinken müssen vor Scham. Aber ich glaubte damals, dass die Welt die Verwirklichung unserer Vorstellungen wäre, ungetrübt, frei von Zwecken. Dass der Mensch auch des Menschen Wolf werden könnte, wurde mir erst viel später in Triest klar. In Triest habe ich oft gedacht, dass die vielen Drachen, die man in den Märchen getötet hatte, Menschen waren, die zum Ungeheuer, zum Ungeziefer geworden waren.

Das Traurige ist, dass unser Streit durch ein schreckliches Ereignis beendet wurde, das gleichzeitig das Ende der bis dahin bekannten und geliebten Welt bedeutete: der Weltkrieg brach aus, indem Serbien frech sein Haupt erhob. Aber statt milde zu lächeln, befahlen unsere Kaiser uns alle zu den Waffen. Und alle gingen freudig hin – und marschierten geradewegs in die Ewigkeit. Ich ging widerwillig hin, konnte aber aus zwei Gründen meinen Plan, mich fremdem Willen zu widersetzen, nicht erfüllen. Der erste Grund war die Übermächtigkeit des Ereignisses, dem ich mich sozusagen als pazifistisches Elementarteilchen gegenübersah. Der zweite Grund war, dass ich die Bedrohung falsch herum sah: nicht das kleine Serbien bedrohte uns, sondern wir wurden von uns selbst bedroht: von unserer Habgier und Herrschsucht, von unserem Verlust des weisen Lächelns, vom Wahn der Stärke und der Impotenz der Macht. Die Generäle schrien ihre Befehle in den Wind, und wir verloren Meter um Meter. Das Jahrhundert war schon tot, noch ehe es richtig begonnen hatte. Die schönen Hoffnungen alle: nun lagen sie in der Erde vor Verdun und Langemarck. Wir hatten gerade so viel Land erobert, dass wir unsere toten Kameraden beerdigen konnten.  

Mein Bruder Hugo fiel schon 1915 in Flandern. Auch er war Vaters Hoffnung gewesen. Neue Wörter kamen auf, die schreckliche Dinge benannten: Gaskrieg, Tank, verschüttet, verstümmelt, zum Krüppel geschossen, Stellungskrieg, Kriegsblinder. 1916 wurde der erste gut ausgebildete Blindenhund einem Kriegsblinden übergeben, obwohl es schon seit Herculaneum bekannt war, dass Hund und Mensch sich gut und gegenseitig helfen können. Je länger der Krieg dauerte, desto weniger gab es zu essen, von Munition und Waffen ganz zu schweigen. Daran konnte auch Rathenau nichts ändern, der jetzt der Minister für Kriegswirtschaft geworden war. Rathenaus Familie stammte genau wie ich aus unserem guten alten Städtchen Rantzlau. Ich selbst wurde verschüttet und konnte von da an nicht mehr gut hören. Hitler war blind im Behelfslazarett in Pasewald, aber ich konnte ihn nicht hören. Hätte ich ihn verstanden, wäre uns manches erspart geblieben. Niemand aus unseren Kreisen verstand ihn. Es war unvorstellbar, was er sagte, selbst wenn er brüllte und kreischte. Es war ganz und gar unverständlich. Ich kannte keinen, der ihn verstand, aber Millionen trotteten hinter ihm her, marschierten im Gleichschritt in den Tod.         

Ein Gutes hatte aber der Krieg: ich zog endlich, nämlich als er zu Ende war, von zuhause weg und ging nach Hamburg. Hamburg hatte ich nicht nur ausgewählt, weil alle, die ich kannte, nach Berlin gingen. Hamburg hieß eine freie Stadt und war es auch. In Hamburg sollte mir ein großes Glück blühen, das sich aber dann in mein größtes Unglück verkehrte, und nicht nur meines.

2

                                                                                                            9. November 1918

Sehr geehrter Herr Jacobsohn,

wir haben Ihren lieben Brief dankend erhalten und erwidern freundlichst Ihre herzlichen Grüße. Es erscheint uns als ein großes Glück und als ein Wink des Schicksals, dass gerade ein Kaufmann wie Sie, noch dazu aus einer gutsituierten Familie, sich um die Wohnung im Erdgeschoss bewirbt. Der Krieg hat ja manches durcheinander gebracht, aber die guten Familien behalten doch die Oberhand.  So wie Sie aus einer alten Handwerksfamilie stammen, sind wir seit Generationen Kaufleute. Auch das Haus befindet sich seit einer Generation in unserem Besitz. Wir sind sehr stolz darauf, aber wir teilen es auch gerne mit solch lieben Menschen, wie Sie einer zu sein scheinen. Seien Sie uns also herzlich als Mieter und Mitbewohner, vielleicht sogar als Nachbar und Freund willkommen. Über alles Geschäftliche, was ja leider immer unvermeidlich ist, werden wir uns schnell einig, machen Sie sich da bitte keine Sorgen über. Seien Sie lieb gegrüßt bis zu unserem Wiedersehn.

Herzlichst Ihre Grete Ahlers.

                                                     Februar 1939     

Mein lieber Jacob,

schon das Wort Fuhlsbüttel tut tief im Herzen weh, wenn man weiß, dass Du nur dort bist, weil Du uns schützen wolltest. Beinahe genauso schlimm ist es, dass die Nachbarn, die von uns wissen, auf mich zukommen und sagen: ach, liebe Frau Ahlers, das war doch ein so netter Mann, Ihr Mann, unvorstellbar, dass er Ihnen das antun konnte. Das ist fast genauso schlimm, wie Dich dort zu wissen, wo seit vielen Jahren die Schwerverbrecher sitzen. Ach, in Santa Fu ist Ihr Mann?, fragen manche, und ich muss dann – wahrheitsgemäß bitter – sagen, das ist nicht mein Mann. Die tapfere Inge dagegen sagt weiter, dass Du ihr Vater bist, denn vom Vater kann man sich nicht scheiden lassen. Aber sie will sich auch gar nicht scheiden lassen. Wenn sie vielleicht auch nicht das ganze Drama versteht, so liebt sie Dich doch weiter als ihren Vater, und ich liebe Dich weiter als meinen Mann, denn vor Gott sind wir weiter Mann und Frau. Auch Deine Schwester Grete, die so fleißig und tüchtig im Geschäft ist, lässt Dich grüßen, frägt ständig nach Dir, und ist Dir dankbar und unvermindert zugetan. Inge hat nun ihre Lehre als Verkäuferin begonnen und sie macht mir große Freude und erhält nur gute Zeugnisse. Das Geschäft läuft gut, wenn Du uns auch sehr fehlst mit Deiner Weitsicht und Deinem Instinkt für Mode und Frauen und Farben und Geld. Ach, Jacob, es ist alles so traurig, aber ich will Dir das Herz nicht noch unnötig schwer machen, denn am schwersten von uns allen hast Du es da in Deinem dunklen Kasten. Deswegen kann ich Dir nur sagen, wie unendlich dankbar wir Dir sind, wie unendlich liebevoll wir in jeder Stunde des Tages und vielen Stunden der Nacht an Dich denken und Dich in unser Gebet einschließen. Halte durch, sei so tapfer, wie Du bisher warst. Denn einmal kommen bessere Zeiten, wird wieder Licht sein, wo sich jetzt dunkle Wolken mit ihren mächtigen Schatten versammeln und sich uns als Steine in den Weg stellen. Eines Tages werden die zwei Jahre um sein. Weißt du noch, wie schnell das halbe Jahr, seit Du bei uns eingezogen warst, vergangen ist und wir so glücklich geheiratet haben?  Und dann kam die Inge aber gar nicht, wie wir gleichzeitig befürchtet und erhofft hatten. Aber wir haben es bis heute nicht bereut, nicht wahr? Was da in diesem halben Jahr entstanden ist, wenn es auch noch nicht die Inge, sondern nur die Liebe war, hat ein ganzes Leben – bis jetzt – gehalten und wird, das versichere ich Dir vor Gott, auch noch den Rest des Lebens halten.  Halte die Ohren steif, es grüßt Dich Deine „geschiedene“ Frau Else.

31. Dezember 1940

Mein lieber Jacob, mein lieber, lieber Mann,

endlich und gerade zu Weihnachten bist Du frei. Und Du hast recht, es ist egal, wo man frei ist. Freisein ist wichtiger als Hiersein. Das ganze Dasein ist ein Suchen nach Freiheit. Man sieht es bei der Stubenfliege am Fenster, wie sie verzweifelt den Weg sucht und ihn nicht finden kann. Sie versteht die Scheibe nicht, so wie wir das Leben nicht verstehen. Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, aber irgendjemand scheint die Hand über uns zu halten, so dass Du nun endlich vor dem Fluch fliehen kannst. Glaub mir, es gibt genug Deutsche, die den Fluch nicht teilen, die wissen, dass es, wenn es einen Gott gibt, nur einen Gott gibt, der für alle Menschen da ist. Ich weiß, dass es sie nicht gibt, aber das Böse in mir will es immer wieder fragen, ob es die Frau gibt, mit der Du Rassenschande betrieben haben willst? Es gibt sie, weil Du uns mit dieser Lüge gerettet hast, die Inge aus allem herausgehalten hast. Ich habe an Eides statt ausgesagt, dass die Inge christlich erzogen wurde. Noch lieber hätten sie gehört, dass die Inge nationalsozialistisch erzogen wurde. Aber das erschien mir dann doch zu dreist. Du hast es besser gemacht. Der Rechtsanwalt hat mir Einblick in die Gerichtsakten gegeben. Du hast so schön gelogen, dass die Welt in ihrem Sinne wieder stimmt: wie Du Rassenschande mit dieser Frau betrieben hast, die es gar nicht gibt, wie Du Deine über alles geliebte Tochter Inge hasst, weil sie von mir, Deiner „geschiedenen“ Frau „christlich“ erzogen wurde. Wenn ich so weiterschreibe, wissen wir zum Schluss vor lauter Gänsefüßchen nicht mehr, was Wahrheit ist und was Lüge. Und so ist auch diese ganze Zeit:  wenn man die Wahrheit sagen will, muss man lügen, und wenn man lügt, sagt man aus Versehen die Wahrheit und kommt ins KL.  Der Kamerad von Dir brachte uns deinen Brief, so dass wir gleich wussten, dass alles gut gegangen ist. Ich habe ihm Schnittchen gemacht und Kaffee gekocht, und er sagte uns, wie lange er das hat vermissen müssen. Aber er hat nicht gesagt, warum er im Zuchthaus war. Früher, als Mädel, habe ich immer gedacht, im Zuchthaus sitzen nur Schwer-verbrecher, die ihre Mutter ermordet oder eine Bank ausgeraubt und den Bankdirektor erschlagen haben, aber nun sitzen im Zuchthaus auch solche Menschen wie Du und Dein Kamerad, die anderen geholfen haben, die sich wie die Märtyrer im Mittelalter geopfert haben, nicht für eine große Sache, wie sie immer sagen, sondern für einen geliebten Menschen. Du hast ihnen mit Deiner Aktion und mit Deinem Opfer den Wind aus den Segeln genommen, hast sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Und, mein lieber Jacob, ist das nicht das Größte, was man tun kann, für andere Menschen da sein und auch selber weiterleben?

Um das Geschäft musst Du Dir keine Sorgen machen. Deine Schwester und ich führen es, so gut wir können, ganz in Deinem Sinne fort. Letzten Sommer haben wir sogar eine Hilfskraft einstellen müssen, denn es gibt immer Reisende, die sich hierher verlaufen, wie wir immer scherzhaft sagen. Im Winter dagegen kommt nur die Stammkundschaft. Aber unsere Hilfskraft freut sich über jede Mark, die sie dazu verdienen kann und grollt uns nicht, wenn wir sie nicht brauchen. Denk Dir nur, ihr Mann musste in den Krieg ziehen, obwohl er schon fünfundvierzig Jahre, aber ein ausgebildeter Reservist ist. So hat jeder sein Päckchen zu tragen. Dass Du aber auch im Obdachlosenasyl verbringen musstest, wenn es auch nur wenige Tage waren! Für das Neue Jahr wünschen wir, Deine Schwester, Deine Tochter und natürlich ich, Deine Frau ohne Anführungszeichen, alles Gute und Glück auf den Weg, wohin er Dich auch führen mag.

Deine Else, die Dich liebt und küsst und herzt.

                                               12. Januar 1942

Mein lieber Jacob,

ich hoffe, dass Du unsere Geburtstagsgrüße rechtzeitig erhalten hast. Wir können uns hier nicht vorstellen, wie Dich unsere Briefe erreichen und auf welchen verschlungenen Wegen Deine Antworten treulich zu uns gelangen. Krieg ist Krieg und Post ist Post, sagte mein Großvater immer, der Briefträger und Feldwebel war. Ich musste erst im Brockhaus Lexikon nachsehen, was überhaupt ein Partisan ist und wo Triest liegt. Du bist in der Welt und wir sitzen hier immer noch im Hinterstübchen von unserem Laden. Ich getraue mich kaum, Dir meinen Dank für das, was Du für uns und für Deutschland tust, auszudrücken, aus Angst, der Brief könnte mitgelesen werden. Man hört so viel Schlechtes und Böses in dieser schlechten und bösen Zeit. Warum müssen wir Paris besitzen und was suchen wir in Russland? Wir als Ladenbesitzer wissen doch am besten, dass man anderen Menschen nicht einfach etwas wegnehmen kann. Der Führer sagt immer, dass wir durch unsere höhere Rasse berechtigt sind, aber ich glaube, dass eine höhere Rasse ja gerade uns zwingt, Recht und Ordnung einzuhalten. Außerdem: wer von uns beiden soll und will denn eine höhere Rasse sein? Du bist doch nicht weniger deutsch als ich, und ich bin nicht mehr deutsch wie Du, und was soll denn deutsch anderes sein als die Sprache?  Und den Glauben haben wir beide nicht, Du nicht den Deinen und ich nicht den Meinen. Und bei unserer Inge haben wir den Glauben doch nur vorgeschoben, weil sie es so hören wollten, da müssen plötzlich die selbst die Nationalsozialisten Christen sein. Denk Dir nur, dass der Pfarrer in unserer Gustav-Adolf-Kirche im Talar seinen Arm zum Hitlergruß erhebt – das ist Gotteslästerung und Rassenschande! Ach, jetzt denke ich schon selber so wie die neuen Herren, die alles verderben.

Soweit ich unser Lexikon verstehe, das Partisanen mit Parteigängern zunächst übersetzt, befassen sich diese, also auch Du, damit, dem Feinde, also uns, ohne steten Zusammenhang zum dortigen Heer, zu schaden, wo sie nur können. Das tust du recht, denn auch in Jugoslawien haben wir nichts zu suchen. Das ist nicht nur meine feste Überzeugung, sondern scheinbar auch Deine. So langsam verstehe ich Deinen Lebensplan. Du hast Dich eines Verbrechens bezichtigt, das Du nicht begingst, um die wahren Verbrecher, die Gestapo, von dem, was sie als Verbrechen ansehen, abzulenken. Um unsere Inge zu schützen, hast du Dich zum Verbrecher erklärt, und folgerichtig haben sie Dich dann auch verfolgt. Aber wie hast Du es geschafft, dass sie Dich nach Deiner verbüßten Strafe auswiesen statt ins KL einwiesen? Zum Glück hattest Du in Deiner Gemeinde – so wie ich in meiner Gemeinde – ohne recht eigentlich Mitglied zu sein, Deinen Mitgliedsbeitrag bezahlt, so dass sie Dich, nachdem Du aus dem Zuchthaus entlassen warst, in einer Obdachlosenunterkunft unterbrachten und Dir sodann halfen, unser Heimatland zu verlassen. Aber warum schickten sie Dich nach Jugoslawien, von dem wir früher kaum etwas wussten, als dass sie dort ihren König umgebracht haben? Jedenfalls habe ich das damals in der Zeitung gelesen.  

Aber wissen wir denn überhaupt etwas über das Warum? Wir Menschen tun gerne so, als wenn wir das, was wir tun, zuvor gedacht und geplant hätten. Aber kannten wir uns, als Du damals bei uns eine Wohnung suchtest? Konnten wir ahnen, dass wir innerhalb eines halben Jahres uns verlieben würden, zusammenziehen, verloben, verheiraten würden? Das konnten wir alles nicht wissen. Und als dann Deine Eltern nacheinander starben, war es da nicht Fügung statt Willen, dass Deine liebe Schwester, die noch dazu den gleichen Vornamen wie ich hat, so dass wir mich nach meinem zweiten Vornamen umbenannten, dass diese Deine Schwester eine so liebe und fähige Ergänzung unseres Lebens und Strebens sein würde? Und wieviel Freude machte uns unsere Inge. Hätte sie nicht auch böse, unartig, entartet gar werden können, den Nazis nachlaufen, einen Hitlerjugendführer lieben können, ihre Eltern denunzieren, das alles hätte sie auch machen und sein können. Gut, es gibt da die Erziehung. Aber gibt es nicht auch die Verführung?  Man hört so viel Böses, dass man sich über das Gute, das uns bisher widerfuhr, nur freuen kann, freuen und von Herzen dankbar sein kann. Ob die Güte wohl obsiegen wird?

Es grüßt Dich von Herzen

Else

                                                  27. Juli 1943

Mein lieber Jacob,

noch im vorigen Jahr schrieb ich Dir, dass die Güte obsiegen wird, dass alles gut wird, dass wir uns wiedersehen. Widersehen können wir uns, aber es steht nichts mehr in unserer Straße. Vorgestern und gestern fielen hunderte Bomben von den feindlichen Flugzeugen. Aber sind es denn wirklich unsere Feinde? Gibt es denn Feinde? Oder werden nicht vielmehr mehr oder weniger zufällig Menschen und Völker zu Feinden erklärt und andere zu Freunden verklärt. Wer kennt sich da noch aus? Das Gute ist, dass Inge in der Berufsschule war, Grete war Einkaufen und im Schutzraum dort, und ich konnte hier im Nachbarhaus rechtzeitig im LSR verschwinden. Als wir nach zwei Stunden herausdurften, war die Straße weg. Alle Häuser waren mehr oder weniger kaputt. Es war schrecklich. Aber war es nicht auch schrecklich, was deutsche Soldaten den Menschen in allen unseren Nachbarländern angetan haben?

Ich war ganz verzweifelt, aber noch am Abend, wir saßen in einer Notunterkunft der NSV, fingen Grete und Inge an, Pläne für die Zukunft zu schmieden. ‚Wir müssen,‘ sagte Inge, ‚wenn der Vater zurückkehrt, das Geschäft und die Wohnung komplett wieder aufgebaut haben, und sogar vergrößert und verschönert muss es wieder auferstehen. Denn der Vater hat alles für uns getan, dass wir leben, so müssen auch wir für ihn alles tun, damit er gut leben kann.‘ Da staunst Du, wie erwachsen und verständig die Inge in den Jahren geworden bist, die Du nicht hier warst. Wir haben überlegt, wo Läden frei geworden sind, entweder, weil Juden enteignet worden waren, das nennt sich jetzt ‚arisieren‘, oder weil die Besitzer bei Bombenangriffen ums Leben gekommen sind. Bombenangriffe – das gab es ja im Weltkrieg nicht. So ist alles anders geworden. Inge schrieb eine Liste mit solch freigewordenen Läden und wir teilten auf, wer in den nächsten bombenfreien Tagen welche Straßen und Häuser begutachten sollte. So haben wir buchstäblich in der größten Katastrophe gleich wieder neu angefangen. Bürgermeister Krogmann hat angesichts der vielen tausend Toten gesagt: Wir müssen leben und kämpfen, damit unsere Toten leben. Aber wir drei Frauen haben noch am Abend beschlossen, dass wir leben und kämpfen müssen, damit die Lebenden weiterleben können.

Hast du auch genug zu essen? Hier ist ja alles knapp, aber es reicht, wir drei Frauen essen nicht so viel wie ein Mann. Wir müssen immer lachen, wenn wir an Deinen Appetit denken müssen, besonders an deine Erklärung. Jetzt, wo Du nicht mehr die giftigen Dämpfe aus der Gerberei Deines Vaters riechen musst, kannst Du all das essen, was Du früher aus Ekel aufsparen musstest. Aber wir freuen uns, wenn Du wieder hier bist, dass wir für Dich Essen kochen können. Auch die Inge kocht schon recht gut, und wenn sie bis dahin keinen Mann gefunden hat, wird sie auch für Dich kochen, so wie Grete und ich es gerne tun werden.

So Gott will, sage ich immer, wenn der Krieg vorbei sein wird und wenn Hamburg wieder aufgebaut ist. Von Rantzlau haben wir nichts gehört, außer, dass es nicht zerstört und zerbombt ist. Nach dem Krieg kannst Du hinfahren und die Stätten Deiner Kindheit und Jugend aufsuchen. Kurt soll noch da sein. Aber es werden jetzt so viele Juden deportiert. Das sind alles so neumodische Wörter: arisiert, evakuiert, deportiert, Alliierte, Partisanen. Wollen wir hoffen, dass die letzteren über die ersten gewinnen, vor allem Du, mein lieber Jacob.  

Viele Grüße von Deinen drei tapfer in die Zukunft schauenden Weibern

Else, Grete und Inge

3

   Triest, Januar 1953

Sehr geehrte Frau Ahlers,

mein Name ist Nermin Bosniaković, ich bin ein ehemaliger Kommandeur der Tito-Partisanen, der vor allem verantwortlich war für die Zusammenarbeit mit unseren italienischen Partnern. Deshalb war unser Sitz hier in Triest, unweit der slowenischen Grenze. Einer unserer Kämpfer war Jacob Jacobsohn aus Hamburg. Wir haben ihn alle sehr geschätzt und geliebt, denn er war ein guter Kämpfer. Aber er war nicht gut, weil er gut kämpfen konnte, sondern weil er gut kämpfen wollte. Er war eigentlich Kaufmann und Pazifist, insofern als Partisan ungeeignet. Aber er war auch ein Deutscher, und von daher gründlich, fleißig und gerecht. Und sein Gerechtigkeitssinn sagte ihm, dass Deutschland gerade auf der falschen Seite steht. Er hat uns erzählt, wie er, immer einen Schritt vor seinen Verfolgern, erst seine Tochter, dann seine Frau, also Sie, vor der Verfolgung bewahrt hat. Ich schicke Ihnen alles, ein paar Fotos, seine Aufzeichnungen, Ihre Briefe und wenige Dokumente, alles, was ich von ihm vorgefunden habe. Er hatte in den wenigen Stunden, in denen er Pause hatte, begonnen, seine bemerkenswerte Lebensgeschichte aufzuschreiben, seine Kindheit in der kleinen norddeutschen Stadt Rantzlau als Sohn eines Gerbers. Er liebte wohl seinen Vater, aber er wollte nicht Gerber werden. Dann traf er Sie und alles wurde gut. Aber dann kamen die Faschisten an die Macht, und alles wurde schlecht. Er wich ihnen geschickt aus und traf endlich uns, und alles hätte gut werden können. Er hat für uns übersetzt, er hat uns das Verhalten der deutschen Offiziere und Soldaten erklärt, die deutsche Seele und die deutsche Angst. Wäre er noch ein bisschen länger bei uns geblieben, so hätte er sogar in die deutsche Abteilung, die Telmanovci, eintreten können. Aber er geriet in Triest in einen Hinterhalt und in eine Kontrolle der Wehrmacht und wurde enttarnt. Und dann musste er, der die Bahn so liebte und so gerne Bahn gefahren ist, in den falschen Zug einsteigen. Am 8. Dezember 1943 wurde er, wie wir erst viel später erfahren haben, in Auschwitz ermordet. Friede seiner Asche! Pokoj njegovom pepelu!

SONY DSC

ALLE JAHRE WIEDER…


Würde oder Leitkultur

Eine Kultur, die sowohl durch das eigene Leben als auch durch die Gesellschaft leitet, kann nur ein Regelwerk sein, das mindestens mittelfristig eine gewisse Rigidität aufweist. So muss etwa eine Regel oder Tugend hier bei uns sowohl zu Schillers Gedicht ‚Von der Glocke‘, bei dem schon die Diskrepanz zwischen deskriptiver und normativer Intention auffällt, als auch zu den Auschwitz-Mördern und später zu den Arbeitgebern der Gastarbeiter passen. Es ist schon eine sprichwörtliche Kritik am Konzept der Leitkultur, dass ein so gespreiztes Spektrum nur Sekundärtugenden enthalten kann. So muss etwa der junge Mann aus der ‚Glocke‘, der um die Liebe seines Lebens wirbt, genauso pünktlich und zuverlässig sein, wie der professionelle Mörder in Treblinka oder die Bundestagsabgeordnete der Grünen. Aber: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnung und Sauberkeit sind nicht kausal mit Deutschland verbunden. Kein Belgier oder kein Türke ist verhindert, diese und ähnliche Sekundärtugenden zu besitzen, kein Deutscher ist verpflichtet, pünktlich zu sein oder die Rechtschreibregeln außerhalb von Amt und Schule einzuhalten. Dass ein Türke oder ein Belgier, wenn er hier bei uns arbeitet, eventuell pünktlicher wird, als er bei sich zuhause war, zeigt, dass es eben gerade keine angeborene Kultur, sondern angewöhnte Wirtschaftsweise ist, pünktlich oder ordentlich zu sein. Diese Sekundärtugenden werden auch gerne ‚preußisch‘ genannt und verraten mit diesem Etikett ihre Herkunft im Protestantismus, wie Max Weber[1] annahm, und im Militarismus, der bis 1945 ebenfalls Wesensmerkmal des Deutschtums zu sein schien, dann aber plötzlich einem ausgeprägten Pazifismus wich. Der Pazifismus, der auch die – wie sich jetzt zeigt – sträfliche Vernachlässigung der Verteidigungsfähigkeit einschloss, mag seine Ursachen in der nach zwei verlorenen Weltkriegen späten Einsicht, aber auch in der Projektion des Militarismus auf die nun befreundeten Siegermächte gehabt haben. Weder der Bellizismus noch der Pazifismus sind also Bestandteile einer irreversiblen oder autochthonen Kultur, die für Ankömmlinge programmatisch oder gar verpflichtend ist. Zur Pflicht wusste schon Goethe, dass sie nicht in der Ausübung irgendwelcher Tugenden besteht, sondern in der Forderung des Tages[2].   

Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht das pandemische Auftreten der Idee der Leitkultur ein immer wieder versuchtes Remake des Autokratismus oder sogar eines tausendjährigen Reiches ist. Dabei müssen wir gar nicht nur und immer an das äußerst kurzlebige Nazireich denken, dessen eherne Werte in die Scherben zerfielen, die sie vorher selbst besungen hatten[3]. Letztlich geht jede Ideologie von einer universellen und langwährenden Wirkung aus. Schon das allein widerspricht jedem Nationalismus. Bis auf die katholische Kirche hat aber keine das 1000-Jahre-Limit geknackt. Nun aber sind auch ihre Tage gezählt. So wie eine offene Idee nicht in einem geschlossenen System überleben kann, so kann eine geschlossene Ideologie nicht in einer offenen Welt bestehen. Die Welt wird nicht nur durch Demokratie und Wohlstand immer offener, sondern auch durch eine jeden Schlupfwinkel der Welt erfassende Kommunikation. Dabei ist nicht nur das Medium selbst die Botschaft[4], sondern teils versteckt, teils offen gibt es eine wachsende Zahl von Botschaften. So wie das Christentum seine paganen Vorfahren einfach, leichtfertig und bösartig überschrieb, so erleben wir jetzt eine Metamorphose des Christentums.

Eine ‚Leitkultur‘ kann also bestenfalls der pathogene Ausfluss autokratischer Fantasien sein, der das Rad der Geschichte mit einem Kettenschloss arretieren will. Die Schubphasen der uns bekannten Geschichte, Hochkulturen, Renaissance, Aufklärung und Demokratie sind einerseits gerade durch den kulturellen Austausch bei gleichzeitiger Tendenz zum Individualismus bestimmt, andererseits und demzufolge müssen sie ein ganz anders geartetes verbindendes Element haben. Dieses Element muss die Freiheit des Einzelnen genauso intensiv schützen wie die Rechte der Gesamtheit. Anders gefragt: was hat ein Auschwitzmörder mit Albert Schweitzer gemeinsam?

 Soweit wir sehen, gibt es nur ein Konzept, das den Mörder, ohne seine Schuld zu tilgen oder gar zu vergeben, und Albert Schweitzer, ohne ihn in den Schmutz der üblen Nachrede zu ziehen, beschreibt: das der Würde.

Das erste Strafgesetzbuch, das dem Täter seine Würde beließ, ohne seine Schuld zu schmälern, stammt von Anselm Ritter von Feuerbach. Er schaffte nicht nur per Gesetz die Folter als untaugliches Mittel der Wahrheitsfindung ab, sondern begründete stattdessen die Kriminalistik als Methode der Verbrechensaufklärung. Ein Geständnis ohne Folter lässt dem Angeklagten seine Würde, gesteht er nicht, was er getan hat, verzehrt ihn sein Gewissen.

Ein solches Konzept der Würde widerspricht jedem ahistorischen Regelwerk. Dieses korrespondiert allerdings mit einem starken und erzieherisch-restriktiven Staat. Diesem Staat wird zugetraut, dass er, obwohl er die Komplexität der Welt und ihre mannigfachen Probleme offensichtlich und nachweislich nicht meistert, ebenjene Probleme selbst schafft. Am deutlichsten wird das wohl in der absurden Idee vom ‚Großen Austausch‘. Keine Regierung, weder der Entsende- noch der Empfängerstaaten wird der Probleme der Migration Herr, und trotzdem verdächtigt man sie, dass sie das viel größere Projekt des Austauschs einer ganzen Bevölkerung betreiben könnten.

Die zunehmende Komplexität der Welt führt also auf der einen Seite zu einer wachsenden Ratlosigkeit mit entsprechend verwirrten Regierungen, auf der anderen Seite aber zu neuer Sehnsucht nach Autoritarismus und Kommunarität unter einem omnipotenten Führer. Diese Führer sind es, die ebenso wie alle Argumente gegen die uniformierte und uninformierte Leitkultur sprechen: ersetzen sie doch das Charisma, das sie nicht haben, durch einen pomphaften pseudoreligiösen Kult, als dessen Ziel, Zweck und Ende sie schließlich selbst dastehen. Es spricht übrigens auch gegen die guten und originären Religionen, wenn sie sich in Kulten, Kutten und leeren Ritualen verlieren, statt der Menschheit ihre menschlichen Lehren zu vermitteln, wie zum Beispiel: DU SOLLST NICHT TÖTEN. DU SOLLST ANDERE SO BEHANDELN, WIE DU VON IHNEN BEHANDELT WERDEN WILLST. DU SOLLST ALLE MENSCHEN LIEBEN, SELST DEINE FEINDE, DENN DANN HAST DU KEINE MEHR. Stattdessen zählen sie ihre Sammelgroschen und bügeln ihre Talare, in denen der Muff von tausend Jahren Nichtsnutzigkeit stinkt.

Jede Leitkultur ist notwendig ahistorisch und gleichzeitig an die eigene Vergangenheit gefesselt. Jede Würde ist nackt und bloß der Unbill aller Unverständigen ausgesetzt und muss sich nur aus sich selbst heraus entwickeln. Geholfen wird ihr von einer Vernunft und Bildung, die nicht lediglich angetastet, sondern oft mit Füßen getreten wird. Man muss keinem Verein beitreten, um gut zu sein. Es reicht, gut zu sein. SEI GUT!


[1] Max Weber, Protestantismus und Kapitalismus

[2] Goethe, Maximen und Reflexionen

[3] ‚…wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt…‘

[4] Marshall McLuhan

FROSCHSCHENKEL UND WILLKOMMENSKULTUR

Dass Platos Höhlengleichnis, dass also jemand, der gefesselt in einer kerzenbeleuchteten Höhle gelebt hat und nach draußen gelangt, dann doch die Höhle für die Welt hält, wird so gerne verdrängt, weil man es vielleicht nie durchdacht hat oder weil man sich vor dieser Erkenntnis fürchtet. Niemand will derjenige sein, der die Welt mit den Bildern auf einem Monitor verwechselt. Im Gegenteil, fast ein jeder und eine jede glaubt seinen Monitor als die Welt.

Dass wir weiterhin nur erkennen können, was wir schon erkannt haben, oder anders gesagt, dass wir stets alle je vom Mutterleib an gehörten Kommentare in jede Sinneswahrnehmung hineindeuten, ist eine zweite Prämisse der Unerkennbarkeit und gleichzeitig der Unentrinnbarkeit der Welt.

Dass sich deshalb so viele, Milliarden von Menschen, unter den Schutz und Schirm von Religionen, Ideologien und Verschwörungen begeben, ist allzu verständlich.  

Daraus folgt möglicherweise, dass die Krise der Demokratie, die wir im Moment zu erleben glauben, vielleicht vielmehr eine Krise der Informationsinflation ist. Fernsehen und soziale Medien bilden die Welt hyperredundant ab. Der Bürgerin und dem Bürger erscheint es durch die Omnipräsenz in den Medien so, als wäre beispielsweise das Gendern bereits allgegenwärtig und eine Forderung nicht von einer Randgruppe progressiver Parteipolitiker, sondern der Politik als Ganzer. Überhaupt trägt die Personalisierung des Politikbetriebs zu diesem Eindruck Entscheidendes bei. ‚Die Politik‘ wird als allmächtige, kaiserähnliche Person vorgestellt, so wie Gott, wenn man ‚der liebe Gott‘ denkt oder sagt.

 Der jahrhundertelange Wechsel zwischen autokratischen und demokratischen Regierungsformen lässt den Staat, also die Regierung, als mächtiger erscheinen, als er tatsächlich ist und sein kann.

Wir wollen das an fünf Beispielen untersuchen: die Westbindung der Bundesrepublik durch Adenauer, die Ostbindung Ostdeutschlands durch Ulbrichts Stalinismus, die neue Ostpolitik Willy Brandts, die Wiedervereinigung durch Kohl und schließlich die Flüchtlingspolitik Merkels.

Unsere These dabei ist, dass das Regierungshandeln das Leben der Bürgerinnen und Bürger höchstens zu fünf Prozent tangiert.

Trotz Adenauers politisch weitsichtiger Aussöhnung mit dem Nachbar- und Bruderland Frankreich, mit dem es eine zweihundert Jahre währende organisierte Feindschaft gegeben hatte, konnte keines der ebenso lange tradierten nationalistischen Stereotype (Froschfresser, Spaghettifresser, Tagediebe) kurzfristig überwunden werden. Erst die Reisefreiheit durch Wohlstand und Grenzöffnung erbrachte eine realistischere Sicht. Zeitgenössisch wurde als seine größte Leistung angesehen, dass er die letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus dem ‚Reich des Bösen‘ zurückgeholt hat.

Der Stalinismus erschien der älteren Generation als eine Kontinuität autoritärer Herrschaft. Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht spielten im Leben der Bevölkerung keine Rolle, sosehr jetzt auch eine angebliche Freundschaft erfunden wird. ‚Die Freunde‘ war eher ein Pejorativ, hinter der vorgehaltenen Hand sagte man ‚die Russen‘. Beides war falsch. Mit Ulbricht verschwand, wenn auch nur sukzessive, der Stalinismus  und wich einem gemäßigten Konsumismus. Im übrigen wurde Ulbricht bei uns im Osten von der überwältigenden Mehrheit als Gleichzeitigkeit von Original und Karikatur wahrgenommen. Das hat nach ihm erst Tino Chrupalla wieder geschafft, dessen oft auch grammatisch falschen Kombinationen von Satzbausteinen so erheiternd wirken wie weiland Ulbrichts sächsisches Zeitungsdeutsch.

Dass Willy Brandt durch seine Annäherungspolitik den Ostblock zu Fall gebracht haben will, wollte 1989 niemand – weder im Osten noch im Westen – mehr glauben. Zwar wird er weiter als großer Kanzler verehrt, aber wohl eher emotional als Sympathieträger.

Kohl sah mit großem Wohlwollen auf sich selbst, wie er in Strickjacke Gorbatschow die Wiedervereinigung abtrotzte und abkaufte. Im Prenzlauer Berg dagegen dachten die yesusgleichen Stasiopfer, sie hätten allein durch die Sitzblockaden vor der Gethsemane-Kirche Honecker nach Lobetal verjagt. Dagegen glaubt die heutige AfD mit der Aneignung der ‚Wir sind das Volk‘-Formel die Wiedervereinigung nachträglich adaptieren zu können.  

Der Gipfel des Auseinanderklaffens von Regierung und Volk dürfte aber durch Merkels legendären Satz, dass ‚wir…es schaffen‘, erzeugt worden sein. Wahrscheinlich hat sie ganz pragmatisch die technische Seite der Aufnahme der Flüchtlinge gemeint, und sechs Millionen Flüchtlingshelfer standen auch bereit. Seit dem Tag geht aber erdspaltenartig der Riss zwischen der Rückbesinnung auf christliche Werte der Nächstenliebe und rassistischer Xenophobie. Gerade heute wieder – am 07.07.2024 – hat Alice Weidel im Sommerinterview behauptet, Angela Merkel hätte mit dem Schengen Abkommen die Flüchtlingswelle ausgelöst. Angela Merkel war aber 1985 Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ostberlin. Dass es jedoch um einen größeren Zusammenhang als Merkels Sätze geht, zeigt sich darin, dass in fast allen europäischen Ländern autokratische Herrschaftsformen zumindest in Erwägung gezogen werden.

Der Osten Europas, nicht nur der Nordosten Deutschlands, kannte lange Zeit vor dem Fall des iron curtain bereits Nachrichten, die den Charakter regierungsamtlicher Mitteilungen hatten, Manifestationen statt Vermutungen und Interpretationen. Besonders auch die Berufung auf die mit vielen Titeln attributierten Herrscher war hyperredundant. Diese Rolle haben heute die sehr oft nicht näher bezeichneten Experten übernommen.

Auch Dementis spielen keine große Rolle mehr. Man entlässt gute wie schlechte, falsche wie wahre Informationen als Massenware in den Raum und in die Zeit. Durch die schiere Menge relativieren sie sich selbst.

Die rechtsäußeren Politiker müssen also nicht, wie sie immer versprechen, das alte Parteiensystem zerstören, denn sie sind ja gerade Symptom seiner Auflösung, sondern sie ersetzen das eine hyperredundante Narrativ durch das andere. Welche Frage man ihnen auch stellt, sie antworten stets mit der Bedrohung von außen, die sie zu bekämpfen vorgeben. So gesehen leben sie schon in der Diktatur, die sie erst aufbauen wollen.

 Nicht nur die Fremden sind nicht wirklich willkommen, auch das Neue überhaupt wird misstrauisch abgewehrt. Nicht nur die Regierung, auch das Volk selbst blockiert die Modernisierung. Es gilt immer noch das Bild der Angst vor der Eisenbahn, deren tatsächliche Unfälle ins Apokalyptische gesteigert wurden. Selbst die heutige allgegenwärtige Kritik an der Bahn hat noch Reste der alten Abwehr. Schließlich wissen wir alle durch Erfahrung: IN JEDER REFORM LAUERT EIN SCHSMA.