ZUSAMMENBRUCH

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Wir sehr man sich über die Art, die Dimension und sogar den Zeitpunkt eines Paradigmenwechsels täuschen kann, zeigten unsere Voreltern, indem sie glaubten, dass ihre Welt 1945 zusammengebrochen sei. Tatsächlich waren aber 1933 alle Werte umgewertet worden. Schon allein dieser Begriff von Nietzsche, die Umwertung aller Werte, wurde nie ernst genommen, und wenn überhaupt gebraucht, dann als Drohung und nicht als Beschreibung. Die Versuchung die von einer sowohl personalen als auch autoritären Herrschaft ausgeht, ist ebenso groß wie die eines Schnäppchenmarktes, den selbst gut betuchte Mitmenschen besuchen, ohne sich durch ärmere Zeitgenossen stören zu lassen. Der Glaube, dass Qualität doch unabhängig vom Preis sein könnte, nimmt mit der Warenmenge zu. Genauso können und wollen wir nicht glauben, dass Probleme in unserem immer komplexer werdenden Leben auch komplexe, nicht mehr in einem Zeitungsartikel oder Parteiprogramm unterzubringende Lösungen verlangen. Die Schnäppchen unter den Lösungen sind Rassismus, Klassismus und Sexismus. Und obwohl deren Vertreter, wie jüngst Trump, immer wieder grandios scheitern, werden ihre Nachahmer und die Nachahmer ihrer Nachahmer immer wieder einmal gewählt. Die Verkünder wirklich tiefer und neuer Lösungen dagegen werden erschossen, was dem früheren kreuzigen entspricht. Trotzdem wird die Welt besser. Den Märtyrern des Fortschritts werden Denkmäler gesetzt und nach ihnen werden Straßen benannt. Es gibt in Deutschland unzählige Rathenau- und Stauffenbergstraßen, aber nicht eine einzige Hitlerstraße. In Eisenhüttenstadt, das früher Stalinstadt hieß, weiß niemand mehr, wo das Stalindenkmal stand. Der Baustil der einstigen Stalinallee in Ostberlin, eine Art verkitschter Neoklassizismus, heißt Zuckerbäckerstil, nicht – nur für Bremer aussprechbar – Stalinstil.

 In einem Punkt hat die AfD und haben die mit ihr vergleichbaren Parteien recht: wir befinden uns vor oder in einem Umbruch ungeahnten Ausmaßes. Nur dass diese Parteien erstens einen Fehler und zweitens diesen in der Vergangenheit suchen.

Sowohl die Globalisierung als auch die Demokratie einschließlich des Sozialstaats haben viele Probleme gelöst. Wir haben nur leider zu wenig beachtet, dass globalisierte und demokratisch erzogene Menschen anders handeln und reagieren als autoritär geführte. Wer – zum Beispiel – nicht mehr Analphabet ist, kann jetzt alle Bedienungsanleitungen der Welt selbst lesen und interpretieren. Buchdruck und digitaler Informationstransfer haben diesen größten aller Emanzipationsprozesse noch beschleunigt. In der Antike – zweites Beispiel – waren blinde Menschen geächtet, wenn sie nicht gerade Seher waren, wie Teiresias oder Homer. Der blinde Mann vor Jericho bittet den vorbeiziehenden Wanderprediger und Heiler Yesus also nicht nur um Hilfe zum Überleben, sondern um ein gleichberechtigtes Leben als mündiger Bürger, soweit das damals möglich war. Heute sind blinde Menschen weitgehend gefördert und integriert. Sehen Sie sich in diesem Zusammenhang einen beliebigen deutschen Bahnhof an!

So könnte die Wahl des neuen Vorsitzenden der CDU nicht nur ein Zeichen für die Führungskrise der CDU sein, so wie die fortwährende Neuwahl der SPD-Vorsitzenden seit Brandt. Vielmehr könnte das heißen, dass wir keine charismatischen Vorsitzenden und Präsidenten mehr benötigen. Seit langem wird mit gleicher Berechtigung vermutet, dass wir vielleicht noch nicht einmal mehr Parteien brauchen. Die Pferde hatten ihre Zeit, die Eisenbahnen, und nun eben auch die Parteien. Vielleicht wechseln unsere Interessen schneller als die Parteiprogramme folgen könnten. Die deutsche Partei mit den bisher meisten Mitgliedern hatte zum Beispiel das kürzeste Programm aus lediglich 25 sich teils widersprechenden und teils überschneidenden Punkten, es war die NSDAP. Die CDU hat ein knapp hundertseitiges Wahl- und Regierungsprogramm. Aber wie viele Leser und Versteher hat es?

Die AKP in der Türkei, En Marche in Frankreich, aber auch die AfD bei uns sind als ausdrückliche Parteigegenentwürfe entstanden. Unser Wahlsystem ist insofern darauf vorbereitet, als es sowohl eine personale Komponente enthält als auch eine Richtungsentscheidung. Aber die Richtung ändert sich schneller als früher. Auch das hat die Wahl des CDU-Vorsitzenden gezeigt: das Gros der Partei will nicht zurück zum dumpfen Konservatismus einer Steinbach und eines Gauland, will auch nicht die einseitige Wirtschaftspartei des überlebten egomanen Friedrich Merz sein. Ob allerdings andererseits der Pragmatismus der Merkel-Ära Parteiprogramme, Partei und verankerte Zugehörigkeiten ersetzen kann, das wird sich erst noch erweisen.

Der Umbruch, den wir erleben, scheint weitaus größer zu sein, als wir ihn erahnen können. Wir schlittern in eine Umweltkatastrophe von nicht vorstellbaren Ausmaßen hinein. Vorboten sind das Insektensterben und der Rückgang weiterer Tierarten. Dabei ist bei uns die Diskussion über den Wolf, andernorts jene über Elfenbein oder Haiflossen, die Projektion der Gesamtdiskussion auf einen einzigen Punkt. Künstliche Intelligenz, überhaupt die Automatisierung,  löst immer mehr Arbeitskräfte aus dem Produktionsprozess heraus. Das Problem der Beschäftigung muss weltweit gelöst werden. Gleichzeitig verändern sich die die Bedingungen für die Demokratie. Deren Krise scheint in Teilen der Welt bereits erreichte Ergebnisse zurückzurollen. Vielleicht deshalb vermuten sehr viele Menschen eine geheime Macht hinter den Ereignissen. Gleichzeitig halten wieder andere Gruppen an den festgefügten, zum Beispiel militärischen, Strukturen fest.

In der Bekämpfung der Pandemie zeigt sich aber, dass die meisten Regierungen und die meisten Menschen der Vernunft folgen, dass selbst bösartige Autokraten einzulenken bereit sind. Das heißt, dass die Welt sich zwar in einer tiefgreifenden Krise befindet, die Mittel zu ihrer Überwindung aber ebenfalls vorhanden sind.

Daraus wieder folgt, dass die heutige Welt durchaus an einem Neubeginn steht und für diesen auch bereit ist. Es gilt aber leider immer: jammern ist leichter als motivieren. Schuldige finden ist leichter als Visionäre. Der schäbigste Satz des pragmatisch erfolgreichen und beliebten Kanzlers Schmidt, dass, wer Visionen hat, den Arzt aufsuchen solle, eine Bemerkung, die ausgerechnet Erdoğan übernommen hat, diese Bemerkung kann sich aus heutiger Sicht gar nicht gegen die Visionäre selbst richten, damals war vielleicht sogar Brandt gemeint, der unter Depressionen und Visionen litt, sondern zeigt möglicherweise nur, dass es Epochen gibt, die keiner Vision bedürfen.   

An einem Neubeginn dagegen sieht auch der Pragmatiker ein, dass es einer Vision bedarf. Unsere Voreltern waren im April oder Mai 1945 sicher nicht bereit, auf Visionäre zu hören, verharrten lieber im Wenn und Falls. Aber in den nächsten Jahren folgten sie erstaunlich willig zwei unterschiedlichen Konzeptionen, die beide bewährt schienen. Allerdings war die Kombination aus Demokratie, Vergebung und Wohlstand weitaus erfolgreicher als ihre östliche Gegenspielerin, die Kombination aus Verzicht und Autoritarismus. Selbst der Verzicht wurde ja nicht verkündet, sondern schien durch die Zeilen der immer wieder vorgebrachten Heilsversprechen. Der Ostblock brach zusammen, als er gegründet wurde: man kann nicht den Glauben an Heilsversprechen mit restriktiven Mitteln erzwingen. Die DDR brach am 13. August 1961 zusammen, nicht am 9. November 1989, als die falschen Heilsbringer ihre Zettel vertauschten.

Wahrscheinlich blüht in den fetten Jahren der Pessimismus, in der Krise dagegen keimen die zarten Pflänzchen Optimismus und Vision.  

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