Nr. 172
In dem Film ‚Populärmusik in Vittula‘ von Reza Bagher fallen alte Weiber in der Einöde der schwedisch-finnischen Grenzregion in Ohnmacht, als sie nicht nur zum ersten Mal in ihrem Leben einen Schwarzen sehen, sondern einsehen müssen, dass sie sich nicht mit dem polyglotten schwarzen Missionar verständigen können. Nur der kleine Matti hatte in einem Radiokurs Esperanto gelernt.
Wenn man die aktuellsten Nachrichten vom heutigen Morgen mit den ältesten Berichten etwa aus der Bibel vergleicht, dann könnte man zu dem gewiss trivialen Schluss kommen, dass die Weltgeschichte in Wellen der Wanderungen ganzer Völker und einzelner Familien verläuft. Moses führte sein Volk aus Ägypten. Die Familie von Jesus musste vor dem Knabenmord des Herodes nach Ägypten fliehen. Nero ließ in Rom Christen anzünden. Mohammed wurde aus Mekka vertrieben, und der von ihm gewählte Ort heißt heute Medina, Stadt des Propheten. In der Nacht zum 24. August 1572 ermordete man in Paris tausende Protestanten. Das Wort Pogrom für die Massaker an Juden stammt dagegen aus Russland. Das größte Pogrom war der Holocaust. Danach flohen rund zehn Millionen Deutsche vor der Rache des Ostens in den Westen. Das war vor siebzig Jahren. Vor sechzig Jahren kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland. Seit fünfzig Jahren wohnen Millionen Türken bei uns. Schon immer kommen Kriegsflüchtlinge. Noch nie wurden Flüchtlingen Autobusse und Eisenbahnen entgegengeschickt. Trotzdem ertrinken immer noch Menschen im Mittelmeer und ist der Schrecken des in der Wüste und auf dem Meer Erlebten in den Augen jugendlicher Flüchtlinge aus Eritrea genauso lesbar wie in den alten Schriften.
Krieg, Hunger und Pest waren und sind die Hauptfeinde der Sesshaften, für die es noch nicht einmal ein richtiges Wort gibt, sondern nur dieses Übergangswort für einen Übergangszustand. Aber ist nicht jeder Zustand Übergang? Warum werden Zustände erbittert verteidigt, wenn sie doch nur Übergänge in den nächsten Zustand sind? Bei traumatischen Ereignissen wird gern die Formel benutzt: Danach wird nichts so sein, wie es davor war. Aber das gilt doch immer. Kein Tag ist so wie der vorhergehende. Menschen werden geboren, Menschen sterben, Häuser werden aufgebaut und abgerissen. ‚Ein schwankendes Gebäude braucht des Erdbebens nicht, um übern Haufen zu fallen.‘ (Schiller, Die Räuber, II1). Die Forderung der Ultrarechten, dass sie auch in tausend Jahren noch in Deutschland leben wollen, ist genau so unsinnig und ahistorisch wie Honeckers Aufschrei ‚Die Mauer wird noch fünfzig oder hundert Jahre stehen.‘ Nur Begriffe halten lange. An der Schweiz kann man sehen, wie schnell sich ein Land verändert, das einfach nur stehen bleibt.
Je sicherer die Welt wurde, desto mehr sind wir von Sicherheitsdenken beseelt, und desto mehr glauben wir, dass unser Zeitalter das unsicherste ist. Je trüber der Blick, desto schrecklicher die Welt. Man muss die Folgen seines Handelns bedenken, sicher, aber wer nur über die Folgen nachdenkt, hat genauso wenig Gelegenheit zum Handeln wie derjenige, der nur über die Einhaltung von Gesetzen nachdenkt. Wir können die Folgen unseres Handelns nicht einmal bruchstückweise voraussehen. Das ist der Grund, warum so viele Menschen lieber von einer Planmäßigkeit des Weltgeschehens und ihres Lebenslaufs ausgehen. So gesehen ist jede Diktatur eine verwirklichte und gescheiterte Verschwörungstheorie. Geschichten sind konstruiertes Leben, Leben ist verwirklichte Geschichte.
Es ist nicht so schwer, sich eine Kleinstadt in Deutschland vorzustellen, die sowohl im Dreißigjährigen als auch im Zweiten Weltkrieg so schwer zerstört wurde, dass sie sich sichtlich nicht und bis jetzt nie wieder davon erholte. Zwar gab es immer wieder auch einmal Rückbesiedlungen und Rückbesinnungen, aber nach dem letzten großen welthistorischen Ereignis, der deutschen Wiedervereinigung, war der Niedergang nicht mehr aufzuhalten. Eine kleine Gruppe von russlanddeutschen Spätaussiedlern brachte eine kleine Belebung, insgesamt ist aber fast die Hälfte der Einwohner gestorben oder ausgewandert. Ein kleiner Teil der historischen Bausubstanz erinnert an große tage, die längst vergangen sind, aber auch die Erbauer der Zwischenwelt, der Plattenbauten, werden bald vergessen sein.
Unvorstellbar ist in solch einer kleinen Stadt eine Wohnbevölkerung, die zur Hälfte oder sogar zu drei Vierteln aus Kindern besteht. Was wäre das für ein Glück für eine Perspektive voller Lebensfreude. Der weltoffene Bürgermeister müsste aus seinem provisorischen Rathaus ausziehen, denn es müsste wieder Schule werden. Kinderlachen und frohe Erwachsene würde das Stadtbild genauso bestimmen wie jetzt der offensichtliche Rückschritt. Flüchtlinge gibt es genauso wie einige Jugendliche, aber ob sie bleiben wollen und werden? Das ist die bange Frage des mutigen Bürgermeisters und der bangen Bewohner, von denen immerhin soviel für die Ultrarechten sind, dass es einer der ihren als Stadtrat ins Rathaus geschafft hat. Dort kann er sich aber weder gegen den Bürgermeister, der keiner Partei angehört, noch gegen die Hoffnung durchsetzen.
Es gibt also nur zwei Dinge, die in dieser kleinen Stadt fehlen: Geld und Arbeitsplätze, was vielleicht das gleiche ist. Konventionell gedacht muss man leider sagen, dass in so einer kleinen Stadt nur ein Änderungsschneider sein Auskommen hat. Obwohl es mehrere Seniorenresidenzen gibt, ist auch dort der Arbeitskräftebedarf letztlich begrenzt, zumal nicht jeder für diese verantwortungsvolle, aber ein wenig hoffnungslose Arbeit geeignet ist. Warum vertrauen wir nicht viel mehr auf die zukunftsträchtige Seite unserer Gesellschaft, auf den gesamten informationellen Teil? Jeder Flüchtling hat ein Smartphone. Das Smartphone hat mehr zur Globalisierung beigetragen als dieser durch ungelöste Probleme geschadet werden kann. Die Investitionen auf diesem Gebiet sind auch längst nicht mehr so furchteinflößend wie noch vor ein paar Jahren. Wenn wir also über Arbeitsbeschaffung und Geldbeschaffung nachdenken, sollten wir nicht dabei die Blätter im Herbst vor Augen haben, die bisher von einem Heer von Hartzvieristen in wahren Sisyphosaktionen bekämpft wurden. Vielmehr sollten wir uns auf regenerative Energien besinnen, aus diesen Blättern also zum Beispiel Biogas machen. Vielmehr sollten wir über IT-Prozesse und IT-Dienstleistungen nachdenken. Vielmehr sollten wir überhaupt auch Chancen dort sehen, wo bisher eher Verfall und Entropie samt dem dazugehörigen Entsetzen herrschten. Vielmehr sollten wir also die kleinen Städte, allen voran die kleine Stadt zwischen Anklam udn Neubrandenburg, und die heute überdimensioniert wirkenden Dörfer neu besiedeln, aber nicht nur mit Menschen aus aller Welt, sondern auch mit Ideen und Hoffnungen aus allen guten Geschichten, die die Menschheit hervorgebracht hat und mit sich durch die Geschichte schleppt. Statt Esperanto brauchen wir heute einen verbesserten Googleübersetzer.

woanders, aber auch leer
Über den Google-Übersetzer lässt sich ja immerhin sagen: Er wird immer besser.
Als die Bürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg jetzt äußerte, sie könne sich vorstellen, dass aus dem Tempelhofer Feld ein neuer kleiner Stadtteil wird (die Bebauung wurde ja nach Volksentscheid verboten, aber das zählt wohl nicht mehr), da dachte ich, dass a) die Bildung weiterer Ghettos in Berlin unbedingt verhindert werden muss, und b) viele Städte in Brandenburg nach einer Neubelebung lechzen, wenn es nur gelingt, die Arbeit dorthin zu bringen. – Andererseits frage ich mich auch, was uns denn die Zuversicht gibt, dass alle die, die jetzt kommen, bei uns bleiben wollen.
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da ist der bürgermeister von friedland realistisch und hoffnungsfroh zugleich: er rechnet mit zehn prozent, die bleiben. das ist zwar keine trendwende, aber auch mehr als der berühmte tropfen auf den heißen stein. beste grüße rst
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