MILITÄRMUSIK VON FRÄULEIN MAYER

Friedland braucht ein Mayerdenkmal!

Seit einigen Jahren spielt in Friedland in Mecklenburg ein junger Organist, Lukas Storch, die Eröffnung des Friedländer Orgelfrühlings. Nach einem Konzert standen wir mit ihm auf dem Marktplatz hinter der Marienkirche, und sinnierten über die beiden bedeutendsten Friedländer, Friederike Krüger, die als Mann verkleidet, was immer wieder ein Rätsel ist, an den Befreiungskriegen teilnahm, und Wilhelm Sauer, der immerhin die Orgeln im Berliner Dom, in der Thomaskirche in Leipzig und in der Breslauer Jahrhunderthalle gebaut hat. Aber wir vergaßen die bedeutendste Friedländerin, die Komponistin Emilie Mayer (1812-1883).

Die mehrfach umgebaute große pneumatische Sauerorgel geht auf das erste Instrument von Wilhelm Sauer zurück, der aus Schönbeck bei Friedland stammte und in Friedland aufgewachsen war. Ganz sicher kannte er Emilie Mayer, die an seiner Orgel zwar keinen Unterricht erhielt, aber sicher konzertierte. Da man sich in Friedland kaum aus dem Weg gehen konnte und kann, schon gar nicht musikalisch, ist es sehr wahrscheinlich, dass Emilie Mayer, die Tochter des Ratsapothekers, und Wilhelm Sauer, der Sohn des Orgelbauers Ernst Sauer, der durch ein Stipendium des Großherzogs vom Schmied zum Orgelbauer aufstieg, sich kannten.

So wie die Stadt Friedland in zwei Kriegen bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, so ist das Schicksal von Emilie Mayer durch harte Schläge deformiert. Wie groß muss ihre Kraft gewesen sein, diesem Schicksal zu widerstehen und ein großes Werk zu hinterlassen! Ein Talent wird auch immer durch die räumlichen Bedingungen beeinflusst. In diesem Fall einer historisch-gotisch geprägten Kleinstadt. Ihre Mutter starb, als sie zwei Jahre alt war, ihr Vater erzog die fünf Kinder von zwei Frauen allein. Er nahm sich aber, als sie knapp dreißig Jahre alt war, das Leben. Diese tragische Wende war der Ausgangpunkt ihrer erstaunlichen Karriere, die sie zu ihrem Bruder nach Stettin führte, wo sie von keinem geringeren als Carl Loewe unterrichtet und gefördert wurde. In Berlin, wo sie ein eigenes Haus führte, fand sie ebenfalls zwei Förderer, nämlich die beiden Theoretiker und Musikmanager Adolph Bernhard Marx und Wilhelm Wieprecht. Deshalb konnte sie ohne einen berühmten Gatten, wie Clara Schumann, oder einen berühmten Bruder, wie Fanny Hensel, im Berliner und Stettiner Musikleben bestehen. Konzertreisen führten sie aber auch in alle Musikzentren Mitteleuropas. In Musikkritiken wurde immer wieder betont, dass sie als weibliche Komponistin die absolute Ausnahme sei, dass die weiblichen Kräfte an sich nicht ausreichten, sinfonische Dimensionen zu bewältigen. Kein Mensch kam auf die Idee, die biografischen Umstände für den vermeintlichen Mangel an weiblicher Gestaltungskraft zu untersuchen. Es scheint auch einen finanziellen Engpass in ihrem Leben gegeben zu haben, als sie 1862 wieder zu ihrem Bruder nach Stettin zurückzog. Die letzten Jahre ihres Lebens, die sehr erfolgreich waren, verbrachte sie aber wieder in ihrer eigenen Wohnung in Berlin. Wie alle großen Komponisten schrieb sie für die Kinder ihrer Familie, vor allem für ihre Nichten, auch Klavieralben. Ihr Lehrer, der Organist an der Nikolaikirche in Friedland, Carl Driver, der übrigens kurz nach ihrem Vater starb, hat durch seine lehrertypische Bemerkung über ihre eigenwilligen Interpretationen vielleicht den Anstoß zur ihrem kompositorischen Werk gegeben: dann  schreib doch selber, wenn du es besser kannst, soll er gesagt haben, der aber wohl doch eher ein guter Lehrer gewesen war.

Gestern Abend wurde in der ehemaligen Landeshauptstadt Neustrelitz die dritte Sinfonie C-Dur von Emilie Mayer aufgeführt, mit der sie einst im Berliner Schauspielhaus debütiert hatte. Die Akustik im halbbesuchten Landestheater war denkbar schlecht. Im benachbarten Neubrandenburg hätte man die Musik in der wunderbaren Konzertkirche hören können, an der die Gotik, der Großherzogliche Hofbaumeister Friedrich Wilhelm Buttel, auch er ein Stipendiat des Großherzogs, und Pekka Salminen, bauten, der dreißigjährige Krieg, die Entropie und der WWII zehrten.

Den historischen Eindruck, den Klang zu Lebzeiten von Emilie Mayer, das Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz, das alles hat man aber nur in Neustrelitz.

Nur in ihrem ersten Satz erinnert die Sinfonie an Haydn oder vielleicht noch eher an Schubert, wenn er Mozart imitiert. Vielleicht ist es auch ein Haydn, der ein Schüler Schumanns war, auf keinen Fall klingt auch nur der erste Satz epigonal, wie das Programmheft, vielleicht etwas entschuldigend, meint. Da gibt es nichts zu entschuldigen, allenfalls ist der erste Satz der schwächste. Dann kommen drei wunderbare Scherzi, obwohl nur der dritte Satz so heißt. Die große Stärke von Emilie Mayer ist wohl die freundliche und fröhliche Darstellung ernster Gegenstände. Vielleicht heißt die Sinfonie wegen der militärmusikalischen Verdienste ihres Förderers Wieprecht ‚Sinfonie militaire‘, vielleicht auch wegen des Schlagwerks im vierten Satz, aber auf jeden Fall ist es eine völlig eigenständige Interpretation des Militärlebens.

Der Schrecken des Türkensturms, so wurde der Versuch des Osmanischen Reiches, Europa zu nehmen, genannt, hatte uns sowohl das Instrumentarium der Militärmusik als auch eine gut hundertjährige musikalische Mode (‚alla turca‘) gebracht, die Entführung aus dem Serail, der türkische Marsch in der neunten Beethovensinfonie und der A-Dur-Klaviersonate von Mozart, sie alle beruhen auf dem Gleichschritt, auf dem, wenn auch musikalisch gefällig gemachten, Schrecken türkischer Perkussion. Die türkischen Heere, die Europa stürmten, wurden von gigantischen Kapellen (‚mehterhane‘) begleitet, die gleichermaßen Mut und Furcht verbreiteten, allein die Trommeln (davul, kös) hatten manchmal metergroße Ausmaße. Christian Friedrich Daniel Schubarth schrieb: Der Charakter dieser Musik ist kriegerisch, da er auch feigen Seelen den Busen hebt. Nicht so bei Emilie Mayer. Sie schreibt türkische Musik ohne Macht, ohne Timur Lenk, aber nicht ohne Kraft. Sie stellt mit denselben Instrumenten, wenn auch vorsichtig eingesetzt, die beschwingte Freude nichtkriegerischer, im Militär eingesperrter junger Männer dar, die trotzdem fröhlich bleiben, die sich an den Frühling erinnern, an die Mädchen der Dörfer in den Bergen, an die Schönheiten des Lebens. Das ist fernab von Krieg und Kriegsgeschrei. Das ist fröhlich und zärtlich, fast erotisch möchte man meinen, das Fräulein, so wurde sie tatsächlich auch in Kritiken genannt, erinnert sich an die Jungs aus Friedland.

Die Dumpfheit des Landestheaters, überhaupt des Großherzogtums, muss nicht zwangsläufig in die vielbeschworene Dummheit und Zurückgebliebenheit des Landstrichs verfallen. Der Großherzog musste viel mehr Talente entdecken und gezielt fördern. Das Theater steht an der Hertelstraße:  der eine Hertel, der in Strelitz wirkte, war Bachs Freund, der andere Bachs Schüler, beide haben wunderbare Musik gemacht, die Mayer ist nicht direkt vom Großherzog gefördert worden, aber der alte Sauer wurde nach Ohrdruff geschickt, um geschickter Orgeln bauen zu können, Friedrich Wilhelm Buttel gar wurde als achtzehnjähriger zu Schinkel nach Berlin in die Lehre gesandt und kam als neunzehnjähriger (!) Hofbaumeister zurück. Das ist Größe, auch vom Großherzog. Und etwas davon mag im Herzen der liebenswerten Mayer angekommen sein: das Leben, wie viel Schicksalsschläge es für dich auch bereit stellt, ist lebenswert, fröhlich, freundlich, erotisch, frühlingshaft, eine Sinuskurve wie die unendlichen Endmoränen des Großherzogtums.

Nach diesem schönen und erfrischenden Konzert, dessen Schwung die Zuhörer zu Beifallsstürmen hinriss, kam eine der schönsten Autofahrten meines Lebens. Im Halbdunkel sieht man die Lücken in Neustrelitz nicht. Der Nebel aus dem Lied des Schwedter Hofkapellmeisters Johann Peter Abraham Schulz legte sich auf die Straßen und tiefschwarzen Wälder der sanften Endmoränen. Rehe kreuzten die Straßen, was nicht ganz ungefährlich ist, aber zum langsamen Fahren anhielt. Nach einer Weile zählte ich sowohl die Autos als auch die Füchse und kam bei beiden auf die Zahl fünfzehn bei neunundachtzig Kilometern. Das dürfte Deutschlandrekord sein. Nur Russland und Australien sind noch menschenleerer als das Großherzogtum und die Uckermark. Malerische Dörfer reihten sich an der Straße auf. Traumhafte Berge und Täler erinnerten nicht nur an Kinderlieder. Im Ohr war noch die freundliche, ebenso traumhafte Musik von Fräulein Mayer. Wir wissen nicht, warum sie nicht verheiratet war, vielleicht war sie enttäuscht oder lesbisch, vielleicht reichte das väterliche Erbe gerade mal für sie alleine und sie war der Meinung, dass ihr Talent aber für zwei reichte, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann man aber annehmen, dass die Männer, die ihr begegneten, von ihrem Talent abgeschreckt waren: wer sollte kochen, waschen, Socken stopfen, wenn die Hausfrau am Bechsteinflügel saß und döste? Die Nachwelt sollte noch freundlicher mit diesem Erbe umgehen, als es in den letzten Jahren schon von der Schweriner Staatskapelle und der Neubrandenburger Philharmonie versucht wurde. Und Friedland braucht ein Mayerdenkmal!

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