Nr. 173
Dadurch dass man manchmal einen veralteten und verstörenden Wegweiser findet, der auf eine Straße weist, die schon lange nicht mehr benutzt wird, die von einer Bahnlinie durchschnitten wird, die es seit hundert Jahren schon gibt und an der ohnehin nur ein einziges verlassenes Haus steht, dadurch glaubt man, dass die Wegweiser das Orientierungsproblem sind. Es ist aber eher umgekehrt. Die Wegweiser werden rechtzeitig gewechselt, aber die Wege bleiben noch lange Zeit bestehen. Dieselbe Sucht nach Gewohnheit und Vertrautheit lässt aber auch Wege ohne Wegweiser, gar ohne Erlaubnis oder im Widerstand gegen Weisungen entstehen.
Immer wieder kann man lesen oder hören, die DDR hätte den Menschen die Religion genommen. In der Tat war die DDR nicht religionsfreundlich. Aber der verordnete Atheismus der DDR traf ja doch wohl auf Menschen, die gerade massiv gegen das Tötungsverbot verstoßen hatten. Oder haben sie in Stalingrad gebetet? (Es ist noch schlimmer, sie hatten sogar Pfarrer dabei, die den Sieg der Mörder gewünscht haben.) Von dem gottlosen Attentäter in Paris oder Istanbul wird behauptet, er sei ein radikaler Muslim. War dann der Eroberer von Stalingrad nicht ein radikaler Christ? Und ist unsere Empörung gegen diese Erkenntnis nicht nur aus unserer Vertrautheit mit dem Christentum, unsere Annahme, dass der Islam aggressiv sei nicht nur unserer Unkenntnis geschuldet? Eine Milliarde Muslime sind jedenfalls offensichtlich keine Attentäter. Und natürlich sind die Deutschen, die in Stalingrad Massaker verübten, nicht als Christen dorthin gezogen. Aber dann ist auch der DDR-Atheismus nicht schuld an der Entchristianisierung. Die DDR hat weder wirtschaftlich noch kulturell wirkliche Spuren hinterlassen, aber sie, ein schwächelndes, von Moskau gehaltenes inkompetentes Regime soll eine Weltreligion gestürzt haben? Eine Religion, die verspricht, Menschen aus der Not zu befreien, muss sich nicht wundern, wenn niemand kommt. Es gibt gar keine Not mehr. Und Weihnachten, das vielbeschworene Wunder der Liebe, kommt nicht von allein, sondern nur, indem man auf Menschen zugeht. Wer Angst vor Menschen in Not hat, kann sich nicht als Christ oder Muslim oder Jude bezeichnen. Die höchsten Ziele, die wir anstreben können, Mensch zu sein und Liebe zu geben, sind ohnehin unabhängig davon, ob wir Christ, Muslim, Jude, Buddhist, Hindu, Zeuge Jehovas oder Hutterer, Marxist oder Anthroposoph sind oder waren oder werden.
Der Vorsitzende der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit, der gerade Recht und Gerechtigkeit zugunsten von zurückgekehrtem Nationalismus aufgeben will, hat seine Doktorarbeit bei einem Professor geschrieben, der die Vorstellung von Politik als Direktorat hatte. Genau diese Vorstellung versucht Kaczynski zu verwirklichen, obwohl er nicht nur kein Marxist, sondern natürlich Antikommunist ist. Außerdem hasst er aber Deutschland und Russland und alle Menschen, die sich ihm in den Weg stellen. Wenn er und seine Partei nicht regieren, dann, will er seine Landsleute glauben machen, wird Polen von einem deutsch-russischen geheimen Direktorium regiert. Liebt er Polen oder liebt er die Macht oder liebt er gar nur sich? Gewählt wurde er wegen der von ihm versprochenen Einführung des Kindergelds von 125 €, wir müssen vor unseren polnischen Nachbarn also keine Angst haben. Wegweiser, ob falsch oder richtig, kommen und verschwinden immer schneller als die Wege.
Auch bei uns in Deutschland tobt gerade ein Streit, nicht weil jemand den Weg weiß, sondern weil niemand den Weg weiß. Über Nacht scheinen alle Wegweiser umgedreht zu sein. In solch einer Situation werden immer die alten Fahnen und Wegweiser aus den Verstecken geholt. Die ganze Kraft wird in den Blick zurück gesteckt. Da bleibt kein Mut für den Weg ohne Wegweiser und ohne Wegweise. Wegweise gibt es nur alle hundert Jahre. Als Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos kniete, haben viele Polen das als Demutsgeste Polen gegenüber verstanden, viele Juden haben es als Schuldbekenntnis aller Deutschen genommen und die Deutschen waren erleichtert. Diese eine schlicht-emotionale Attitüde hat ein Tor in eine ganz neue Politik aufgestoßen, hat letztlich den gesamten Ostblock destabilisiert. Und wieviel Millionen Katholiken wird es geben, die gedanken- und gefühllos auf den Knien auswendig gelernte Gebete herunterleiern? Die millionenfach missbrauchte Attitüde kann zum einsamen Symbol, zum Wegweiser für ganze Generationen werden. Der selbstgewollten Demütigung des einzelnen, wenn sie Wegweise sind, kann die Ermutigung ganzer Völker folgen.
Ein Weg ist oft eine Chance und ein Wegweiser eine Hoffnung. Aber genauso oft gehen wir Irrwege, weil wir aberwitzigen Wegweisern folgen, die von früher hier stehen oder die der böse Wille aufgerichtet hat. Seit wir die rationalen Jahrhunderte erreicht haben, trauen wir uns selbst nicht mehr über den Weg. Wir misstrauen unseren Träumen und Emotionen. Wir haben nicht nur Angst vor dem Weg, wie unsere Vorfahren, sondern vor uns selbst. Wer Angst vor neuen Wegen oder neuen Weggefährten hat, lese das Schiffstagebuch des goldgierigen Kolumbus. Sein Ziel war nicht Amerika, sondern Vizekönig zu werden. Für wenige von uns gibt es keinen richtigen Weg, weil es gar keinen Weg für sie gibt.
Für die andern gilt die Weisheit des großen Gelehrten aus Basra, al Hariri (1054-1122), übersetzt von Friedrich Rückert (1788-1866):
WAS MAN NICHT ERFLIEGEN KANN, MUSS MAN ERHINKEN.
In die falsche Richtung zu fliegen, bringt einen zwar schneller und weiter vom gedachten Ziel ab, aber die Erkenntnis, in die falsche Richtung gehinkt zu sein, ist wohl die schmerzlichere. Da wir zum Hinken neigen, sollten wir die Richtung besonders sorgfältig bedenken.
Was nun Wege angeht, kam mir heute ein seltsamer Gedanke. Im Inforadio hörte ich eine Sendung über die Ausgrabungen in Manot im Norden Israels. Der dort gefundene Schädel gilt als Sensation, scheint er doch den Nachweis zu liefern, dass der moderne Mensch aus dem östlichen Afrika kommt, während der Neandertaler im Norden beheimatet war, sich auf der Flucht vor der Eiszeit allerdings bis in eben jene Gegend von Manot bewegte, die als seine südlichste Verbreitung gilt. Archäologen, die mit Bezug auf die frühen Menschen nicht von Sex sprechen möchten (aus welchen Gründen auch immer), sagen, das sich hier der Neandertaler mit dem modernen Menschen kreuzte und sich von dort aus seine Verbreitung in nördlicher Richtung über die ganze Welt vollzog. Bedenkt man nun, dass die für unsere Kultur maßgeblichen monotheistischen Religionen allesamt an eben demselben Punkt der Weltkarte ihren Ursprung haben, und dass die heute herrschende Fluchtbewegung (vielfach auch als Völkerwanderung bezeichnet) ebenfalls mehr oder weniger am selben Ort ihren Ausgang nimmt, dann erhebt sich die Frage, ob es sich um einen Zufall handelt, oder ob es so etwas wie einen geographisch zu bezeichnenden „Weg des Wandels“ gibt, die gegenwärtige Entwicklung also nur einer seit Jahrtausenden vorgezeichneten Spur folgt.
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ich bin froh und dankbar, eine so kluge leserin zu haben! der von mir zitierte dichter stammt aus basra, wenn man es arabisch deutet, heißt das stadt des überblicks, deutet man es persisch, dann ist es die stadt der vielen wege. ich denke auch, dass die wege im moment archaisch sind, obwohl in den heutigen erzählungen diese merkwürdigen schaluppen und untauglichen lastwagen in der wüste vorkommen.
ich hatte befürchtet, dass ich mich mit meinem wegeprojekt nicht würde behaupten können. vielen dank also für deinen genau passenden kommentar.
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