DIE GESCHICHTEN MEINER GROSSMUTTER

Meine Großmutter war der Vorgeschmack  auf die heutigen Medien: ihre Geschichten und Sprüche waren allgegenwärtig. Es waren mehr Legenden darunter als eine Zweizimmerwohnung ertragen konnte. Sie war auch Verschwörungstheorien nicht abgeneigt und ging hin und wieder in einen spiritistischen Zirkel. Durch unsere Großeltern, wenn sie fern genug sind, und durch unsere Enkel, wenn sie jung genug sind, haben wir eine Erfahrungsspanne von fast anderthalb Jahrhunderten.

Genauso wie wir uns in den Medienkonsum flüchten, flüchtete man früher in die Familiengeschichte. Seit langem gibt es Fotoalben, lange vor den Nationalsozialisten gab es ein Interesse an Familiengeschichte. Die Hausbibel hatte oft vorgeschaltete Seiten mit dem so genannten Stammbaum. Jede Zeit bietet übrigens genügend Stoff, um individuelle, Familien- und Weltgeschichte miteinander zu verknüpfen. Der erste Weltkrieg, davon abgesehen, dass er von vielen Historikern als die Urkatastrophe des an Katastrophen nicht gerade armen Jahrhunderts angesehen wird, war für viele Menschen die erste Gelegenheit, an andere, weit entfernte Orte zu gelangen. Das Ausland besuchten bis dahin nur ganz wenige Menschen. Kein Wunder also, dass ihre Berichte zu Legenden wurden. In der Familie meines Großvaters, der sieben Geschwister hatte, was damals nicht ungewöhnlich war, kam die Legende auf, dass in einer nordfranzösischen Stadt, nicht weit von Belgien entfernt, in einem Museum die Urahne unserer Familie als möglicherweise sogar von Lucas Cranach gemalte Idelette de Bure, verwitwete Stordeur, ausgestellt ist. Das Bild gibt es noch als Kopie und unser Nachname ist stammt tatsächlich aus dieser europäischen Gegend. Was heute ein Urlaubsnachmittag ist, war damals ein abendfüllendes Programm.

In der Kleinstadt, aus der meine Großmutter stammte und wir lebten, herrschte niemals das Weltjudentum. In meiner Kindheit herrschten dort die Kommunisten und verwalteten das Elend. Rings um die kleine Stadt wurde Braunkohle abgebaut. Wir zählten oft die Waggons eines Güterzuges. Eine Lokomotive der Baureihe 54 zog locker 54 Waggons mit je 20 Tonnen, also insgesamt über 1000 Tonnen Braunkohle, aber wir rechneten, wenn wir überhaupt rechneten, alles in Zentner um. Unsere Kindheit war braunkohlenrußgewschwärzt, zumal auch die Briketts, die gepresste Braunkohle, angeliefert wurde, indem man sie auf die Straße schüttete, von wo sie mit Eimern in die Keller geschafft wurde. Das war eine gute Gelegenheit, sich eine oder zwei Ostmark zu verdienen. Allerdings zeigt sich heute, dass es zwischen Braunkohle und Kommunisten keinen Kausalzusammenhang gibt.

Im Elternhaus meiner Großmutter, in dem wir damals wohnten, war ein altes Flüchtlingsehepaar aus Breslau untergebracht. Der Mann war ein Farbengroßhändler, was man an seiner umgehängten Aktentasche sehen konnte, und die Frau war Spiritistin. Sie konnte tatsächlich den Kontakt zu Toten herstellen. Das einzige Zimmer ihrer winzigen Wohnung wurde verdunkelt, es gab zu Einstimmung einen Kräuterlikör und es wurde reichlich nachgeschenkt.  Spielkarten lagen auf dem Tisch, der dann irgendwann im Laufe des Abend anfing zu wackeln. Meine Großmutter hörte meinen toten Großvater sprechen. Der Mann starb dann bald und die alte Frau verbrachte ihre letzten Lebensjahre in einem Pflegeheim, das in einer alten Wasserburg untergebracht war. Und darin gab es seit Jahrhunderten eine weiße Frau, die nachts durch die Räume lief und die Menschen nicht erschrecken wollte, aber doch erschreckte. Einige starben sogar an den Schrecken dieses Spuks, wie sie selber glaubten und wie dann von den Überlebenden immer wieder und wiede5r erzählt wurde. Die Besuche in diesem Altersheim empfand ich als schrecklich, aber sie brachten uns jahrelang Westpakete ein, die von der dankbaren Tochter, die nicht kommen konnte, regelmäßig geschickt wurden. An diese Pakete muss ich heute noch denken, wenn ich durch einen ALDI gehe.

Lange bevor es Seifenopern tatsächlich gab, wurden wirkliche Ereignisse durch die Großmütter in Legenden umgegossen. Es gab schon einmal eine Zeit, wo dieser Vorgang in die Weltliteratur einging, als nämlich die Gebrüder Grimm Märchen sammelten, die von besonders fähigen Erzählerinnen allabendlich verbreitet wurden. Ein Mensch wurde von einem blitzgefällten Baum erschlagen und die Generation meiner Großmutter machte daraus einen Mann mit vier Kindern, der drei Straßen weiter wohnte, und aus dem Gewitter wurden die Wetterunbilden, die zwischen Gottesstrafe und Klimawandel angesiedelt waren. Es war Stimmungs- und Angstmache über der seifenduftenden Fußwaschschüssel. Sogar die Scheintoten, durch übrigens tatsächlich veränderte Untersuchungs- und Beerdigungsmethoden gänzlich ausgeschlossen, mussten in diesen Erzählungen herhalten. Das ganze neunzehnte Jahrhundert lebte in meiner Kindheit fort. Ein Teil der Geschichten wurde in Sprüchen konzentriert oder besser kondensiert. Mir war als Drittklässler schon das Wort Surrogat geläufig, denn es stand auf dem von mir sehr geschätzten Caro-Kaffee, der in den Westpaketen war.

Wie die Sprüche mit den Geschichten korrelierten, zeigt ein Lieblingsspruch meiner Großmutter: Wer seinen Kindern gibt das Brot und leidet nachher selber Not, den schlagt mit dieser Keule tot, so steht es am Stadttor von Jüterbog. So wie in dem Märchen ‚Hänsel und Gretel‘ ausführlich erzählt, war in diesem bösen Spruch das heutige Denken noch nicht zu erkennen. Während wir von einer eindeutigen gegenseitigen und umkehrbaren Versorgungspflicht ausgehen, glaubte man damals an den Vorrang der Eltern. Das Ideal war überhaupt der alte Mensch. Die Jugend musste sich als alt verkleiden, heute ist es genau umgekehrt.

Aber vieles, vielleicht sogar das meiste, ist auch gleich geblieben. Die Geschichten gibt es heute im Fernsehen, die Sprüche und Verschwörungstheorien bei Facebook und bei Bundestagswahlen. Wer weiß schon, dass BüSo, die auch für den Bundestag kandidieren, eine verschwörungstheoretische Gruppe ist, die sogar den guten alten Schiller missbraucht? Viel stärker als alle unsere Vorfahren, die doch ununterbrochen Geschichten erzählten und vorlasen, hängen wir von den Geschichten aus den vielfältigen Medien ab, denen wir uns kaum entziehen können, die aber auch andererseits die Quelle sehr umfänglichen Weltwissens und sogar Weltgewissens sein können. Ich glaube nicht, dass wir unter einer medialen Flut leiden. Ich glaube, dass wir dem Höhepunkt der Poetisierung erst noch zustreben werden, ein Zustand, der von den Romantikern mit ziemlicher Präzision, denn einige von ihnen waren Naturwissenschaftler, vorausgesagt und herbeigewünscht wurde. Irgendwann werden wir nicht mehr unterscheiden können, ob wir in der Wirklichkeit sind oder in einer Fortsetzungsgeschichte. Der Wahn und die Geschichten waren schon immer Surrogat der Welt. Aber ist die Welt nicht auch manchmal Surrogat für eine schlechte Geschichte? Die Welt wird eines Tages so sein, als ob wir alle vom Fliegenpilz gegessen oder auf meine Großmutter gehört hätten. Aber einen besseren Trost über und für die Welt kann es doch nicht geben?

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