Meine Kindheit ist überstrahlt von einigen Gegenständen, die nur zu Festtagen benutzt wurden oder an denen die Besonderheiten einer Familie sich festmachten, einer Familie, die durch den Krieg zerstört und geschändet war, so die selbstmitleidige Selbstwahrnehmung. Aber so ist es nicht. Zwar nimmt man als Kind solch ein gewolltes und immer wieder erklärtes Familienbild auf, aber erstens sah man schon als Kind, dass die anderen Menschen auch nicht anders lebten. Und zweitens hat man als Kind ganz andere Prioritäten. Mein Ziel war es zum Beispiel, alle Automarken theoretisch und praktisch zu erkennen und Fahrradfahren zu lernen, die Nachbarstochter zu küssen und in der Clique einen Platz einzunehmen, der größer wäre als mein Körper.
Es gab in unserer kleinen und sehr dürftigen Wohnung ein paar Dutzend Gegenstände und sie befanden sich in der gleichen Hierarchie wie die Menschen, die sie benutzten und die uns umgaben. Es gab die täglichen Dinge und die feiertäglichen, es gab das Elend und die Größe. Ging man hinaus dann war es ebenso: der aus russischer Gefangenschaft heimgekehrte Wehrmachtsoffizier schlug seine Kinder und der beinlose Bettler verkaufte Nadelkissen aus seinem Selbstfahrer genannten Wagen heraus, der ein Rollstuhl mit handgetriebener Fahrradmechanik war. Man hielt an einer Ordnung fest, die soeben gescheitert war. Man flüsterte über die Weltmacht jener Juden, die man gerade umgebracht hatte. Man schürte das Vorurteil gegen Zigeuner, die es nicht mehr gab. Dagegen glaubte man langsam wieder, was in den Zeitungen stand. Das Misstrauen gegen die Zeitungen war nur kurz. Es ist ein Unterschied, ob ich den Zeitungen in einer Diktatur glaube oder die am Verkauf orientierten Zeitungen eines freien Landes als Lügenpresse bezeichne. Die Erkenntnis, dass Medien staatsgesteuert sein können, kommt sozusagen 35 oder 80 Jahre zu spät. Jetzt erkennen manche, was sie damals nicht hätten glauben sollen. Inzwischen gibt es, wie in jeder Demokratie, eine große Gruppe von Menschen, Nixon nannte sie silent majority und glaubte sich ihrer Zustimmung sicher, die den Primat der Politik nicht mehr wichtig nimmt. Die Demokratie ist etabliert. Man muss nicht mehr darum kämpfen, seine Meinung sagen zu dürfen. Man muss auch nicht mehr sein Leben anbieten, wie noch Voltaire meinte, damit der andere seine kontraproduktive Meinung sagen kann. Bei jeder Pegidakundgebung un bei jedem NPD-Pressefest wird uns das deut- und ärgerlich. Wer aus der letzten Diktatur kommt, ist erstaunt, wie frei die Freiheit ist, wie umständlich aber auch die Demokratie. Viele Politiker benehmen sich wie Gewerkschafter, die immer noch vom Kampf um den Achtstundentag träumen. Es ist auch so, wie mit dem Hunger. ist er einmal beseitigt, wird das Essen nicht mehr so geachtet wie bisher. Deshalb ist eine Pause beim fortwährenden Essen nicht schlecht. Das Essen, der Dank dafür, immerhin haben Generationen daran gearbeitet, und es war ein Poker gegen die Zerstörungsfraktion, die in der Ukraine das Kornkammer Europas sah, der Fokus aus das Elementare des Lebens wird wieder bewusster, wenn man ein Zeitlang, einen Ramadan lang, darauf verzichtet. Noch schöner wäre ein rationalisierter Ramadan in einem moderaten Monat und mit einer Minimalmenge an Wasser.
In der Durchschnittswohnung eines Westeuropäers befinden sich etwa 10.000 Gegenstände. Dementsprechend groß sind unsere Wohnungen. Allerdings erzeugt die Befriedigung der Wünsche neue Wünsche, das stets vorhandene Geld zieht keine Grenze mehr. Wer kein Geld hat, leiht sich welches. Das ist nicht neu, aber perfektioniert. Wir habe eine Inflation der Dinge, die die Inflation des Geldes abgelöst hat. Gleichzeitig gibt es auch eine noch wenig beachtete Inflation der Worte. So wie Generationen vor uns mit ihren Schwierigkeiten, und darunter waren immerhin Pest und Krieg, Cholera und Inflation, Hunger und Unbildung (die Unbilden der Unbildung), der Glaube schließlich an Hierarchien statt an Gedanken und Menschen, so müssen wir mit unseren Schwierigkeiten leben. Die Welt wird nicht immer schlimmer, sondern sie wird nur zu langsam besser, als dass wir es wahrnehmen und uns darüber freuen könnten. Immer wieder werden neue Tautologien aufgehäuft, um die besonderen Probleme des rezenten Menschen zu zeigen: in Zeiten wie diesen, heutzutage, in Zeiten leerer Kassen (in denen es mehr Geld gibt als je zuvor), in unserer schnelllebigen Zeit, Informationsflut undsoweiter undsoweiter.
Lest die Bibel und den Koran, da findet ihr genau die Probleme, die uns heute plagen. Der Mensch hat sich nicht grundlegend geändert. Vielmehr hilft er sich mit seiner atemberaubenden Technik über seine geistige Atemnot hinweg. Stellt das gute Geschirr eurer Großeltern in den Mittelpunkt eures bewussteren, ramadangestützten Essens. Denkt an unseren Umgang mit den Tieren, wenn ihr im Supermarkt für das Wochenende einkauft. Esst lieber weniger, dann werdet ihr wieder mehr in dem Sinne, dass ihr über das besser nachdenken könnt, über das unsere Vorfahren aus Hunger hinwegschlingen mussten. Ich schreibe ‚ihr‘ und meine ‚wir‘ nur aus rhetorischen oder stilistischen Gründen. Dieser Ton bestimmt Nietzsches schönes Zarathustrabuch und ist mit Absicht imitiert nach dem Jesus der Bibel. Er spricht uns an, weil unsere Großmütter, indem sie ihre gutes Geschirr aus dem alten knarrenden Schrank holten, uns unnütze Ratschläge gaben, an die wir uns doch gerne erinnern. Was hat sich geändert?
Sie glaubten sich reich, wenn sie einen Ring und ein Fahrrad besaßen, für die sie so lange gespart hatten. Wir glauben uns reich, wenn wir Dutzende und Aberdutzende von unnützen Gegenständen besitzen und wegwerfen, um neue zu kaufen und sie wieder wegzuwerfen. Unser Problem ist demzufolge der Müll, ihr Problem war die Legende. Aberglaube ist beides.
Und was ist kein Aberglaube? Es geht nicht um Gegenstände, weder um singuläre, noch um inflationäre. Es gibt auch keine dauerhaften Regeln, vielleicht einmal von der goldenen Regel abgesehen, die man aber auch besser erfährt als erlernt. Es geht immer nur um Menschen und ihre Beziehungen untereinander. Was Nietzsche sich noch nicht zu sagen wagte, weil er nicht klingen wollte wie sein Vater auf dessen kümmerlicher Kanzel – man kann nicht von Kanzeln herab auf Menschen reden -, das können wir seit Lennon aussprechen, in Lennon ist auch nur die Quintessenz von all den Gandhis und Schweitzers und Luther Kings unserer immer wieder also so schlecht gemachten Zeit: alles, was du brauchst ist Liebe, die du empfängst und die du gibst.