DIE GEDICHTE MEINER GROSSMUTTER

Die Gedichte meiner Großmutter standen alle in einem gelben Buch ‚Des Mägdleins Dichterwald‘ von Theodor Colshorn, aus dem uns am Sonntagfrüh im Bett vorgelesen wurde. Der Sonntag war damals noch der einzige Nichtwerktag, in seiner Einhaltung berief man sich auf den Schöpfungsbericht. Meine Großmutter widersetzte sich dieser starren Interpretation. Sie erklärte den Sonntag zum Kunsttag. Der Grund dafür war eher ihre Unlust aufzustehen, so verband sie das Angenehme mit dem Nützlichen. Denn dass Kunst nützlich sei, war für sie Axiom. Ihre gesamte Lebenserfahrung war an Sprüche und Zitate gekoppelt, die aus dem Bildungsschatz des neunzehnten Jahrhunderts stammten. Das neunzehnte war das Jahrhundert Schillers. Durch seinen frühen Tod ist Schillers jugendliches Pathos direkt in die Schullesebücher katapultiert worden, während Goethe dort als alter weiser Mann erschien, dessen moralische Sentenzen für Wände taugten, nicht für Köpfe. Dass das Pathos oft auch nur äußerst gekonnte Rhetorik war, übersah man im rhetorischen Jahrhundert gerne. Schiller ist zweifellos der beste Stilist deutscher Zunge, aber er war auch selbstverliebt in seine wunderschönen Formulierungen: ‚In seinen Göttern malt sich der Mensch‘ und ‚In seinen Taten malt sich der Mensch‘ war für Schiller kein Widerspruch, sondern glückliche Sprachkunst [Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, 1789; Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 1795].

Meine Großmutter zitierte, wenn sie Schiller zitierte, zumeist aus der Glocke, die als normativ empfunden wurde, von Schiller aber ganz sicher deskriptiv gemeint war. Sein Anspruch mag der perfekte Schöpfungsbericht als Parallelgeschichte gewesen sein. Sicher werden ihm Ludwigsburger, Rudolstädter und Apoldaer Glockengießer vom fragilen Schöpfungsprozess einer Glocke erzählt haben. In der Geschichte dieses Gedichts zeigt sich die Verwechslung von Wirklichkeit und Parabel sowie Produktion und Rezeption. Dass ausgerechnet Jacob Grimm, der Wörterbuchmeister und Märchenerzähler, die nationalistische Deutung, nur wir Deutschen hätten so ein Gedicht, aufbrachte, mag mit den historischen Umständen zu Schillers hundertstem Geburtstag entschuldigt sein.

Vor der massenhaften Reproduzierbarkeit von Kunst war die Kunst ganz eng an elitäre Lebensweisen einerseits und an den Bildungskanon andererseits geknüpft. Der Roman vom Werther wurde genauso wie die Glocke wörtlich genommen: man erschoss sich aus Liebe und man fügte sich in die lebenslängliche Ehe, weil es so geschrieben stand. Man kann sogar so weit gehen, dass die Analogie, die buchstabengetreue Auslegung zum Gipfel der Kriegskunst führte, der glücklicherweise mit seinem Ende zusammenfiel und die Begriffe Krieg und Kunst für immer trennte. Unsere Vorfahren lernten weniger Varianten als vielmehr Analogien und Muster, Normative statt Narrative. Eine Geschichte ist ein Viereck, das aus dem Leben gebrochen ist; das Leben ist ein Vieleck, das aus Geschichten besteht. Die Konstruiertheit jeder Parabel, jeder Geschichte spricht gegen ihre direkte Entnahme aus dem Leben und vor allem gegen ihre analoge Verwendungsmöglichkeit. Man sollte keinen gelben Frack anziehen und sich erschießen, weil man unglücklich verliebt ist. Man sollte nicht für sein Vaterland in Krieg und Tod ziehen, weil es der Vater und der Großvater ebenso taten. Der Begriff des Vaterlands begründet, wenn überhaupt, nur eine schwache Bindung von Menschen, denen es offensichtlich an Bildung und Sinn mangelt. Sinn, zumal Lebenssinn, ist viel schwerer zu finden als in Analogien gesucht wird. Sinn verhält sich zur Analogie wie Demokratie zur Elternschaft. Man kann zwar suchen, aber man wird nicht finden. Das Gesetz der großen Zahl ist eine wunderbare Erklärung, aber kein identitätsstiftendes Muster für ein Leben. Es gibt kein Muster für ein Leben. Es gäbe ein Muster für das Leben, wenn jemand alle Weltereignisse wüsste und verarbeiten könnte, das ist ein Schillerzitat, das ihn in einer Reihe mit Nietzsche und Wittgenstein als Verächter törichter Warumfragen und als reinen Denker ohne hohles Pathos zeigt.

Das neunzehnte Jahrhundert indessen und meine Großmutter, die mir damit den Sinn für Poesie eingab, blieben in der pathetischen und normativen Spur. Ihr Lieblingsgedicht, das sie uns zu Tränen gerührt immer wieder vorlas, war ‚Das Gewitter‘ des Sagendichters Gustav Schwab, nach dem in der schwäbischen Stadt Tuttlingen der Blitz dergestalt einschlug, dass von den zehn Toten vier in direkter Abstammung sich zueinander verhielten: Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Kind. Sie werden nicht in ihrer individuellen, sondern in ihrer klassifizierten Form gezeigt. Dem Dichter gelingt auch kein Trost, wie er manchmal sogar der Natur eigen ist. Als am 29. Juni 1764 der schwerste Tornado, den es in Deutschland je gab, die Stadt Woldegk  verwüstet, sterben nur zwei Menschen, ein Enkel und eine Großmutter, weil sich alle anderen, weil es einer der vierteljährlichen Bußtage war, in den dem Sturm trotzenden Kirchen befanden. Die Ernte war zerstört, die Menschen überlebten trotzdem. Aus diesem Tornado ging aber keine Geschichte, sondern die wissenschaftliche Meteorologie hervor.

Obwohl die Bildung in den letzten hundert Jahren von einer elitären Veranstaltung fast zum Gemeingut wurde, verbleibt sie leider immer noch viel zu viel im Reich des Faktischen und Analogen, des Aufsagens und des Abfragens.

Wir brauchen in Zukunft nicht nur ein Bruttosozialprodukt, sondern ein Bruttosozialglück, nicht die Inflation der Dinge, sondern ein Maximum an Bildung. Und diese Bildung müsste sich nicht nur am Wissen orientieren – das in jeder Suchmaschine zu finden ist-, sondern auch am Gewissen. Und das Gewissen schult sich eher am Ungewissen als am inflationären Wissen. Aus der normativen Kraft des Faktischen, des Gemachten, muss zunehmend die normative Kraft des Gedachten werden. Aber wie lehrt man denken? Und wie nutzt man die narrative Kraft der Gedichte?

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