für Mustafa
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Die landende Insel. Ambidexter
Auf die Insel Usedom kommt man über zwei Brücken. Die Insel verlandet und wird gleichzeitig weggespült. Vielleicht war die sagenhafte Stadt Vineta auf ihr, vielleicht war aber auch die Odermündung, an der Vineta lag, ganz woanders. Die Insel gehörte schon immer den Slawen und den Germanen, die heute als Deutsche im Begriff sind, das Gegenteil von dem zu werden, was sie vor achtzig Jahren sein wollten oder sollten. In einem Wikingerrestaurant – bekanntlich sind die Wikinger auf Grönland untergegangen – sitzen ein Linkshänder, der das Messer in der rechten Hand hält und ein Rechtshänder, der das Messer in der linken Hand hält. Der Rechtshänder ist ein geborener Linkshänder, der aber in einer Zeit Kind war, als die Erwachsenen glaubten, dass Linkshändigkeit schädlich für den Charakter sei. Genau genommen glaubte man wohl, dass jemand, der anders sei, auch die anderen gefährde und eines Tages die ganze Gesellschaft auf dem Kopf stellte. Obwohl schon im Sturm und Drang der Dichter Lenz einen Lehrer ironisch sagen lässt: wer nicht gerade schreiben kann, kann auch nicht gerade leben, herrschte noch lange strenges Normdenken vor. Die Ironie wurde genau so hartnäckig ignoriert wie die seines berühmteren Kollegen Goethe: denn was du schwarz auf weiß besitzt, kannst du getrost nach Hause tragen. Je virtueller Schrift und Text werden, desto mehr wird den Menschen die vorherige Ironie bewusst. Unserem Linkshänder wurde seinerzeit mit viel böser Mühe, mit Strafen und Ermahnungen über seine Minderwertigkeit die Linkshändigkeit abgewöhnt, so dass sich als Vorteil eine leichte Ambidextrie einstellte, als Nachteil aber eine extrem schlechte Handschrift. Handwerkliche Arbeiten und Handschrift waren aber gerade das Argument, warum man glaubte, dass nur mit Rechtshändigkeit ein erfülltes rechtgläubiges Leben möglich sei. Als Kind denkt man darüber natürlich nicht nach, sondern man fühlt sich lange Zeit so, wie man von den Erwachsenen bewertet und mitgedacht wird.
Der Linkshänder dagegen hatte noch nie mit einem Fischbesteck gegessen. Um nichts falsch zu machen und weil er sich ohnehin gerade auf einer Bildungsreise befand, orientierte er sich an dem umerzogenen Linkshänder, der sich als einziges Privileg seiner ehemaligen Linkshändigkeit, die nun einer erzwungenen Rechtshändigkeit und teilweisen Beidhändigkeit weichen musste, das Essen mit dem Messer in der vermeintlich falschen Hand erhalten hat. Gib statt zu sagen ‚Gib die schöne Hand!‘ dem Linkshänder die linke Hand, wenn es kein Türke ist, und versuche als Linkshänder mit der rechten Hand in Spiegelschrift zu schreiben. Da sitzen sie nun und verstehen die Welt nicht mehr, weil ihre Begriffe falsch sind. Claude Levi-Strauss, von dem nicht die Hosen, sondern die traurigen Tropen sind, schlug vor, von binären Oppositionen auszugehen, also von reinen Gegensätzen, die sich – vielleicht sogar unversöhnlich – gegenübersitzen. Der Linkshänder und der Rechtshänder auf Usedom sehen sich aber gerade nicht als unversöhnlich, sondern in einer Art gewünschtem Adoptionsverhältnis. Levi-Strauss, dessen Einfluss auf die Soziologie und Anthropologie nicht zu unterschätzen ist, kam dann auf das weitere Begriffspaar der komplementären Dichotomie. Komplementär sind zwei Dinge, wenn sie zusammen erst ein Ganzes geben, obwohl sie alleine auftreten, also zum Beispiel biologisch der Geschlechtsdimorphismus oder kulturell die Dominanz einer Hand. Sieht man aber noch genauer hin, dann bemerkt man, dass das Komplement so funktioniert wie Wechselstrom im Gegensatz zum Gleichstrom. Es war die Entscheidung zwischen diesen beiden eine Glaubensfrage zwischen Edison und Tesla, auch die beiden selbst sind ein komplementäres Paar. Obwohl Edison stotterte und hyperventilierte, war er der weitaus bessere Vermarkter seiner genialen Ideen, während Teslas Ideen nicht schlechter waren, aber in einer für den Markt unverständlichen Sprache vorgetragen wurden.
Daraus folgt, dass die menschliche Lern- und Bindungsfähigkeit natürlich nicht statisch ist, sondern absolut dynamisch, fließend, ständigen Wechseln unterliegend. Deshalb ist eine statische Schule falsch. Viel erfolgreicher sind Bildungsreisen. Man lässt die Landschaft, die Natur und Kultur, die Sprache und das Denken, die Moleküle und Marotten an sich vorüberziehen, erklärt, wenn gefragt wird und eine Erklärung bereitsteht, genießt, wenn es einfach nur schön ist, erholt sich, wenn etwas zu holen ist. Der Unterschied zu einer virtuellen Reise, die heute problemlos möglich ist, besteht darin, dass man jene jederzeit abschalten kann, während man auf einer tatsächlichen Reise dort ist, wo man gerade ist. Das Merkwürdige unserer Zeit besteht in der fortwährenden Verwechslung der beiden Welten: Menschen haben Angst vor einer Überflutung mit Daten, die sie einfach abschalten könnten, werden sie dagegen mit Wasser überflutet, halten sie es für eine Ungerechtigkeit. Kein Wunder also, dass sich die dritte Welt, das transzendente Himmelszelt darüber, auch gerade wandelt, am rechten Rand zum Fundamentalismus, am linken zur Beliebigkeit, obwohl es beides auch schon immer gab.
Wir haben also einerseits mehr Bindungsmöglichkeiten, als wir glauben, weil sie nämlich schneller wechseln, als wir verstehen können. Andererseits sind wir, was wir schon immer ahnten, durch die Geschwindigkeit der Möglichkeiten unfreier, als uns lieb ist. Der berühmten Frage, was wir mit unserer Freiheit eigentlich anfangen wollten, bleiben wir die Antwort immer und immer wieder schuldig. Wir lassen uns auf Mitmenschen ein, und das ist nicht nur richtig, sondern die einzige Möglichkeit zu leben. Die Marktbegriffe von Angebot und Nachfrage mögen hilfreich sein, sie lösen unsere bangen Fragen nicht: wird gesucht, was ich der Welt zu bieten habe? Gibt es überhaupt das, was ich suche und zu brauchen glaube. Lange Zeit halten wir uns für Solitäre und erkennen uns erst spät in der Gruppe oder in der Masse wieder. Manchmal suchen und suchen wir in den Menschenmassen und erkennen nicht unsere Einzigartigkeit, die nur in der Tat bestehen kann, nie im bloßen Dasein. Gemeinschaften, deren Sinn die Masse und die Hilfe ist, betonen deshalb immer wieder die Einzigartigkeit a priori, vor allem. Aber jede Tat ist auch das Resultat unseres ganzen Wesens, unserer ganzen nicht aufgeschriebenen Biografie, denn wenn wir sie aufschreiben, wird sie notwendig verzerrt und verlogen. Diese Gedanken beschäftigen uns am meisten, wenn wir gerade im Begriff sind, aus dem sprichwörtlichen Nest zu fallen. Aber das ist schon wieder ein Trugschluss: fallen wir nicht jeden Tag aus jedem Nest, weil nämlich jeder Tag und jeder Ort – Raum und Zeit also – uns Sicherheit vorspielen, wo sie uns lieber die Schwierigkeiten des steten Wandels zeigen sollten. Aber man kann wieder auch nicht ohne das Gefühl der Sicherheit leben. Wir wissen noch nicht einmal, was uns lieber ist: die Spannung oder die Befriedigung. Später im Leben sehnen wir uns eher nach der Spannung, früher eher nach der Befriedigung. Auch wenn man den wirklich Hungernden bitter weh tut: wenn man satt ist, sehnt man sich nach dem Hunger. Es wird oft gesagt: entspann dich. Das Bild kommt aus der Pferdesprache. Als man sich mit Hilfe von Pferden fortbewegte, war es wichtig, die Pferde abends auszuspannen. Entspannt ist also keine Bewegung möglich. Die Lösung des Dilemmas ist die Hoffnung, nichts weiter. Solange wir glauben, dass sich das Gute und das Böse gegenüberstehen, brechen wir die Welt auf eine Kinderformel herunter, die ihr nicht gerecht werden kann. Auch für Kinder muss man die Welt nicht verkitschen, um sie – die Kinder und die Welt – zu verstehen. Es ist ein bisschen so wie der Unterschied zwischen der Diktatur, wo alles einfach, hierarchisch, zwangsgeordnet ist, und der Demokratie, wo nichts zu funktionieren scheint, alles länger dauert als erwartet und immer frustrierend ist. Es ist schwer zu verstehen, dass es nichts als Hoffnung geben kann, keine Garantie auf das sogenannte Gute, keine Zwangsläufigkeit des Bösen. Pessimisten und Optimisten sind gleichwohl schlecht beraten, nur übertroffen durch die selbsternannten Realisten. Hoffnung und Glaube hängen so eng zusammen, dass es schwer ist einzusehen, dass, wer nicht glaubt, alles wissen müsste, um zu überleben. Vielleicht liegt darin der Grund, dass der Mensch seinen Glauben, seine Hoffnung, die so individuell sind wie nichts anderes, immer wieder institutionalisierte und dann mehr an die Institutionen glaubt als an den Gegenstand seines Glaubens, der gedanklich nicht zu fassen ist. Zu glauben, dass man nichts glauben kann, heißt nicht, dass man nicht glauben sollte, sondern dass es keine Gewissheiten gibt, weder im Glauben noch außerhalb von ihm.
Vielmehr ist es verwunderlich, dass Monologe nicht nur immer dialogisch sind, weil sie Adressaten haben und Signale senden, sondern dass sie sich mit unendlich vielen Monologen interferent berühren wie die Kreise der Steine, die man ins Wasser warf. Die Kunst des Lebens besteht auch darin, wie viel Interferenz man in seinen Monologen erkennt, wie oft es gelingt, aus der unendlichen Reihe der Monologe auszubrechen und kurz in einen echten Dialog einzutreten. Dialog ist die kurze Zeit existierende interferente Schnittmenge zwischen zwei Kreisen im Wasser. Anders gefragt: Kann man das Dritte mitdenken? Das Dritte ist nicht nur nicht ausgeschlossen, es ist ausdrücklich erwünscht! Die Alten haben sich – wie auch wir – ihre Welt zurechtgedacht: tertium non datur, ‚das Dritte kann es nicht geben‘, mit der linken Hand kann man nicht schreiben, der Mensch kann nicht fliegen, wenn die Erde keine Scheibe wäre, würden wir herunterfallen. Das ist präkolumbianisches Denken. Der Junge will vom Alten lernen, aber der Alte muss vom Jungen lernen. Werte sind oft nur schlechte Gewohnheiten. Inseln sind oft nur heimatloses Land oder umspülter Meeresboden. Was mag man mehr, den anderen oder dass man den anderen mag?
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Die gotische Pforte. Counterpoint
Für den kleinen Bach begann das Jahrhundert schrecklich. Erst hatte er seine Eltern verloren, dann auch noch seinen Freiplatz. Einen Freiplatz würden wir heute als ein Stipendium erklären, das aus der Teilnahme an den Mahlzeiten besteht. Die Schule im Wohnort seines großes Bruders war nicht schlecht, aber die Schule, zu der er jetzt mit seinem Freund wanderte, war besser, und er war nicht nur ein sehr guter Schüler, sondern auch ein hervorragender Sänger und bemerkenswerter und schon bemerkter Organist und Cembalist. Er hätte auch Geigenvirtuose werden können und hatte seine Geige als einziges Gepäckstück dabei: die Geige und das Geigenspiel war das Erbe seines Vaters, des Eisenacher Ratstrompeters. Weil die evangelische Kirche die neue Zeitrechnung um fast zwei Jahrhunderte verschlafen hatte – nur durch die orthodoxe Kirche überholt, die zwei weitere Jahrhunderte wartete – wurden im Jahr 1700 zehn Tage ausgelassen, damit der Kalender wieder stimmte. Der kleine Bach hatte zehn Tage keine Sorge ums Essen, denn er aß zeit seines Lebens sehr gerne. In der gotischen Stadt, in die er gewandert war, verdiente er sein erstes Geld, und nicht wenig, indem er für die Michaeliskirche sang und für die benachbarten und befreundeten Ritterschüler zum Tanz aufspielte. Der kleine Bach lernte also in zweieinhalb Jahren in dieser Stadt: auf eigenen Beinen stehen, Geld verdienen, Orgel spielen, Orgel bauen, alle paar Wochen nach Hamburg laufen, um noch bedeutendere Orgeln und Organisten zu hören, französisch von den Rittern, italienisch von den Musikern, lateinisch in der Schule, er las Ovids Metamorphosen, und wanderte als ganz junger und schon berühmter Meister nach Thüringen zurück. Der übelste Scherz, den die Ritterschüler mit ihm machten, zeugt von der großen Hochachtung, die dem 16jährigen Meistercembalisten entgegengebracht wurde. In einem Gasthaus zwischen Hamburg und der gotischen Stadt warfen sie für ihn Heringsköpfe auf den Mist, die mit soviel dänischen Dukaten gefüllt waren, dass er davon nicht nur gut essen, sondern auch die nächste und übernächste Fahrt nach Hamburg finanzieren konnte. Immerhin haben es die Ritter mit dieser Geschichte in die Weltgeschichte zu gelangen geschafft: der kleine Bach wurde der größte Musiker aller Zeiten. Er zerlegte die Heringsköpfe nach keiner Regel und mit keinem Fischbesteck. Er kannte alle Regeln der Musik und schuf die schönsten Melodien und Harmonien und die krassesten Kontrapunkte.
Schon wieder sitzen sie sich gegenüber: der Linkshänder, der das Messer in der rechten Hand hält, und der Rechtshänder, der ein verhinderter Linkshänder ist und das Messer als letzten Trotz in der linken Hand hält. Man sieht es nur beim Fischbesteck. Das Fischbesteck ist der Inbegriff falscher Regelhaftigkeit. Sie essen Forelle und der Linkshänder seziert seine Forelle nach allen Regeln. Er sagt: der Mentor, der ein Chaot ist und chaotisch seine Forelle isst, hätte hier lernen können. Und der Mentor sagt: wir sitzen hier, um Regeln zu vergessen, weil sie zwar nicht immer falsch, aber fast immer historisch sind. Lernen ist immer besser als regeln. Ein Mentor, und da stimmen sie wieder überein, kann nur Mentor sein, wenn er sich heraushält und selber lernt. Ein Kind oder ein Schüler ist ein Projekt, ein Abenteuer, ein Weg, aber keine Projektion der eigenen Projekte, Abenteuer und Wege. Man lernt nicht aus Fehlern, schon gar nicht aus den Fehlern der anderen. Der Linkshänder ist auch ein Südländer, der ein Nordländer sein will und der Rechtshänder ist ein verhinderter Südländer, der durch viele Südländer gereist ist, um das Geheimnis von Nordland und Südland zu finden. Jetzt reist er mit dem Südländer, der ein Nordländer werden will und auch ist, durch Nordland, auch um das Geheimnis zu finden. Es gibt keines.
Es ist so, wie man als Kind glaubte, dass es ein Geheimnis des Erwachsenseins gäbe. Natürlich, es gibt die Sexualität. Aber sie ist dann, wenn man sie mit einem bestimmten Alter erreicht hat, kein Geheimnis, sondern vielmehr ein Merkmal, eine innewohnende und so oder so ausgeübte Eigenschaft. Wenn man Essen und Sexualität vergleicht, könnte man die Frage stellen, was ist das Fischbesteck der Sexualität? Gibt es ein geheimes Regelwerk der Liebe? Das sind schon zwei verschiedene Bereiche, wenn sie auch eng zusammenhängen. Und wir glauben inzwischen, dass es nur ganz wenig zu regeln gibt: gib mehr als du nimmst und achte mehr als du geachtet werden möchtest. Es gibt nicht mehr als die goldene Regel zu beachten. Alle Religionen wollen das gleiche, die Philosophien predigen nicht anderes. Die Unterschiede der Menschen sind seit der Antike gleich: entspricht der Mensch seinem Bild oder nicht. Der berühmte antike Philosoph Empedokles, von dem die Vierelementetheorie und die Rhetorik stammen sollen, hat seinem Leben durch den Sprung in den Ätna ein Ende gesetzt. Aber: hat er dadurch göttliche Qualitäten offenbart, wie seine Anhänger meinen, oder wollte er vielmehr durch sein spurloses Verschwinden göttliche Qualitäten vortäuschen, wie seine Gegner behaupten. Wir wissen nichts von den Spuren, die wir hinterlassen, aber auch fast nichts von den Spuren, denen wir folgen. Die meisten Menschen sind im Leben blind, so steht es im Faust, und wir wissen nicht, ob das, was wir sehen, Einbildung oder Ausbildung ist.
Die einzige Rückkopplung, die es gibt, ist die Praxis. Gegen den metaphorischen Charakter der Wissenschaft spricht immerhin ihr Ergebnis: das Rad, der Rechner, die Rakete. Aber wir wissen nicht, was diese Resultate für uns bedeuten: vielleicht wäre es besser gewesen, wir wären in der Steinzeit verblieben wie die Yanomami am Amazonas. Vielleicht sind die Raketen oder die Rechner der Anfang vom Ende der Menschheit und der Erde? Genauso ergeht es dem einzelnen Menschen. Alles, was er tut, kann genauso falsch wie richtig sein, weshalb die Begrifflichkeit von falsch und richtig falsch ist. Woran soll er sich aber orientieren?
Der arme Mensch hat nur drei Möglichkeiten zum Überleben: nachahmen, lieben und geben. Alle drei sind lebensgefährlich, äußerst riskant und ein Erfolg ist niemals garantiert. Du ahmst deine Eltern nach, aber sie sind Nazis oder Analphabeten oder beides. Aber das ist noch nicht das schlimmste: du ahmst deine Eltern auch dann nach, wenn du sie ablehnst und überwunden zu haben glaubst. Die Nachahmung, die seit der frühesten Kindheit unsere Überlebensstrategie ist, sitzt uns bis zum bitteren Ende so sehr in den Gelenken und Gedanken, dass wir sie für ein Gen halten. Ein Erbe ist sie allemal. Der Streit darüber, was Natur des Menschen ist, was Nachahmung, dauert schon seit Empedokles an. Daraus kann man nur lernen, dass alle Wissenschaft, mit Ausnahme der Resultate, Metapher ist: Pythagoras konnte Fischschwärme lenken und Alan Turing starb an einem vergifteten Apfel.
Nicht viel anders ist es mit der Liebe. Wir folgen eher Instinkten und tief – nicht von uns – eingegrabenen Mustern und sind stolz auf das, was wir für unsere Wahl halten, bis es zur Qual wird. Aber es gibt auch Paare, die fünfzig oder sechzig Jahre zusammen und glücklich sind. Es gibt auch Paare, die Minuten oder wenige Tage nacheinander sterben, darunter sind auch Zwillinge. Das zeigt, dass wir den Begriff der Liebe immer zu eng und einseitig auf die Geschlechtsliebe beziehen. Liebe ist – wie eigentlich jeder weiß – viel mehr, von Geschwistern über Erziehung bis zur Menschheitsliebe, die oft Nächstenliebe genannt wird, nach Jesus, aber eben auch Fremdenliebe heißen sollte, denn was uns am Fremden einzig hindert, ist Angst, Restrisiko. Das Restrisiko wird zwar durch Gruppenzugehörigkeiten gemindert, diese beruhen aber auf ungenauer und falscher Beobachtung.
Von meiner Großmutter, die mir die Kunst nahebrachte, habe ich auch den verhängnisvollen Spruch, der in Jüterbog am Zinnaer Tor nebst zugehöriger Keule hängt: ‚Wer seinen Kindern giebt das Brodt, und leidet nachmals selber Noth, den schlage man mit der Keule todt.‘ Die Angst, sich zu verausgaben, war in den Zeiten des Hungers, als ein Stück Brot goldwert war, natürlich größer als heute, wo sie wie ein Atavismus vor einer übersättigten Menschheit hergetragen wird. Dass in armen Ländern Solidarität allgemeines Merkmal sei, kann nicht nachvollzogen werden, dass Solidarität aber ein selektiver Vorzug sei, sehr wohl. Gegen Geben spricht nichts, auch nicht die Angst. Es mögen genauso viel Menschen durch unvorsichtiges und selbstloses Teilen gestorben sein, wie am durchbrochenen Magen durch Weihnachtsganswettessen reicher Bauern in unvernünftiger Zeit. Unter unvernünftiger Zeit wollen wir verstehen, dass die Reichen dick und die Armen dünn sind. Heute ist es umgekehrt. Beim Geben, wenn man es als Teilen versteht, kann man also am wenigsten falsch machen, zumal es auch selbst angstabbauend ist.
Wenn du nicht überleben willst, kannst du jederzeit in den Ätna springen. Wenn du aber auf dem Ätna stehst, erfüllt dich plötzlich und zum Glück ein unsägliches Verlangen nach Leben und Liebe, nach Wärme und Geborgenheit. So kalt und ungeheuerlich ist es da oben.
Wer teilen und geben nicht gelernt hat oder zu lernen nicht bereit und fähig ist, dem fehlen wesentliche Bausteine eines sinnvollen und erfüllten Lebens. Egoismus, Egozentrismus, Konsumismus und Selbstbezogenheit erscheinen jeder Zeit als typisch, sind aber ständige Begleiter der menschlichen Gesellschaft.
Wer teilen und geben gelernt hat oder zu lernen bereit und fähig ist, der hat den besseren Kontrapunkt zum allgegenwärtigen und oft widerwärtigen konsumieren. Kaufen und kaufenwollen können sogar krankmachen und kranksein.
Empathie ist aber in jedem Lebensalter für jede Gruppe und immer erlernbar. Alle Religionen und alle Philosophien lehren sie. Empathie ist die schönste und erfolgreichste Metamorphose und der größte Gewinn ist der für sich und die anderen.