DAS PAZIFISTISCHE PARADOX

Der Vorwurf, der in Kriegszeiten immer laut wird, dass Frieden Wunschdenken sei, ist doppelt falsch. Erstens ist jedes Denken Wunschdenken. Hätten unsere Vorfahren sich nicht nach vorne, in die Zukunft gedacht und gewünscht, wären sie nicht nur rückwärts geschritten, sondern wir wären nicht da. Zweitens ist der Normalzustand der Menschheit Frieden und nicht Krieg. Daraus folgt, dass Pazifismus der Wunsch und das Denken ist, diesen Zustand möglichst lange aufrechtzuerhalten. Die Bellizisten dagegen glauben, und auch das kann man als Wunschdenken bezeichnen, dass der Krieg der Rückfall in den angst- und gewaltbesetzten Normalzustand der Menschheit ist. Menschen wären also die gewalttätigste Art Lebewesen und dies wäre auch nicht zu ändern. Schuld sind dabei immer die anderen (l’enfer c’est les autres) und man würde nur in der Sprache reagieren, die dieser böse Gegner als einzige verstünde: in der Sprache der Gewalt und der Waffen. Allerdings denkt dieser böse Gegner genau das gleiche.

Der Blick auf das zwanzigste Jahrhundert ist schon getrübt, wenn man es nur als das Jahrhundert Hitlers und Stalins und Mao Tse Tungs und gigantischer Todesmaschinerien sieht. Es gab tatsächlich zwei verheerende Weltkriege, die man auch als einen einzigen dreißigjährigen Megakrieg deuten kann, mit vielleicht 70 Millionen Toten. Aber die Erfindung der schrecklichsten Waffen und ihre punktuelle Anwendung in Hiroshima und Nagasaki ließen die nächste dichotomische Konfrontation, den Kalten Krieg zwischen dem Westen und dem Osten, erstarren und zum Glück in waffenklirrender Untätigkeit verharren. Er wurde auch dann kein Krieg und schon gar kein nuklearer, als der Ostblock zusammenbrach. Vielleicht ist Putins Waffengerassel als Nachbeben jenes fast lautlosen Zusammenbruchs zu verstehen. Es sieht so aus, als ob Europa die Botschaft und das Potenzial des Friedens verstanden und verinnerlicht hätte. Die Pazifisten haben Recht behalten. Pazifisten gab es schon immer, aber zu einer Bewegung wurden sie erst im Ersten Weltkrieg. Als Beispiel für die asymmetrische Behandlung von Pazifisten in einer bellizistischen Gesellschaft stehen die beiden jungen Hutterer, die sich weigerten, eine Uniform anzuziehen und deshalb nackt und angekettet bei starkem Frost sterben mussten. Auch Präsident Wilson, später als Friedensheld gefeiert, hatte kein Verständnis für diesen konsequenten Pazifismus. Die Hutterer haben übrigens gewonnen.

Ein viel größeres Volk als die Europäer, nämlich die Inder, hat in diesem zwanzigsten Jahrhundert seine Freiheit und Unabhängigkeit errungen, ohne zu den Waffen zu greifen. Leider sind spätere indische Politiker wieder in das kriegerische Paradigma gefallen. Trotzdem ist Indien ein hervorragendes, bis heute höchst erfolgreiches Beispiel für den Sieg des Pazifismus. Der britische Offizier übrigens, der als einziger in die unbewaffnete Menge hat schießen lassen, ist auch in Britannien geächtet worden. Gandhis schöner Satz von der Blindheit der Welt als Folge der biblischen Forderung ‚Auge um Auge‘ ist, wie jeder Aphorismus, zugespitzt und witzig, trifft aber nicht den Kern. Vielmehr ist das Talionsprinzip ein Vorläufer des Pazifismus: hat jemand einem anderen das Auge ausgestochen, so ist dessen Familie nicht berechtigt, einen Krieg zu beginnen, sondern nur spiegelnd zu strafen: Auge um Auge und Zahn für Zahn (2. Mose, 21, 23-25), es geht also um Schadensbegrenzung und Schadenersatz und richtet sich gegen Blutrache.

Den größten Anteil an der Verbreitung des Friedens dürfte allerdings die Wohlfahrt haben. Man könnte von einer Ernährungs- und Wohlfahrtsrevolution im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert sprechen, die darin bestand, dass durch die Einführung geeigneter Pflanzen und Tiere, der Bodendüngung und neuer Methoden der Konservierung nach und nach die Menge der Lebensmittel schneller wuchs als die Menge der Menschen. Es gab und gibt mehr Lebensmittel als Leben. Zudem wuchs durch den Einfluss und das Beispiel der Religionen und durch den Erfolg der staatlichen Wohlfahrt, zum Beispiel der Sozialversicherung, die Anzahl der Staaten, die die Wohlfahrt zum Prinzip erhoben. Dadurch sind die Verteilungskämpfe seltener und sinnloser geworden. Die Entwicklung der Medizin und ihre Verbreitung als Menschenrecht, überhaupt auch die Erhebung der Menschenrechte in überall geltendes Recht, haben ebenfalls wesentliches zur friedlichen Entwicklung beigetragen. Die Weltbevölkerung hat sich demzufolge im zwanzigsten Jahrhundert zweimal verdoppelt: von zwei auf vier und dann von drei auf sechs Milliarden Menschen. Das ist kein Erfolg des Hungers und der Kriege, sondern der Wohlfahrt und des Pazifismus!

Die Sprache der Bellizisten und Untäter hält sich länger als diese selbst und vergiftet das Denken. So sprechen wir immer noch von Wehrpflicht und Gleichschritt, von ‚rassischen Gründen‘ jemanden umzubringen, überhaupt von ‚Rassimus‘ so, als gäbe es Rassen. Die Sicht eines Auschwitzhäftlings, dass ihn die Waffen der Alliierten befreit haben, ist emotional verständlich, darf uns doch aber nicht an der Überlegung hindern, wie man Hitler, seine Aufrüstung und seinen Genozid hätte verhindern können oder was man daraus für die Zukunft lernen kann. Das pazifistische Paradox besteht darin, dass es immer wieder ausweglose Situationen gibt. Immer wieder muss die Menschheit überlegen: bewaffnen wir jetzt die Guten und wie lange wird es dauern, bis sie dann die Bösen sind? Wir müssen uns zu dem Gedanken durchringen, dass nicht nur Gewalt und Krieg falsch und böse sind, sondern auch die Waffen. Die Versuchung, die Waffe anzuwenden, wächst mit ihrem Besitz. Die Versuchung zu verhandeln wächst mit dem Mangel an Waffen und Gewaltbereitschaft. Wir müssen die Sprache der Untäter ächten, indem wir sie als Untäter erkennen. Leider sind das unsere Vorväter und Vormütter. Wir müssen aufhören Waffen zu exportieren und überhaupt Waffen herzustellen. Schießen ist kein Sport, Jagen ist kein Hegen. Der österreichische Thronfolger, dessen Ermordung den ersten Weltkrieg veranlasste, der dazu führte, das ganze Jahrhundert mitsamt seinem Pazifismus zu verteufeln, galt als der beste Schütze der damaligen Welt und er hat 274.889 Tiere erschossen. Das ist kein Grund, ihn zu erschießen, entwaffnen hätte genügt, das ist kein Grund einen Weltkrieg zu beginnen, entwaffnen hätte genügt. Das ist nur eine pazifistische Anekdote, die das Leben selber schrieb. Das Leben ist pazifistisch und deshalb sollten wir alle es auch sein.

Der Krieg ist irrational, instabil und uneffektiv. Der Frieden ist rational, stabilisierend und hocheffektiv. Das mag man als pazifistisches Geschwätz abtun. Dann muss man aber auch anerkennen, dass es bellizistisches Geschwätz ist, wenn gesagt wird, Krieg sei alternativlos, der Gegner verstünde nur diese eine Sprache, die Sprache der Gewalt. Geschwätz um Geschwätz, fangen wir an zu denken!

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