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Wir streben nach Kontinuität und erleben jeden Tag Diskontinuität. Alles erscheint uns als Bruch, das nicht unsere staunenden und glänzenden Kinderaugen reproduziert. Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter: unser eigentliches Lebensideal ist das Paradies, ein widerspruchsfreier Wohlfühlort. Davon voll sind die Literaturen seit altersher und die Prospekte der Reisebüros. Wenn man das tiefe Tal der beobachtbaren Menschheit im Mittelalter oder auch noch im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ansieht, das mit Krieg, Hunger und Seuchen gefüllt war, dann ist es zumindest verständlich, dass die heutige Konsumwelt in Europa, Nordamerika und Südostasien als Vorstufe des Paradieses wahrgenommen wird: Wohlstand als Lebenssinn. Indessen täuscht die oberflächliche Beobachtung. Wohlstand bringt auch einen Überhang an Kultur hervor, so dass der alte Streit zwischen Produktion und Konsumtion durch den ebenso alten zwischen Kultur und Agrikultur weiter ergänzt bleibt. Allerdings erzeugt die produktive Seite, die seit der Industrialisierung vor allem auch eine technologische, maschinen- und automatengestützte Massenherstellung ist, die sich nur im Export entladen kann, auch den Sozialstaat, so dass die verlorenen Söhne und Töchter heute zurecht im sprichwörtlichen sozialen Netz landen, wenn sie ihre Sinnsuche über das dreißigste Lebensjahr hinaus ausdehnen. Im Computer finden sich übrigens sozusagen methodisch geeint alle Bereiche wieder: der produktive, der konsumtive, der kulturelle und der völlig neue Bereich der Freizeitvernichtung. Die produktive Seite bringt einen Überfluss nicht nur an Alimenten und Luxusgütern, sondern vor allem auch an Zeit hervor. Solange der gegenständliche Überfluss exportiert und so in Reichtum umgewandelt werden kann, droht von dieser Seite kein Sinnvakuum, das allerdings durch den Zeitüberfluss schon lange an uns zehrt. Schule ist leider zu langsam, um diese Zeitverschiebung aufzufangen. Stattdessen wird soeben im Netz die völlig überflüssige Frage diskutiert, ob Versicherungsverträge und Geldanlagepläne oder Gedichte in vier Sprachen in der Schule gelehrt werden sollen.
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Die suchenden Söhne und Töchter, die man früher verloren glaubte, werden heute materiell durch den Sozialstaat und den allgemeinen Wohlstand aufgefangen. Indem aber die heutigen Verhältnisse mehr von ihren Schwierigkeiten her interpretiert werden, übersieht man leichter ihre Erleichterungen. Zwar ist es schwer, sich selbst seinen Beruf, seinen Ort in der Gesellschaft, seinen Lebenssinn zu finden, statt in die vorgegebenen Bahnen und Traditionen, in arrangierte Ehen und Gewerbe im Elternhaus einfach einzusteigen. Diese Vereinfachung übersieht, dass Traditionen und Paradiese zwar Heimstatt, aber immer auch Gefängnis sein können, übersieht, dass die Zugehörigkeit früher auch erzwungen wurde, übersieht, dass Erziehung früher immer auch schwarze Pädagogik war. Bis zur Strafrechtsreform 1871 konnte ein Vater seinen verlorenen Sohn nicht nur schlagen, sondern auch erschlagen. Dieses Züchtigungsrecht berief sich auf alle Traditionen, und, obwohl der Schaden der Gewalt in meiner Kindheit in materiellen und geistigen Trümmern zu besichtigen war, beriefen sich die Erzieher weiter auf ihr Recht, auf alles einzuschlagen, was diskontinuierlich war.
Die Botschaft der Parabel vom verlorenen Sohn wurde und wird weiter in die Ferne projiziert. Aus heutiger Sicht, und welche Sicht sollten wir sonst haben?, erscheint die Vergebung nicht als eine ferne, nicht mehr zu erlebende Gnade, sondern als Normativ einer Gesellschaft, die sich zum Glück nicht mehr um das tägliche Brot bücken muss. Aus dem selben Grund verbietet sich auch Besserwisserei gegenüber anderen Glaubens-, Denk- und Wirtschaftsmodellen. Toleranz erscheint als ein Luxusgut, aber auch als eine Wohlstandspflicht. Nicht nur muss Vergebung an die Stelle von Strafe, Verfolgung und Verbannung treten, sondern es muss das Recht auf Suchen die Pflicht zum Finden ersetzen. Dieses Recht auf Suchen schließt den Irrtum ein, das Verzeihen, das gemeinsame Überwinden tatsächlicher Irrtümer, aber auch eine bedeutend größere Toleranz gegenüber der Diskontinuität. Auch das ist keine ferne Botschaft, sondern überwiegend schon gelebte Wirklichkeit. Jedoch sehen wir gerade auf beiden Seiten unserer Welt Rückfälle in das alte Denken von richtig und falsch. Es geht nicht darum, was man gegen Pegida tun kann, zum Beispiel, ihnen das Licht ausschalten, sondern wie wir sie wieder zurückholen können aus ihrem Wahn des Rechthabens. So wie der Mensch nicht allein ist und allein sein soll, so ist natürlich auch das Abendland nicht ohne sein Komplementär, das Morgenland, zu verstehen, die Alte Welt nicht ohne die Neue. An dem Gedanken der Antipoden ist eben das Anti schlecht gedacht, es war dumm zu glauben, dass sie auf dem Kopf stehen. Der Mensch ist auf Begegnung angelegt, nicht auf Ausschluss. Schwerer als die Pegidaleute zurückzuholen wird es allerdings, die verlorenen Söhne der Migranten zu finden, die verloren sind, weil sie sich doppelt überflüssig fühlen, wirtschaftlich und religiös.
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Wenn man sich vorstellt, dass man ganz oben auf einem Kirchturm steht, während dieser in einem Barockgedicht als Metapher oder in einem Weltkrieg tatsächlich einstürzt, dann ist es gut möglich, dass im Heck des Kirchenschiffes ein totes Warum steht, wie in Celans Gedicht, das uns vom Sturz, von der Katastrophe, vom notwendigen Tod ablenken soll. Mit der Wissenschaft kam auch der Wahn der Wissenschaft: wenn vieles erklärbar wird, dann muss auch alles erklärbar sein. Die Aufklärer selbst hatten vor dem Warumwahn gewarnt. Schiller mahnte seine Studenten in seiner zurecht berühmten Antrittsvorlesung, zu bedenken, dass selbst die einfache Frage, warum sie alle damals am 26. Mai 1789, sechs Uhr nachmittags, in diesem Griesbachschen Hörsaal zusammenkamen, nur mit der gesamten Weltgeschichte würde zu beantworten sein. Das überflüssige Warum steht dem Vergeben und der Toleranz gegenüber. Dies ist keine Verherrlichung des Irrationalen, sondern nur die Feststellung, dass zwar theoretisch alles erklärbar ist, nicht aber praktisch, weil niemand, und schon gar nicht im Moment des Einsturzes, über die gesamte Weltgeschichte verfügt. Deshalb flüchten wir so gerne in die Evidenz auf der einen, ins Irrationale auf der anderen Seite. Der Wissenschaftswahn, also der falsche Glaube in die Allmacht der Wissenschaft, lenkt uns darüberhinaus von Erklärungs- und Lebenshilfsmodellen ab, die sowohl evident als auch Tatsache sind: die Parabel vom verlorenen Sohn, die den Neid der bodenständigen Söhne hervorruft, oder die Parabel vom toten, weil überflüssigen Warum auf dem Kahn, der die Trümmer unserer Welt und unseres Weltbildes transportiert. In Celans Paradigma ist manchmal nur schwer der blaue Himmel zu sehen. Die Geschichte vom verlorenen Sohn wird von den Brotgelehrten auch heute noch gerne missverstanden, aber der grenzenlose Optimismus von Schiller darf in einer eher narrativen und plakativen Welt nicht verloren gehen.
Wir alle brauchen diesen Optimismus, aber wir brauchen auch die Söhne und Töchter, die aufbrechen, um die Welt neu zu sehen und neu zu beleben, wir brauchen die Toleranz und das Vergeben als Grundpfeiler unseres Zusammenlebens.
Gleichnis vom verlorenen Sohn, Neues Testament, Lukasevangelium 15, 11-32,
Paul Celan ‚Schuttkahn‘, Gesammelte Werke, suhrkamp taschenbuch, Bd. 1, S. 173
Prof. Dr. Dr. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, Jena 1789