Heute wissen wir, dass die Hexenverfolgung zwar von der Kirche installiert worden war, sich aber hielt und die bekannten Ausmaße annahm einzig dadurch, dass jeder seinen missliebigen Nachbarn und vor allem die Nachbarin denunzieren konnte. Die Beseitigung des Ärgernisses auf Staatskosten war garantiert, allein um des Prinzips willen. Auch neuzeitliche Diktaturen, wir bemerkten es bereits, hielten sich nicht vor allem durch den Terror selbst, sondern durch die Angst vor dem Terror und die Angst vor der Denunziation. In der Demokratie, so scheinen viele zu glauben, dient die Denunziation der guten Sache. Denunziert werden ausschließlich die Feinde der Demokratie, so sagt man. Der Rechtsstaat, so schreit man, treffe diese Feinde, die Nazis zum Beispiel, mit seiner ganzen Härte, so verlang die Vorsitzende der grünen Partei. Sie verliest seitenweise mit der weinerlichen Stimme einer Zwölfteklasseschülerin, die gemobbt wurde, die Hassmails der bösen Nazis. Ihr Kollege verlangt derweil, dass Erdoğan aus dem G20-Gipfel ausgeschlossen wird, weil auch er böse ist.
Wie kann der Rechtsstaat, warum sollte die Demokratie Mittel benötigen und gutheißen, die Diktaturen und finsterstes Mittelalter brauchten, um sich am Leben zu erhalten? Unsere Ideale heißen Liebe und Bildung und nicht Denunziation und Ausschluss. Vor Jahr und Tag schrieben wir hier schon an dieser Stelle über die Dummheit des Slogans ‚Nazis raus‘ und antworteten: wohin denn? in die Flucht? ins Ausland? ins Lager?
Schreibt man das in einem Internetforum, so schallt gleich der Sprechchor: Verschweigen hilft nichts! Gutmenschen sind keine Realisten, so heißt es.
Mindestens seit Schopenhauer wissen wir, dass sich die Pessimisten und Skeptizisten gerne als die einzigen Realisten sehen. Sie leiten daraus ihre Berechtigung ab, alle anderen Menschen zu beschimpfen.
Menschen kann man sich nicht aussuchen. Die einzige Möglichkeit, die Nazis loszuwerden, ist mit ihnen zu reden. Eigentlich müssen wir schon in den Familien und in den Schulen so lange mit ihnen reden, bis sie auch wie wir glauben, dass es keine monokausalen Ereignisse und keine einfachen Erklärungen gibt. Das Internet scheint die Verschwörungstheorien sogar noch verstärkt zu haben. Aber so war das nach der Erfindung des Buchdrucks auch: mit dem Sinn nimmt immer auch erst einmal der Unsinn zu. Neue Medien stehen jedem offen. Es gibt keine richtigen Menschen. Es gibt keine falschen Menschen.
Wer glaubt, eine richtige und eindeutige Antwort zu haben, muss alle Mitmenschen denunzieren, die das bezweifeln. Solch eine Antwort ist immer Ideologie und nicht Welterkenntnis. Sobald eine Erkenntnis Partei wird, wird sie auch Ideologie. Vor vierzig Jahren wollten die Grünen das System aufmischen und verbessern, geblieben sind die Mülltrennung und das Bundeseinspeisungsgesetz, epochemachende Verbesserungen immerhin, aber heute denunzieren sie missliebige Mitbürger und Mitpolitiker. Ihre Methoden ähneln also der der CSU oder der AKP, vom Mittelalter ganz zu schweigen.
Es ist schwer, nicht zu denunzieren, aber noch schwerer ist es zu denunzieren. Man muss dann mit der untragbaren Last des Gewissens leben, und das ist viel schwerer, als die vermeintliche Richtigkeit einer Erkenntnis aufwiegt.
Wer eine solche ideologische Idee in einer Partei vertritt, muss immer wieder die Welt für schlecht erklären, alle Verbesserungen als unsinniges Gutmenschentum abtun, muss immer wieder beteuern, dass sein eigener Weg alternativlos ist und muss alle denunzieren, die von ihm abweichen oder ihn gar nicht erst betreten wollen.
So schwer wie Demokratie ist es, andere Menschen und Meinungen auszuhalten. Wir müssen mit uns leben. Unsere einzige Chance ist es, denken zu lehren, nicht Gedanken zu verbreiten. Autoritäre Erziehung hat noch niemandem geschadet, wird immer wieder gesagt, doch sie führte direkt in den zweiten Weltkrieg. Ohne Autorität oder Hierarchie geht es nicht, doch das führt direkt in eine Welt ohne Kriege. Aber das sind eben die langen Wege durch die engen Pforten, von denen die Religionen und Philosophien eigentlich reden. Aber wer will schon etwas von engen Pforten und haardünnen-schwertscharfen Wegen hören?
Auch sind nicht die Medien an einer gesellschaftlichen Entwicklung oder Verquickung schuld. Ein Smartphone kann man genauso abschalten oder wegwerfen wie eine Schreibfeder oder ein Buch. Man erinnere sich, wie Bücher mit ihren Hervorbringern und den Systemen verschwanden, deren Antworten zu eindeutig waren. Statt dessen ist die Singularität der Geschichten, die uns zum Erlernen und Vergleichen der Welt dienen, einer großen Pluralität, einer Vielfältigkeit der Narrative gewichen. Angeblich haben in Europa Menschen Angst vor den als Flüchtlingen einströmenden Muslimen. Scheinbar haben die muslimischen Einwanderer keine Angst vor dem angeblich christlich geprägten Europa. Das zeigt doch, dass es schon lange nicht mehr um Christentum und Islam geht. Jeder, ungeachtet seiner Vorfahren und Traditionen, hat heute Zugang zu allen Narrativen der Welt. Jeder kann dem ausweichen, was er als Schrecken empfindet. Er kann dahin gehen, wo die Erzählung seinen Wünschen und Idealen zu entsprechen scheint. Denn dann zeigt sich, dass wieder keine Optimierung möglich ist, das Ideal ist nicht genau verwirklichbar. Man begnügt sich mit dem besseren Leben, ideal oder optimiert muss es nicht sein.
Daneben gibt es aber auch archaische Verhaltensweisen. So ziehen aus einer durch Krieg oder Erdbeben unwirtlich gewordenen Gegend die Menschen nach wie vor in großen Strömen, auch mit Hilfe von Schleusern und Menschenhändlern, ab. Das Meer teilt sich eben nicht. Vieler sterben unterwegs, aber viele würden auch in der unwirtlichen Gegend sterben. Es ist kein Zufall, dass große Wanderungen auch große Geschichten hervorgebracht haben. Obwohl die Juden nur ein kleines Volk waren und sind, haben sie einige der größten Geschichten hervorgebracht, von Hiob (Ayyub, Eyup), der wusste, dass man nicht nur das Gute hinnehmen kann und soll, oder von Mose (Mussa), der ein Volk über das Meer führte. Die Verheißung ist in Wirklichkeit eine Geschichte. Während man früher dem Führer auf dem Berg lauschte, ist heute fast jede Geschichte fast immer verfügbar.
Die Menschen verändern sich, werden modern, aber sie bleiben auch archaisch. Genetisch hängen sie an ihren Eltern und allen Vorfahren, narrativ hängen sie an allen alten Geschichten. Allerdings ist Hollywood auch ein inzwischen allgegenwärtiger Geschichtenerzähler.
Und leider, leider ist ein archaisches Verhalten das geächtete, aber immer wieder geübte Denunziantentum. Es hilft nicht, die Denunzianten zu denunzieren. Es helfen nur Liebe und Bildung, Bildung und Liebe.