WEIHNACHTS- UND NEUJAHRSBRIEF 2024

Jeder Anschlag, jedes Verbrechen befeuert die immer gleiche Diskussion: irgendwer muss schuld sein, das muss gestoppt werden, früher war alles besser, wir brauchen drastische Strafen. Aber der Täter von Magdeburg ist gleichzeitig Hasser von Saudi-Arabien, dem Islam und Deutschland, er steht der AfD nahe.

Allen Religionen und Philosophien ist vorzuwerfen, dass sie es über tausende von Jahren nicht geschafft haben, Rache und Vergeltung, Hass und Gewalt, Mord und Totschlag, Genozid und Krieg zu ächten und zu verhindern. Sie haben, im Gegenteil, all diese Schandtaten befeuert. Die gute Nachricht, dass Bashar al Assad vertrieben wurde, wird überschattet durch den Verbleib der Gewalt in den Köpfen der Kinder. Im nordöstlichen, kurdischen Teil Syriens, gibt es in al-Hol ein Lager für Frauen und Kinder der getöteten oder gefangenen islamistischen Kämpfer. Ein Kamerateam nähert sich dem Zaun und ein kleiner Junge ruft: Wir werden euch alle töten. Die Reporter fragen: Warum? Die Antwort des kleinen Jungen war: Weil ihr Ungläubige seid und weil Frauen verschleiert sein müssen.

Denselben kleinen Jungen habe ich schon einmal kennengelernt, da hieß er Dima Nikolajewitsch, und seine Eltern erzählten ihm, dass Onkel Lenin alles Böse auf der Welt sähe und bestrafe. ‚Der liebe Gott sieht alles‘ – so drohte Schwester Hedwig in meinem Kinderheim, als ich der kleine Junge war.

Ich dagegen glaube, dass das Fernglas falsch herum gehalten wird. Der Fokus ist falsch. Unsere Natur heißt Kooperation. Wir werden – so sagt es auch die Weihnachtsgeschichte – egal unter welchen Umständen in eine Welt der potenziellen Liebe und Geborgenheit geboren, seien unsere Eltern nun Milliardäre oder Bettler. Und umgekehrt: wir sind geboren, um jemandem, sei er unser Kind oder nicht, genau diese Liebe und Geborgenheit zu geben.

Das ist nicht abstrakt, das ist im Gegenteil sehr konkret. Denken wir weniger über die Welt nach und beginnen wir einfach vor unserer Haustür. Immer wieder hören wir Ausreden und glauben sie lieber als all die Aufrufe zur Güte. Empörung und Verschwörung sind leichter als das zu tun, das nach bestem Wissen und Gewissen das Richtige, das Gute und das Machbare ist. Da fällt uns auf: wer das nicht alles schon gesagt hat und wem wir nicht alles schon vorgeworfen haben, dass das Sonntagspredigt wäre, Schönreden, unrealistisch, blauäugig, Gutmenschentum. Wollten wir nicht alle gute Menschen sein?

Es wird oft Putin mit Hitler verglichen. Das scheint mir auch richtig zu sein: beide sind kranke Diktatoren, Imperialisten, auch ganz wörtliche Gewalttäter, beide kämpften auf dem Hinterhof gegen die Ratten, beide haben eine nationalistische Ideologie. Aber während die Hitlerjungen sich noch im letzten Drittel des April 1945 begeistert dem ‚Feind‘ entgegenwarfen und starben, müssen Putins Soldaten mit viel Geld den armen Familien in Sibirien zum Sterben abgekauft werden. Verlieren mussten und müssen beide, nicht nur, weil das Böse nicht siegen darf, sondern weil es auch noch nie auf Dauer gesiegt hat. Die Welt wird besser, wenn wir alles besser machen als unsere Vorfahren.

Je demokratischer Politik und Gesellschaft sind, desto enttäuschender, weil wir Demokratie mit paradiesischen und widerspruchsfreien Zuständen verwechseln. Solange ein Autokrat herrscht, kann er sich zum Gott und seinen Staat zum Paradies erklären. Allerdings bleibt zum Schluss immer nur ein Scherbenhaufen übrig. Die Demokratie dagegen lebt deshalb vom Kompromiss, weil keiner recht hat und recht haben kann. Sie ist ein fortwährendes Suchen nach einem gangbaren Weg, für den es keinen Kompass gibt. Was aber beide, die Bewahrer und die Beweger, nicht schaffen, ist die Aufrechterhaltung eines Status quo. Denn die Welt verändert sich so schnell, wie wir uns verändern, die Menschheit und der Mensch.

Mir hat das Schicksal in diesem Jahr wieder einen unglücklichen ukrainischen Flüchtling zugewiesen, der gar nicht so schlecht Deutsch spricht, aber offensichtlich nicht ausreichend für die neunte Klasse des Gymnasiums. Eigenartigerweise fühlt er sich, obwohl er nicht aus dem Osten oder Süden des Landes kommt, zu Russland und zur russischen Sprache hingezogen. Seine Mutter weigert sich, Deutsch zu lernen. Er trauert seiner Großmutter mit ihrer Hühnerhofidylle nach. Sodann habe ich einen sechsjährigen Jungen, dessen Eltern aus der Prenzlauer Eritrea Community stammen, dessen Sprach- und Verhaltensniveau zwischen zwei und drei Jahren liegt. Ich gehe jede Woche eine Stunde mit ihm spazieren. Dabei lernt er. Jetzt haben wir schon einen noch sehr kleinen Dialog, er stellt auch Fragen und er macht einen gutgelaunten Eindruck. Meine Hauptaufgaben bleiben natürlich N. und die Nachhilfeschüler in Pasewalk und Löcknitz.

Wir können uns für die Welt nichts wünschen, denn die Veränderungen haben komplexe und multiple Ursachen. Die meisten und das meiste davon ist von uns unbeeinflussbar. Statt aber darüber zu lamentieren, sollten wir das für uns Beeinflussbare beeinflussen. Wer das Wetter nicht ändern kann, behüte sich und die seinen. Helfen wir dem Kind, das die Sprache nicht versteht, dem Alten, der die Welt nicht mehr versteht, dem Migranten, der die Paragraphen nicht versteht. Seien wir ab sofort freundlicher, hilfsbereiter und verbindlicher. Kümmern wir uns um vergessene Nachbarn.  

Ich wünsche allen dabei belebende Freude, nachhaltigen Erfolg und bleibende Gesundheit.

Mit den besten Wünschen    

        

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Червона Шапочка

DAS NEUE ROTKÄPPCHEN

In einem kleinen Dorf wohnte ein Mädchen, das immer eine rote Kappe trug. Es wurde deshalb Rotkäppchen genannt. Eines Tages sagte die Mutter zu dem Mädchen: ‚Rotkäppchen, die Großmutter ist sehr krank und ich habe keine Zeit. Gehe du zu ihr und besuche sie. Ich packe Kuchen und Wein, damit die Großmutter wieder zu Kräften kommt.‘

Die Großmutter wohnte aber in einem Wald, drei Kilometer von dem Dorf entfernt. Deshalb sagte die Mutter: ‚Rotkäppchen, du weißt, dass in dem Wald auch der böse Wolf wohnt. Wenn du den Weg verlässt, wird er dich fressen.‘ Rotkäppchen versprach aufzupassen. Aber in Wirklichkeit hatte es keine Angst, denn es ging gerne durch den Wald und hatte dort noch nie einen Wolf gesehen.

Als nun Rotkäppchen im Wald war, bemerkte es dort schöne Blumen. Rotkäppchen wollte für die Großmutter Blumen mitnehmen, denn die Großmutter liebte Blumen über alles und arbeitete gerne in ihrem Garten. Aber erst einmal musste sie wieder gesund werden.

Rotkäppchen pflückte Blumen, da hörte sie eine tiefe Stimme. War das nicht ein Wolf? Und stand neben ihm nicht eine Ziege?

Der Wolf sagte zu der Ziege: ‚Ich bin nicht böse. Ich fresse nie dein Gras. Es wäre also nur gerecht, wenn du mir ohne Gewalt dein Fleisch geben würdest.‘

Die Ziege antwortete: ‚Nein. Man kann nicht das Leben gegen die Freiheit tauschen. Ich habe Hörner und ich habe Hufe. Ich werde so lange gegen dich kämpfen, bis du verschwindest.‘

Rotkäppchen nahm schnell den Korb mit dem Kuchen und dem Wein und ihre Blumen und rannte so schnell sie konnte zu dem kleinen Haus ihrer Großmutter.

‚Großmutter‘, rief sie, ‚ich habe den Wolf gesehen und gehört. Er ist nicht nur böse, sondern auch dumm. Er wollte die Ziege überreden, sich fressen zu lassen.‘

Der Großmutter ging es schon viel besser. Sie setzte sich im Bett auf und sagte: ‚Rotkäppchen, wenn du allen Kindern der Welt auf Facebook schreibst, was du heute erlebt hast, dann wird es Frieden für alle Menschen und für alle Zeit geben. Kein Mensch ist besser als der andere, kein Land ist schöner als das andere. Niemand darf lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.‘

Und so ging Rotkäppchen nach Hause und schrieb in ihrem Computer: WAS DU NICHT WILLST, DASS MAN DIR TU, DAS FÜG AUCH KEINEM ANDERN ZU*. Und sie schickte es an alle Kinder der Welt. Und als die erwachsen waren, gab es nur noch Frieden.

Що робити або Червона Шапочка в часи російсько-української війни

В одному маленькому селі жила дівчинка, яка завжди носила червону шапочку. Саме тому назвали її Червона Шапочка. Одного дня мати до неї каже: «Червона Шапочко, твоя бабуся захворіла, а у мене зовсім немає часу. Піди, будь ласка, та провідай її. Я спакую тобі печиво та вина, щоб бабуся швидше одужала.

Але бабуся жила у лісі, що за три кілометри від села, тому мати наголосила: «Червона Шапочко, ти ж знаєш, що у лісі живе злий Вовк. Якщо ти зіб’єшся зі шляху, він з’їсть тебе.» Червона Шапочка пообіцяла вважати на себе, але насправді вона не боялася, тому що дуже любила гуляти в лісі і ще жодного разу не зустріла там вовка.

Коли вже Червона Шапочка була у лісі, вона помітила багато квітів. Вона захотіла зірвати їх для бабусі, адже бабуся понад усе на світі любила квіти та працювати в своєму садку, тільки для цього їй потрібно було спочатку одужати. Червона Шапочка рвала квіти, аж раптом почула голос. Чи це не був Вовк? І чи це не Коза стоїть поруч з ним? Вовк саме промовляв до Кози: «Я не злий. Я не з’їм твоєї трави. Але це буде по-чесному, якщо ти без жодного пручання віддаси мені своє м’ясо.»*

Коза відповіла: «Ні. Не можна проміняти своє життя на свободу. У мене є роги та копита і я буду боротись з тобою доти, доки ти не зникнеш.»

Червона Шапочка схопила швиденько свою корзинку з печивом та вином, квіти та побігла щодуху до маленького будиночку своєї бабусі.

«Бабусю!», – закричала вона, – «Я бачила та чула Вовка. Він не лише злий, а ще й дурний! Він хотів вмовити Козу, щоб та дозволила себе з’їсти.» Бабуся вже почувала себе краще. Вона припіднялася з ліжка і промовила:

«Червона Шапочко, якщо ти всім дітям на світі напишеш в Фейсбуці, що ти сьогодні пережила, тоді запанує на світі мир на всі часи. Жодна людина не є краща за іншу і жодна країна не є гарніша ніж інша. Ніхто не може брехати заради своєї вигоди.»

Тому Червона Шапочка пішла додому і написала в своєму комп’ютері: ЧОГО НЕ ХОЧЕШ, ЩОБ ЧИНИЛИ ТОБІ, НЕ ЧИНИ ІНШОМУ.** Вона вислала це всім дітям на світі і коли вона вже була дорослою, на світі панував Мир.

                   рст

*за ідеєю Карла Чапека

** Золоті Правила

Переклад: Аліна-Марія Сенюх

MERKELS MEMOIREN

Warum Merkels Memoiren ‚Freiheit‘ heißen, kann gut mit ihrer Herkunft aus dem Osten, mit ihrem Aggregatzustand als Frau erklärt werden. In ihrer ersten Regierungserklärung bezog sie sich auf Willy Brandts erste Regierungserklärung, in der er ‚mehr Demokratie [zu] wagen‘ versprach. Sie wollte ‚mehr Freiheit wagen‘. Die Frage ist nun, warum eine law-and-order-Partei sich die Freiheit auf die Fahne schreibt. Partei und Parteivorsitzende sind nicht identisch, wie man leicht an der SPD studieren kann, die hat auf der einen Seite Bebel und Brandt hervorgebracht, auf der anderen Seite aber auch unterirdische Figuren wie Lafontaine und Scharping. Später ist Merkel unterstellt worden, sie hätte die CDU sozialdemokratisiert, von rechts in dieselbe Mitte transferiert, die kurz vor ihr Schröder und Blair, auch sie Parteivorsitzende, für ihre Parteien reserviert hatten.

Tatsächlich aber ist Merkel durch eine Verkettung für sie günstiger Zufälle an die Spitze von Partei und Land geraten, genauso wie Schröder aus seiner Armensiedlung. Biografien sind so wenig geradlinige Prozesse wie die Geschichte selbst. Die Koinzidenz von Person und Ereignis ist selbstverständlich zufällig und irrational. Deshalb gibt es Mathematik: um das Irrationale doch und irgendwie abzubilden. Deshalb ist einer der ersten Schlüsselsätze von Angela Merkel, dass sie zwar eine Wissenschaftlerin war, aber Gefahr lief, nicht bemerkt zu werden. Deshalb ist ihr Leben gegenüber reinen Parteisoldaten schon von vornherein abgehoben.

Für die ganze Klasse der rheinisch-katholischen Männer-CDU war Merkels Leben bis 1989 höchst erklärungsbedürftig. Mit der Spendenaffäre Kohls war andererseits ebendieser Männerzirkel an seine Toleranzgrenzen gelangt. Und drittens schließlich war das ganze Projekt der Volksparteien sichtlich beendet. Sie konnten nur noch um dieselbe Mitte kreisen. Die neuerliche Diskussion um den §218, den 80% der Bevölkerung abgeschafft sehen möchten, zeigt, wie weit die Bewahrungspartei sich von der Bewegungsbewegung entfernt hat, die in der Heimholung der Flüchtlinge des Sommers 2015 kulminierte. Unter Heimholung (‚Heim ins Reich‘) verstand man bis dahin irredentistische aggressive Akte wie die Rückeroberung des Saarlands, des Sudetenlands oder danach des Donbass. Merkel – in Absprache mit dem sozialdemokratischen österreichischen Kanzler Faymann – stellte dieses Prinzip vom Kopf auf die Füße: gerettet oder heimgeholt werden muss, wer sich in einer Notlage befindet. Es ging nicht um die allerdings sehr große Anzahl der Flüchtlinge dieses Jahres, sondern um jene, die von Viktor Orban auf die Straße – auf die Autobahn – getrieben worden waren: mehrere tausend Menschen, die schon eine dramatische Flucht vor allem auch aus Syrien[1] hinter sich hatten und denen nun zunächst Busse und dann Sonderzüge entgegengeschickt wurden. Die Bilder von ihrer Ankunft in München gingen um die Welt und zeigten Deutschland als Heimat der Menschlichkeit. Das hinderte aber die Bewahrungspartei, damals noch von Horst Seehofer, jetzt von Höcke, Weidel und Wagenknecht angeführt, nicht, entgegen dem offensichtlichen Willen einer Mehrheit auf dem Prinzip zu beharren, es zu bewahren, statt auf das Leben zu sehen und zu hören und etwas zu bewegen. Angela Merkel schreibt schon im Prolog ihres voluminösen Buches, dass die Rechtfertigung dieser weltpolitischen Szene der eigentliche Anlass für das bemerkenswert ausführliche, aber doch auch sehr schnelle Schreiben dieser Memoiren war. Diese Passagen sind auch spannend geschrieben, die eigene Erinnerung und der Text laufen über viele dutzende von Seiten synchron.

Die evangelischen Pfarrer in der DDR waren grob in zwei Gruppen geordnet vorstellbar: die Widerstandskämpfer, deren Konsequenz dann Gefängnis oder Brüsewitz-Syndrom[2] sein musste, und die Opportunisten, die mehr oder weniger mit der Schönherr-Formel ‚Kirche im Sozialismus‘ lebten. Zu denen gehörte auch der Vater von Angela Merkel, Horst Kasner, der noch dazu nicht Gemeindepfarrer, sondern Leiter eines Pastoralkollegs war, einer Fortbildungsstätte für Pfarrer. Das war der Verknüpfungspunkt der Merkel-Biografie mit der DDR-Geschichte, und nicht etwa, wie später vor allem von Pegida, AfD und Corona-Leugnern behauptet wurde, ihre Involvierung in die FDJ. Die FDJ war, außer in den Anfangsjahren der DDR, eher lächerlich. Die militaristische Infiltration oblag der GST, nicht der FDJ. So kann Merkel ihre Kindheit und Jugend glaubhaft und ohne Brüche als Idylle schildern. Zudem war sie eine Musterschülerin, die ihren Mangel an gesellschaftlichem Engagement durch die Teilnahme an den Russischolympiaden kompensieren konnte. Zur gleichen Zeit lernte in Dresden ein KGB-Offizier Deutsch. Im Gegensatz zu Merkel war und ist Putin geprägt von seiner Vergangenheit in einem Leningrader Hinterhof, dort im Kampf mit Ratten und Kriminellen, und später durch seine Ausbildung in einem der repressivsten Geheimdienste. Das war kein gutes Omen und schon gar keine Idylle.

Erst nach dem Studium kollidierte Merkel das erste Mal mit dem Staat, als sie in Ilmenau promovieren, aber nicht auf die Teilnahme an der evangelischen Studentengemeinde verzichten wollte und ebenso wenig bereit war, in dieser Gemeinde für die Staatssicherheit zu spionieren.

Ich habe nie CDU gewählt, auch nicht während ihrer Kanzlerschaft, mich interessierten an ihr nur die zeitliche und räumliche Nähe unserer Lebenswege und ihre überdurchschnittliche Fähigkeit, Krisen zu meistern. Nachdem ihre Ehe mit dem namensgebenden Dr. Merkel beendet war, eine Studentenliebe nennt sie sie, kam sie mit Dr. Sauer zusammen, der später ein bedeutender Chemiker und Professor wurde. Die eher provisorischen Altbauwohnungen in Ostberlin ergänzten die beiden bald – noch in der DDR-Zeit – durch den Ausbau eines nach 1945 von Umsiedlern, wie es bei uns hieß, oder Vertriebenen, wie sie im Westen genannt wurden, gebauten Hauses, das der Bauzeit und den Umständen entsprechend in einem schlechten Zustand war. Darin wohnen die beiden, neben der Wohnung gegenüber dem Pergamonmuseum, noch heute. Das ist der ganze Luxus der einst mächtigsten Frau der Welt.

Ausführlich beschreibt sie das Krisenmanagement, durch das sie weltberühmt wurde, jedenfalls in Politikerkreisen und dem interessierten Publikum. Die Griechenlandkrise, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch Lehman Brothers ausgelöst worden war, die Flüchtlingskrise und schließlich die Pandemie hat sie mit dem Stoizismus der märkischen Hausfrau, die sie auch ist, überstanden.

Während man gut verstehen kann, warum sich in der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine rechtskonservative Opposition bildete, bleibt dieses Verständnis während der Pandemie aus und wird von Merkel auch leider nicht vertieft. Selbst die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten wurden in vielen Städten und Dörfern unfreundlich bis feindselig aufgenommen. Mit dem Schimpfwort ‚Zigeuner‘ sollte wohl ausgedrückt werden, dass ihnen ein Mangel an Sesshaftigkeit nachgesagt werden kann. Flucht ist immer mit tatsächlichem Verlust auf Seiten der Flüchtlinge und Verlustangst auf Seiten der aufnehmenden Gesellschaft verbunden. Merkel und Faymann haben mit ihren – auch gegen die Dublin-Vereinbarungen verstoßenden – Entschlüssen einen größeren, menschlichen und auch christlichen Zusammenhang hergestellt, wie das in der Politik wahrlich selten ist. Die Bildung von teils recht aggressiven Oppositionen ist zwar nicht richtig und auch nicht verständlich, aber doch wenigstens verstehbar. Geld wird immer wieder als Pool, als endliche Menge vorgestellt. Wie vieles im Leben und in der Geschichte ist Geld aber ein Fluss. Die Billionen Euro, die durch Merkels umfangreiche Memoiren fließen und durch ihre Hände flossen, zeigen, wie falsch unsere absoluten Begriffe vom relativen Geld sind. Mir bleiben dagegen die Protestanten gegen die Pandemie-Maßnahmen bis heute ein Rätsel, da wir alle, die Politiker wie das Wahlvolk, nicht wissen konnten, was richtig und was falsch ist. Selbst Aktionismus war besser als abwarten oder vertuschen, wie es während der Spanischen Grippe, begünstigt durch den gleichzeitigen ersten Weltkrieg gang und gäbe war.

Die siebenhunderteinundzwanzig Seiten der Merkel-Memoiren zeigen, dass der Mensch, sei er nun Regierender oder Oppositioneller, nicht allwissend ist. Zum Leben gehört immer auch ein Grundvertrauen. Empörung ist keine Lösung, noch nicht einmal eine Option. Alternativlos ist nichts, aber nicht jede Wut ist schon eine Alternative. Wenn auch das letzte Drittel des Buches, wie auch schon vorher ein Abschnitt, wie der abgeschriebene Terminkalender wirkt, so bleibt es doch in seiner Gesamtheit nicht nur gut lesbar, sondern auch erhellend. In die Geschichte eingehen wird Angela Merkel mit ihren berühmtesten drei Worten, dem Credo aller Pragmatiker: WIR SCHAFFEN DAS.  

      


[1] Gerade heute [8. Dezember 2024], als ich das schreibe, wurde endlich der syrische Diktator Bashar al Assad gestürzt. Die neue Herrschaft muss nicht – aber kann – besser sein als die alte, aber es gibt einen Bösen weniger auf der Welt.

[2] Oskar Brüsewitz, umstrittener evangelischer Pfarrer, der sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche in Zeitz selbst verbrannte