DIE WELT IST AUS DEN FUGEN

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Auf der einen Seite war sie noch nie ‚in den Fugen‘, auf der anderen Seite sagt diesen berühmten Satz eine Kunstfigur, ein Zauderer mit Atemnot, der sich noch nicht einmal für die Frau entscheiden kann, die ihn liebt. Er schickt also sie in den Wahnsinn und die Welt in das Chaos. Aber da ist die Welt schon. In dem berühmten Theaterstück werden Politiker gezeigt, die damals mit Mord und Totschlag, heute mit Filz und Fake ihre kleine Politik besserwisserisch durchsetzen wollen, nicht, weil sie besonders schlecht und böse wären, sondern weil sie Menschen sind wie du und ich. Aber wir, die Konsumenten von Politik, sind andere geworden. Wir sind keine Analphabeten mehr, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Wir sind keine unmündigen Elemente eines zwar funktionierenden, aber doch hierarchisch-autoritären Systems. Das nächste ABER muss gleich folgen: und autoritäre und hierarchische Systeme funktionieren nur soweit und solange ihr Zusammenbruch mit drastischen Strafen vorweggenommen und gleichzeitig zu verhindern versucht wird. Wer das System bedroht, wird bedroht. Dadurch verrohen die, wie Rousseau meinte, anfangs idealen Sitten. Die Demokratie versucht nun das Gegenteil, sie macht die Menschen nicht nur mündig, sondern auch zu Produzenten der Verhältnisse. Allerdings stößt sie dabei auf fast gleich erbitterte Widerstände wie seinerzeit und seinesorts der Autoritarismus. Gegen ihn richtet sich der Freiheitswille des Individuums, den man an jeder Stubenfliege am Fenster beobachten kann, an jedem Käfer. Gegen die Freiheit der Demokratie richtet sich der Ordnungszwang, dem wir ebenso unterliegen. Wir glauben, und alle Religionen und Philosophien bestärken uns in diesem Glauben seit Jahrtausenden, dass die Welt ursprünglich oder eigentlich geordnet, aber durch den bösen Willen und Unverstand immer wieder ins Chaos abzurutschen gefährdet sei. Das ist der Grund, warum sich jede Ordnung, sei sie nun autoritär oder liberal, für alternativlos erklärt. Das gilt im übrigen auch für Texte. Man könnte keine Politik machen, wenn man an Alternativen glaubte. Wenn man sich alte Bundestagsdebatten anhört, dann kann man das sehr schön illustriert finden: jeder Redner – zum Beispiel Strauß und Wehner – geht zwar auf die Argumente der anderen Seite ein, aber nur, um festzustellen, dass lediglich die eigene Politik das Problem lösen kann und wird.

Es gibt allerdings zwei Auswege, die sich natürlich, wie alles auf der Welt, überschneiden und nicht etwa unversöhnlich gegenüberstehen. Das Wort unversöhnlich scheint einen gemeinsamen Sohn doch nur auszuschließen, denn praktisch, das weiß jeder, gibt es, wo Menschen aufeinander treffen, immer auch Söhne und Töchter. Der erste Ausweg sind charismatische Führer.

Führer scheuen Diskurs.

[Arbeitshypothese: Könnten die Führer die Lösung sein, wenn sie den Diskurs zuließen?]

Sie demonstrieren ihre Macht und glauben, dass jedes Problem mit ebendieser Macht zu lösen sei. Aber die Macht ist nur eine taube Nuss, ebenso wie das Talent, wenn es keinen Inhalt, keinen Fleiß, kein Abarbeiten der Einzelfälle gibt. Es hilft selbstverständlich nicht, wenn die Menschen nur in Gruppen eingeteilt werden: Freund und Feind, innen und außen, schwarz und weiß, rechts und links. Das Charisma des Führers erlaubt die einfachen, unglaubwürdigen Lösungen. Aus Erfahrung weiß man eigentlich, dass es nicht geht. Alle autoritären Gesellschaften verweisen deshalb auf die Weisheit des Führers oder der führenden Gruppe, denn: bei aller Rechthaberei oder Besserwisserei, wer bezeichnet sich selbst schon als weise? Darauf setzt die Autorität. Sie glaubt, dass sie nur durch Gegengewalt gestürzt werden kann. Tatsächlich aber haben sich alle Diktaturen durch ihre Inkompetenz selbst gestürzt. Das Hitlerreich hat die eigenen Kirchtürme bombardiert, um nicht zugeben zu müssen, dass es zurecht verlor; das zusammenbrechende Sowjetreich hat, hier bei uns, alles was nicht niet- und nagelfest war mitgenommen, wohlwissend, dass es in die Armut zurücktorpediert würde.

Putin bombardierte oder annektierte Tschetschenien, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, den Donbass und Luhansk, Syrien, und schließlich die Ukraine um zu verdecken, dass es im eigenen Land durch eigene Schuld für die ländliche Mehrheit weder WCs noch sonst einen Wohlstand gibt. Nationalismus braucht keinen Wohlstand, dafür reicht das Staatsfernsehen. Wohlstand braucht keinen Nationalismus, deshalb sind wir in jenem Staatsfernsehen das Beispiel für Dekadenz und Untergang. Die ganze Misere der Autokratie wird auf uns projiziert, und die genervten Bewohner der Autokratie sind getröstet, dass es den anderen – also uns – wenigstens schlechter geht als ihnen. Leider erleben wir im vorigen und in diesem Jahr als Zeugen einer erbärmlichen Geschichte mit, wie der Tyrann nicht nur seine Nachbarn und den lange herbeidiskutierten Konsens schwer beschädigt, sondern das eigene Land in den Orkus seines Untergangs mitreißt.

Diskurs scheut Führer.

[Arbeitshypothese: Könnte der Diskurs die Lösung sein, wenn er Führer zuließe?]

Der Diskurs demonstriert eher die Unmöglichkeit, ein Problem zu lösen als die Möglichkeit. Den Kompromiss empfinden viele Menschen als Schmach. Es ist schwer einzusehen, dass man selbst nicht recht hatte oder nichts zur Lösung beitragen konnte. Das Ausdiskutieren jedes Problems dauert manchmal Generationen. Deshalb sehnen sich die Menschen in diskursiven Systemen so oft nach Ordnung, Charisma, vielleicht einfach nur Anhaltspunkten. Eine Demokratie ist also schlecht beraten, immer wieder aufs Neue, aus Kostengründen, wegen der Rationalität oder aus anderen Gründen, Ordnungen zu beseitigen. Demokratie ist ohnehin schon schwer zu verstehen, wenn dann auch noch die Kreisverwaltung schließt oder der Name des Heimatortes in eine anonyme Bezeichnung – ORTSTEIL – geändert wird, verlieren die Menschen Vertrauen und Orientierung.

Viele vermuten daher als Urheber von Ereignissen einen Masterplan oder sogar eine Weltherrschaft. Der Prinz in unserem Titelzitat beklagt nicht etwa, dass die Welt aus den Fugen, sondern dass ausgerechnet er dazu berufen sei, sie wieder in Ordnung zu bringen. So gesehen sind wir alle Egoisten. Wir glauben immer und überall, dass wir gemeint sind. Wir können uns nicht für anonym halten, weil wir einen Namen haben. Wir haben einfach vergessen, dass wir, um einen Namen zu haben, uns erst einen Namen machen müssen. Wer aber in der Demokratie seine Namenlosigkeit beklagt, wie will der in der Diktatur glücklich werden? Er kann nur erfolgreich sein durch den Ausschluss anderer, und das verbietet nicht nur die Menschlichkeit, sondern das verbieten auch alle Religionen und Philosophien, allerdings im Kleingedruckten. Der Preis des Sieges ist das, was man nicht hören will. Niemand lässt sich gerne belehren von Menschen, die unter ihm stehen. Wie soll er da verstehen, dass niemand unter ihm steht.

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Sie verbessert sich nur langsamer, als wir gehofft haben. Niemand ist allein berufen, die Welt zu verändern. Keiner kann allein die Probleme der Menschheit lösen. Nur der Diskurs selbst ist alternativlos, allerdings sollte er das Charisma zulassen. Charismatiker sollte man weder erschießen oder ans Kreuz nageln, weil man niemanden erschießen oder kreuzigen darf, noch unterdrücken, weil man niemanden unterdrücken sollte, noch nach ihrem Tod diskreditieren, weil man keinem Toten Schlechtes nachreden muss, denn man kann ihn nicht mehr ändern.

Vielmehr müssen wir lernen, den Diskurs und das Charisma auszuhalten. Unsere Medien sind nicht unsere Kompetenz, sondern nur unser Krückstock.

3 Gedanken zu “DIE WELT IST AUS DEN FUGEN

  1. Guten Tag,

    „Vielmehr müssen wir lernen, den Diskurs und das Charisma auszuhalten. Unsere Medien sind nicht unsere Kompetenz, sondern nur unser Krückstock.“

    Charisma:

    THEOLOGIE
    Gesamtheit der durch den Geist Gottes bewirkten Gaben und Befähigungen des Christen in der Gemeinde

    2)
    besondere Ausstrahlung[skraft] eines Menschen

    Definitionen von Diskurs:

    1
    BILDUNGSSPRACHLICH
    methodisch aufgebaute Abhandlung über ein bestimmtes [wissenschaftliches] Thema

    2
    BILDUNGSSPRACHLICH
    [lebhafte] Erörterung; Diskussion
    einen Diskurs mit jemandem haben, führen

    3
    SPRACHWISSENSCHAFT
    Gesamtheit der von einem Sprachteilhaber tatsächlich realisierten sprachlichen Äußerungen

    Die Zwiesprache mit mir, zwischen Innenwelt und Aussenwelt, wird die Welt nicht in Ordnung, in die richtigen Fugen setzen. Sie fordert mich, als ganzen Menschen, zeitlebens in eigener Auseinandersetzung, zwischen Gut und Böse, zu neuer Einsicht heraus. Was ich nicht zu ändern vermag, das muss ich aushalten.

    Die Vermittler reden allen ins Gewissen, mit dem, was sie anderen zum Besseren zu glauben vorstellen wollen.

    Dimitri Anatoljewitsch Medwedew / Wladimir Wladimirowitsch Putin / Dmitri Walerjewitsch Utkin / Wladimir Michailowitsch Gundjajew….Сергей Викторович Лавров

    Die Lektionen für den Kreml, der aus den historischen Erfahrung, durch Genozid an der eigenen Bevölkerung, unter Иосиф Виссарионович Сталин nichts gelernt hat. Stalins Genozid in der Ukraine: „Eine Wahrheit, die man jahrzehntelang zu vertuschen versuchte“ Der Genozid und der Terror in der Ukraine geht weiter.

    Stalin ließ in den ukrainischen Dörfern das Vieh, Getreide und Saatgut beschlagnahmen. Hungergebiete wurden abgeriegelt. Je nach Region verhungerten zwischen zehn und 60 Prozent der Bevölkerung. Historiker schätzen, dass etwa vier Millionen Menschen in der Ukraine dem Holodomor zum Opfer fielen.

    Die neoimperialen Angriffskriege des Kreml sind ein Verbrechen.

    Xi Jinping und weiter Despoten mit ihren Anhängern, die, die gleiche Weltanschauung vertreten.

    mit freundlichen Grüßen
    Hans Gamma

    Like

    • hallo hans gamma, ich freue mich sehr, dass du meine texte liest und kommentierst. für meine leser ist vorausgesetzt, was charisma und diskurs bedeuten. gemeint war hier, dass die eine heute mögliche gesellschaft auf dem charisma beruht, was der anderen gerade abgeht, die ihrerseits auf den diskurs setzt. also bin ich etwas von deinem kommentar irritiert. stimmst du überwiegend zu? oder meinst du, dass man soviel dazu erklären muss? und erklärst du es dir einfach selber? freundlichste grüße in die schweiz! rst

      Like

      • Guten Tag rst,

        Vielen Dank für Ihre Antwort.

        „hallo hans gamma, ich freue mich sehr, dass du meine texte liest und kommentierst. für meine leser ist vorausgesetzt, was charisma und diskurs bedeuten. gemeint war hier, dass die eine heute mögliche gesellschaft auf dem charisma beruht, was der anderen gerade abgeht, die ihrerseits auf den diskurs setzt. also bin ich etwas von deinem kommentar irritiert. stimmst du überwiegend zu? oder meinst du, dass man soviel dazu erklären muss? und erklärst du es dir einfach selber? freundlichste grüße in die schweiz! rst“

        Zwiegespräche in denen sich Einsichten zur Wirklichkeit hin und her bewegen, bis das der eine, von dem, der die bessere Ausstrahlung, als Person und der Wortwahl besitzt; sich ihm, als dem Führenden anschliesst und seine Grundüberzeugung für sich übernimmt.

        Eine Aussage muss beim Gegenüber eine innere Entsprechung hervorrufen.

        Den Dialog, den ich mit mir nach einem Ereignis führe, dem muss ich selbst ein Urteil setzen.

        Was in einem Text, deren Inhalt als die Bedeutung schlechthin voraussetzt, was eine mögliche Gesellschaft an einem charismatischen Führer zur Wegbereitung des Einzelnen braucht oder nicht, dem weiss ich mir nicht.

        Mir geht ein eindeutiges Vorbild, seit meiner Kindheit völlig ab.

        Was anderen abgeht, was anderen in diesem Sinne ansteht. Auch darauf habe ich keine Antwort.

        Wer das Zwiegespräch ohne auf die unteilbare Menschenwürde zu achten, jemandem genügt; das ist deren Sache, das liegt in deren eigenen Rechtfertigung und ihrem Urteil und ihrer Weltanschauung.

        Die Rede, ist sie verheissungsvoll, kann dem anderen einen Anstoss geben.

        Wenn ein anderer den Inhalt des Gesagten nicht verstehen kann, wird er, wenn er ein Interesse an der Aussage hat, danach fragen.

        Ist ihm damit eine neue Einsicht gelungen, wird er das Gesagte dankenswert bestätigen.

        Ich mache mir kein Urteil über Ihren Text. Für mich ist er nicht stimmig.

        Ihre Ausführungen dürfen Ihnen und anderen ganz und gar entsprechen.

        mit freundlichen Grüßen
        Hans Gamma

        Like

Hinterlasse eine Antwort zu rochusthal Antwort abbrechen