
aus: HUNDERT TAGE MEINES LEBENS
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Ein Freund lud mich ein, mit ihm die Touristenstrecke, die früher meine Schüler-Geschichts-Meile war, vom Reichstag bis zum Jüdischen Museum, mit dem Elektroroller zu befahren und fragte mich vorsorglich, ob ich dafür fit genug wäre. Als ich in der Tiefbauschule anfing, also 1979, stand an der Straßenbahnhaltestelle der 70, in der Pistoriusstraße in Weißensee, vor der Volksbuchhandlung, die nun ein Dönerladen ist, ein Mann in meinem jetzigen Alter, an dessen Nase stets ein ekler Tropfen hing. Er hatte schäbige Sachen an und trug eine schäbige, ganz dünne, wahrscheinlich leere Aktentasche, die ihn zum Büroarbeiter machte. Er erinnerte mich merkwürdigerweise an meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt ihre letzte, aber dann noch Jahrzehnte währende Arbeit bei der Berliner Domkantorei unter Kirchenmusikdirektor Herbert Hildebrandt begann. In der Tiefbauschule war ich, wahrscheinlich nur für kurze Zeit, der jüngste Lehrer, und wurde auf der Freitreppe zum Hof von Schülern gefragt, seit wann die Ordnungsschüler hier etwas zu sagen hätten. Der damals älteste Kollege war ein legendärer Zimmermann, der im Unterricht aber nur noch seine Legenden erzählte, wie zum Beispiel, dass er einen Nagel mit der flachen Hand oder mit der Faust in einen Balken einschlagen konnte. Ich glaube es heute noch nicht. Wenn er aus der Lehrertoilette kam, hatte er an seiner Hose vorne einen großen Urinfleck. Er war zu jener Zeit zehn Jahre jünger als ich jetzt.
Mein kleiner Patenenkel Nathan wird bald fünf Jahre alt und soll ein neues Fahrrad und ein neues Bett bekommen. Zuerst fahren wir also zu Fahrrad-Stadler, dem größten Zweiradgeschäft Deutschlands, auch mein geliebtes FOCUS ist aus diesem Laden. In die U-Bahn stieg am Sophie-Charlotte-Platz ein alter Mann, sicher schon über achtzig, groß, schwer, und er wäre sogar stattlich zu nennen gewesen, wenn er nicht mitsamt seinem Fahrrad beim Anfahren der U-Bahn so schwer gestürzt wäre, dass er selber nicht mehr hochkam. Wir halfen ihm, mehrere Leute waren besorgt und gaben ihm gute Ratschläge. Am Kaiserdamm stiegen wir aus. Plötzlich hörten wir hinter uns einen lauten Schlag und ein rhythmisches Weiterschlagen: bam-bambam-bam-bambam: Der alte Mann war auf der Rolltreppe wieder schwer gestürzt, sein Fahrrad schlug unten immer gegen die nächste Stufe. Ungeachtet der äußerst gefährlichen Lage versuchte der alte Mann nun, die Treppe rückwärts hinunterzugehen, was ihm natürlich nicht gelingen konnte. Das ist ein Sport für junge Burschen. Nathans Vater rannte nach unten, Nathans Mutter und ich hoben den 100-Kilogramm-Mann auf, der erneut gestürzt war. Wir vermuteten nach getaner Rettung, dass er möglicherweise betrunken sei, dass er nichts mehr hört, einigten uns dann aber auf meine Formel, dass er die Welt nicht mehr versteht. Er versteht nicht, dass er nicht mehr schafft, was er früher spielend schaffte. Wenige Minuten später raste Nathan mit seinen Proberädern die langen Gänge des tatsächlich außergewöhnlichen Ladens auf und ab, übervorsichtig betreut von seinem Vater. Die Fahrräder in diesem Laden sind nicht gerade billig, aber sein Vater ist ein fleißiger Mann, der keine Sonderschicht auslässt, um Überstunden und Feiertage extra bezahlt zu bekommen. Er war bei mir 2015, im ‚WIR-SCHAFFEN-DAS‘-Flüchtlingsjahr im Deutschkurs, daher kennen wir uns. Es war das Jahr, in dem die Nazis annahmen, dass die Flüchtlinge wegen des christlichen Nächstenliebesatzes der CDU-Kanzlerin Merkel aus Templin gekommen wären. Nathans Vater und andere, die ich kenne, haben Jahre gebraucht, haben in Khartum und Tripolis monatelang gearbeitet, und haben von Frau Dr. Merkel zu ersten Mal in Eisenhüttenstadt gehört, dem damaligen Zentralaufnahmelager für die östlichen Bundesländer.
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In meinen letzten beiden regulären Arbeitsjahren hatte ich jeweils eine Fachabiturklasse und - damit ich es ein bisschen leichter hätte - zwei oder drei Berufsvorbereitungsklassen. Das sind junge Menschen ohne Schulabschluss, die durch die Jobcenter - bei Androhung von Strafen – aufgefordert werden, sich wenigstens für einen Beruf zu interessieren. Die Arbeit ist insofern leicht, dass nie alle da sind, dass aber die da sind, dankbar jede Hilfe annehmen, soweit ihre Konzentrationsfähigkeit reicht. Es kamen zu Beginn des Schuljahres also vielleicht 50 Jugendliche mit einem Schreiben vom Jobcenter. Sie saßen in der Aula und meine Kollegin D., die stellvertretende Abteilungsleiterin, liest laut die Klassenbezeichnung und die dazugehörigen Namen vor. Sowohl Lehrer als auch Schüler können aber auch Wünsche äußern, in welche Klasse wer aufgenommen werden soll. Da stutzt sie bei einem für sie schwer auszusprechenden Namen. Ich sehe auf das Blatt: es ist der Name des islamischen Gelehrten und Lehrers von Mehmet II., dem Eroberer Konstantinopels. Jahrelang stand an meiner Bibliothekstür in Türkisch und Deutsch der Satz, den Mehmet II., damals zwanzig Jahre alt, gesagt haben soll, nachdem er die Stadt eingenommen hatte und man ihm Rosen überreichte, die er an seinen Lehrer weitergab: ICH BIN DER EROBERER, ABER DAS IST MEIN LEHRER. Ben fatihim ama bu benim öğretmenim.
Der Junge, der so hieß wie dieser berühmte Lehrer, beobachtete unser leises Gespräch, in dem ich meiner Kollegin die Bedeutung dieses Namens erklärte. Mit einem Lächeln nahm er auf, dass ich ihn ausdrücklich in meiner Klasse haben wollte. Es war vielleicht das erste Mal, dass ihn jemand haben wollte. Später erfuhr ich, dass der Vater, ein hochreligiöser Mann, die Familie verlassen und die Mutter mit den beiden Kindern zurückgelassen hatte. Die Mutter schlug sich als Reinigungskraft durch und konnte sich damit nur eine kleine Wohnung im Osten Berlins leisten. Der Junge mit dem schönen und bedeutungsvollen Namen kam auch eine zeitlang zur Schule, aber bald verfiel er in sein altes Bummelschema: nicht aufstehen, die Mutter war längst zum Malochen gegangen, fernsehen, zocken, dann war es zu spät für die Schule. Er hat mir erzählt, dass er seit vielen Jahren schon nicht mehr mit Lehrern gesprochen hatte. Er antwortete einfach nicht, wenn sie ihn etwas fragten.
Vielleicht war es der letzte sehr warme Spätsommertag, als ich mich entschloss, ihn bei sich zuhause aufzusuchen. Ich fuhr mit dem Fahrrad durch das heiße Berlin, von Weißensee bis Friedrichshain, das ist nicht sehr weit, aber es war sehr warm. Ich schwitzte stark. Es war eine ganz kleine Straße, in der aber die gleichen Neubauten aus den fünfziger Jahren standen, wie in der benachbarten großen Allee mit dem einst widerwärtigen Namen. Ich klingelte mehrmals und musste lange warten. Es war eine Geduldsprobe, aber ich war sicher, dass er zuhause wäre. Dann kam ein ganz leises JA, beinahe verstört aus der Sprechanlage. Er öffnete mir. Oben an der Wohnungstür stand ein staunender Schulschwänzer, der es nicht glauben konnte, dass ihn jemand suchte. Er brachte mir sofort ein Glas Wasser und hörte sich dann meine Sermone zu seinem Verhalten an. Wir saßen im Wohnzimmer, in dem aber auch das ungemachte Bett seiner Mutter war, eine Ausklappcouch. Sein Zimmer wollte er mir nicht zeigen. Aber das und meine Reden waren nicht wichtig. Er hatte seinen Entschluss gefasst und kam von dem Tag an tatsächlich regelmäßig zur Schule.
Diese Klassen werden regelmäßig vom Berliner Fußballklub Hertha BSC zu einer workshop-Woche eingeladen. Trainer und Mitarbeiter arbeiten dann mit den Jugendlichen. Am Sporttag kam mich unser Sozialarbeiter besuchen, dem wir wohl diesen Kontakt zum berühmten Verein verdankten. Wir saßen also beide auf der Zuschauertribüne der großen Halle und sahen zu, wie unsere nicht so sonderlich glücklichen Schüler Sport trieben. Plötzlich aber sahen wir: den Jungen mit dem berühmten Namen. Er machte eine ausgezeichnete Figur. Wir beobachteten ihn eine Weile zu unserem größten Erstaunen. In der Pause besprachen wir uns mit dem Trainer, der unseren Eindruck und die Begabung des Jungen bestätigen konnte. Unser Sozialarbeiter ließ seine Verbindungen spielen, und es gelang uns, für den sportlich hochbegabten Jungen eine Ausbildung als Rettungsschwimmer mit anschließendem Arbeitsplatz zu organisieren. Noch einige Jahre schrieb er mir, dass er immer noch da arbeite. Inzwischen aber, das ist alles mehr als ein Jahrzehnt her, ist der Kontakt abgebrochen. Wir können nicht das Leben anderer Menschen leben. Wir können nur helfen und Angebote machen.
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Dann kam bei mir die Phase der Deutschkurse. Hin und wieder habe ich auch einen oder einige Nachhilfeschüler. Manche wollen nur ihre Zensur verbessern, oft von den Eltern angetrieben. Andere sind wirklich hoffnungslose Fälle. Sie entsprechen vielleicht dem Vorurteil. Aber auch hier geschehen Wunder.
Drei Stunden pro Woche bekommt ein 15jähriger Schüler der achten Klasse, vom Jobcenter bezahlt, weil seine Eltern nicht genug verdienen. Er geht nicht gern in die Schule, schläft manchmal im Unterricht ein, den Kopf auf den Armen, die Arme auf dem Tisch. Jeder Lehrer kennt das Bild und ärgert sich über diese Wirklichkeit, die ab und zu vorkommt. Aber, so erfahre ich weiter, er ist auch nicht gerne in dem Land, in das seine Eltern und die gesamte Großfamilie ausgewandert sind. Zwar wohnen sie nur zehn Kilometer von der Grenze entfernt. Er kann jederzeit – sogar mit dem Fahrrad – hinüberfahren. Sie kaufen dort jede Woche ein. Sie haben ein kleines Haus in der Nähe der Ostseeküste und in der Nähe eines einst und jetzt wieder berühmten Badeortes. Er wirkt gar nicht so unzufrieden, eher gelangweilt, desinteressiert. Merkwürdig ist nur, dass er alles ausführt, was man ihm aufträgt, aber, wie wir Lehrer sagen, es bleibt nichts hängen. Morgen hat er es schon wieder vergessen. Er spricht nicht schlecht Deutsch, sein Akzent ist nicht sehr stark. Er hat eine sehr angenehme, tiefe Stimme, und das einzige, was richtig an sein ursprüngliches Land erinnert, ist das kräftige Zungen-R.
Vielleicht in der fünften oder sechsten Woche, die wir zusammen sind, will ich ihm das Leben mit den ewigen Übungen und Grammatik tools erleichtern. Vielleicht will ich es auch mir erleichtern. Leichthin sage ich, ohne selbst an ein Ergebnis zu glauben: Schreib doch mal eine Geschichte, dann können wir die Fehler analysieren. Und er schreibt los. Er schreibt eine Geschichte von einer halben Seite. Das ist für Schüler seiner Art viel. Noch erstaunlicher als die Quantität ist die Qualität der Geschichte. Er lebt auf, als ich sie laut vorlese. Ich befürchte kurz, dass es seine Geschichte sein könnte, denn sie handelt von einem Vater, der trinkt und prügelt und seine Familie schlecht behandelt. Aber er lacht und beruhigt mich: nein, das bin nicht ich. Denn der Sohn in der Geschichte verzeiht seinem Vater und pflegt ihn.
Am nächsten Tag haben wir zwei Stunden und er schreibt eine Geschichte von einer ganzen Seite. Meist ist das selbstständige Schreiben das eigentliche Problem von Problemschülern im Fach Deutsch. Aber er schreibt nach wieder nur kurzem Überlegen eine spannende, sogar ein bisschen provozierende Liebesgeschichte. Auch hier ist es – diesmal leider – nicht seine Geschichte. Er hat sie sich wirklich ausgedacht. Zufällig finde ich im Internet eine Ausschreibung für einen Jugendliteraturwettbewerb. Es geht darum, eine Geschichte zu schreiben, die dann von einem von der Jury zu bestimmenden Partner ins Italienische zu übersetzen ist. Es gibt fünf Preise, Geld, die Partnerin oder den Partner in Italien, eine Reise dorthin. Das nächste Wunder geschieht: er baut seine Geschichte auf die von der Ausschreibung geforderte Länge hin um, vertieft die beiden Charaktere, erfindet Nebenrollen und Details. Die Geschichte hat zwei anrührende Höhepunkte und einen altersgerecht nebulösen Schluss: wie im Märchen sind die beiden Protagonisten vereint. Geduldig hat er meine Hinweise und – rein sprachlichen – Korrekturen hingenommen und eingearbeitet. So lange, mehrere Tage, hat er noch nie in seinem Leben an einem Text gearbeitet.
Da ich die Ausschreibung nicht genau gelesen hatte, war ich fälschlich davon ausgegangen, dass wir die Geschichte ausdrucken und per Post an die Stiftung schicken würden. Sie musste aber als email eingereicht werden. Das musste und konnte er nur selber tun. Am letzten Tag meldete er sich bei mir und schrieb, dass sein Computer nicht WhatsApp-kompatibel ist. Dann funktionierte seine email-Adresse nicht, weil sie nie benutzt wird. Dann kam alles zurück. Ich habe ihm auf WhatsApp gesagt, was er an seinem Computer machen muss. Und er hat es geduldig alles ausgeführt. Und nun ist die Geschichte – ich kann es nur hoffen – da, wo sie hingehört. Und wir hoffen, dass die Jury die Authentizität des zweisprachigen Denkens erkennt. Er hofft auf einen Preis, muss sich aber noch entscheiden, ob er das Geld oder die Reise besser finden würde.
Ich dagegen hoffe auf die Initialzündung, die ein solcher Erfolg auslösen könnte. Ich hoffe darauf, dass er seine Kraft erkennt, die in seiner Fantasy liegt. Sie lag bisher wahrscheinlich nicht brach, aber sie ist weder von ihm noch von seinen Lehrern mit der Schule verknüpft worden. Jetzt wissen wir, was er geträumt hat, wenn sein Kopf auf der Tischplatte lag. Jetzt weiß er oder jedenfalls kann er wissen, dass das, was er träumt für die Schule und für das Leben nutzbar gemacht werden kann und muss.