MENSCHEN DRITTER KLASSE

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wer ist ostdeutscher

wer ist westdeutscher

wer ist deutscher als wer

In diesen Tagen um den dritten Oktober fühlen sich so viele im Osten als Menschen zweiter Klasse. Und eine ganze Menge unter ihnen sieht zu ihrem Glück noch Menschen dritter Klasse unter sich. Dieses Phänomen hatte vor hundert Jahren schon Heinrich Mann geschildert, und der kannte die DDR erst als er schon tot war.

Es geht dabei einerseits um Schuld. Ist glücklicherweise jemand an meinem Unglück schuld? Andererseits geht es um Klassismus, Rassismus, Sexismus in Form einer sozialen Pyramide. Diese soziale Hierarchie kann sich mit der nationalen oder der religiösen Pyramide überschneiden. Und schließlich drittens leiden wir alle an der Krankheit der Vergangenheitssehnsucht. Weihnachten war früher schöner, schon meine Großmutter sagte, wenn auch ironisch, der Schnee war früher weißer, und seit dreißig Jahren ist nun eben die DDR besser als sie jemals gewesen sein kann gewesen. Denn wäre sie auch nur annähernd so gewesen, wie sie jetzt von einigen Millionen Menschen erinnert wird, dann wäre sie nicht sang- und klanglos untergegangen. Honecker hat uns immer gewarnt: die Bundeswehr wolle mit klingendem Spiel durchs Brandenburger Tor einmarschieren. Das wolle er verhindern. Tatsächlich verschwand er dann aber in seiner Volvostretchlimousine in die Anonymität und schließlich nach Chile zum Sterben. „Es war nicht alles schlecht.“ Selbstverständlich nicht, aber es war bei weitem nicht so gut wie es hätte sein können und vor allem nicht, für wie gut es erklärt wurde. Drüben machte man sich demzufolge über das Arbeiterparadies lustig, aber wir fanden es nicht lustig, anstehen zu müssen, den Beruf nicht frei auswählen zu können. Wir fanden es nicht lustig, dass die Karten jenseits von Helmstedt und Hennigsdorf weiß blieben. Die Berufswahl hing an einem sozusagen sozial-politischen numerus clausus. Auch der heutige eher kapazitätsbedingte numerus clausus wird als ungerecht empfunden. Denn es kann jemand für Medizin begabt sein, der oder die nicht einen Abiturdurchschnitt von 1,0 hat. Wie erst müssen sich Frauen und als Juden bezeichnete Menschen vor 1945 gefühlt haben, die durch einen sexistischen und rassistischen numerus clausus vom Studium ausgeschlossen waren. In bezug auf Juden kann man sich nicht anders als verquast ausdrücken, denn die Nazis meinten damit eine ausgedachte ethnische Zugehörigkeit, die sie – rassistisch – als ‚rassisch‘ bezeichneten, die aber eigentlich nur auf Religion gegründet war. Aber nicht jede und jeder, der in eine bestimmte Familie hineingeboren wird, muss sich an die in ihr geltenden Traditionen gebunden fühlen. Einfacher gesagt: In jüdischen Familien gibt es genauso viele Agnostiker und Atheisten wie Fromme und Fundamentalisten wie in christlichen oder muslimischen Familien. Die Religionen, so hilfreich sie vielen Menschen erscheinen mögen, überzeugen nicht gerade durch ein Wahrheitsmonopol , das es auch gar nicht geben kann.  Selbst in krassen Diktaturen gehört man nur dazu, wenn man es will und sich als zugehörig definiert. Denken wir immer an Rosa Parks, die sich als erste im Bus auf einen Platz setzte, der nicht für sie reserviert war.

Jeder weiß, dass es nicht allen Menschen aus der DDR gelang, im wiedervereinten Deutschland nach oben zu kommen. Wir wollen uns hier nicht an diesen sinnlosen Zahlenspielen beteiligen, im Gegenteil verweisen wir auf Angela Merkel, die schon länger Bundeskanzlerin ist als Adenauer Bundeskanzler war. Nur weil er so steinalt war, erschien uns seine Zeit seinerzeit als ewig. Und weil wir jetzt selber schon steinalt sind und die wichtigsten oder wenigstens aufregendsten Jahre unter Kohl erlebten, erscheint es uns jetzt so, als sei die Merkel erst gestern gewählt worden. Und morgen wird sie abgewählt. Dann haben die Leute wieder etwas zu jammern: Das gab es unter Merkel nicht.

Ich hatte schon vor langer Zeit einmal darauf hingewiesen, das Diktatoren nach ihrem Tod gerne geduzt werden. Erst jetzt ist mir der Grund klarer geworden. Wenn sie tot sind, haben sie genauso verloren wie die Menschen, die früher alles besser fanden. Vergangenheit und Diktatur kreuzen sich also nur zufällig. Es ist beruhigend zu wissen, dass die Alten in einiger Zukunft ihren Enkeln von der Demokratie als der besseren Zeit vorschwärmen werden. Neulich saß ich in einer Altmännerrunde und hörte eine Weile geduldig zu. Es ging nicht um die Einzelheiten, die da diskutiert wurden, es ging darum am Alten festzuhalten. Alles Neue wurde einfach abgelehnt. Wochen später saß ich in einer Altfrauenrunde, und da verstieg man sich sogar zu der Ansicht, dass die Abschaffung der Worte Mohr und Neger wegen Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf nicht hinnehmbar sei.

Aber wer will nun die dritte Klasse von Menschen sein? Für die AfD ist es klar: die Flüchtlinge, die Muslime, überhaupt die Fremden. Aber es scheint den Wählern der AfD immer klarer zu werden, was sie da gewählt haben: eine Partei dritter Klasse, die niemand braucht. Zwar hat es Alice Weidel auf die Rankingliste des Politbarometers geschafft, aber an letzter Stelle und als einzige Alternative. Die andern Schreihälse sind schon verschwunden. Gauland jagt wahrscheinlich nackt die Kanzlerin am Ufer des Jungfernsees in Potsdam und lässt sich dann brav von Polizeibeamtinnen nach Hause führen.

Im alten Ostberlin, damit meine ich den Zustand, als es noch in der Invaliden- und Heinrich-Heine-Straße endete, vor allem natürlich in der Sonnenallee, im alten Ostberlin sinnierte ich an der Kaufhalle in der Chausseestraße, ja, ja, so hießen einst im Osten die Supermärkte, dass man nicht anstehen müsste, wenn man sich nicht anstellte. Wenn niemand anstehen würde, hätte es die Erdbeeren oder Bananen auch ohne Anstehen gegeben. Aber: auch der Appetit war scheinbar kollektiv geregelt, wahrscheinlich vom Zentralkomitee oder von der Hauptabteilung Geschmacksbildung des Ministeriums für Staatssicherheit unter Leitung des Genossen Generalleutnant Wolfgang Gülle.

Und so könnten wir auch jetzt verfahren: Wenn wir uns nicht mehr als Menschen zweiter Klasse sehen würden, dann gäbe es auch keine Menschen erster und schon gar keine dritter Klasse. Man muss nur im Bus den Platz wechseln.  

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