DER MOOR DUALISMUS

 

Philosophen und Mediziner lehren mich, wie

treffend die Stimmungen des Geistes mit den

Bewegungen der Maschine zusammenlaufen.

 

Nr. 171

 

Der eine ekelt sich vor sich selbst, er hat ‚große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein‘. Deshalb tut er sein ganzes kurzes und nichtswürdiges Leben lang nichts anderes, als zu versuchen, die vermeintlich ungerechten Bedingungen für sein Leben zu verändern: mit Psychoterror, Vergewaltigung, Lüge, bezahltem Verrat, populistischen Versprechungen, und schließlich mit Mord und Totschlag.

Den anderen ‚ekelt vor diesem tintenklecksenden‘ Jahrhundert. Er verlässt sein Elternhaus, weil er die Welt verbessern will, stößt auf die Hürden der Bürokratie und des institutionalisierten Wissens und wird prompt ein Outlaw wie aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die beiden Brüder könnten aus einem Forum im Internet entsprungen und dort die Anführer einer Empörungsgruppe sein. Die Empörung ist die neue Revolution. Man kann ganz laut schreien. Man kann zeigen, wie unrecht die widerwärtige Welt hat und ist. Alle machen alles falsch, aber wir, wir wissen es besser. Denn der Chefempörer ist nicht allein. Er hat eine Gruppe Claqueure um sich versammelt, die nie schläft, die immer die erforderlichen Klicks und unterwürfigen Beifallsrufe bereit hält. Wichtig ist nur, rechtzeitig das Thema zu wechseln, damit die Hohlheit des Protests nicht im All widerhallt.

Dem Vorwurf des Egoismus versucht die andere Gruppe durch den Hinweis auf mangelnde Gerechtigkeit zu entgehen, mit der sie die eigenen Mängel zu erklären versucht. Auch sie will einen gerechteren Anteil erzwingen.

Der eine verflucht die Ordnung, der andre die Freiheit. Beide Sichtweisen erklären die jetzige Welt für verdorben: jetzt erst klecksen die Bürokraten das Jahrhundert voll, jetzt erst offenbart sich die himmelschreiende Ungerechtigkeit. Der eine will die Welt korrigieren, indem er den Reichen nimmt und den Armen gibt. Der andere meint, es reicht, wenn seine eigene Lebenssituation auf Kosten der anderen verbessert wird. Das nennen wir zwar böse, aber wir bewundern es immer wieder. Die Natur, meint diese auf dem Kopf stehende Theorie des Rechts des Stärkeren, ‚gab…uns doch Erfindungsgeist mit, setzte uns nackt und bloß ans Ufer diese großen Ozeans Welt: Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter.‘ Man kann alles in schöne Sätze fassen, auch das Elend der eigenen Nichtswürdigkeit.

Das Platonische Höhlengleichnis zeigt die Abhängigkeit unseres Erkenntnisvermögens von der uns umgebenden Welt. Wir können nur erkennen, was wir kennen. Das chinesische Gleichnis von der Kuh der armen Familie zeigt uns, wie wir aber auch materiell über die Dinge schwer hinausgelangen können, von denen wir derzeit abhängen. Man könnte es auch das Hartzviergleichnis nennen: Ein Weiser in China ging mit seinem Jünger übers Gebirge und sie kehrten bei einer bettelarmen Familie ein, die nur überlebte, weil sie eine einzige Kuh hatte. Als der Jünger beim Weiterwandern von seinem Mitleid bedrückt war, sagte ihm der Meister: geh zurück und stoße die Kuh den Abhang hinab. Der Jünger tat das zwar, aber es brach ihm fast das Herz. Der Meister starb, und der Jünger, nun selber Meister, ging nach vielen Jahren an den Ort zurück und fand eine reiche Familie vor.

Jeder Jammer und jede Empörung rennt also in die falsche Richtung. Jeder weiß: ‚ein schwankendes Gebäude braucht des Erdbebens nicht, um übern Haufen zu fallen‘. Gift und Galle sind nicht die Arzneien für eine kranke Welt. Und trotzdem bleibt fast jeder beim Jammer stehen. Wer in einem kalten Zimmer sitzt, heizt. Wer in einer kalten Gesellschaft sitzt, jammert.

Weder das Festhalten an der Ordnung, wozu auch die Tradition gehört, noch das übermäßige Erwarten der Freiheit führt uns zu einem Gleichgewicht, das es nicht geben kann. Um das das Zimmer warm zu halten, muss man Energie nachlegen. Um die Gesellschaft am Laufen zu halten, muss man etwas tun. Es gibt die vielleicht etwas naiv-optimistische Vorstellung, dass der Fortschritt ein Naturgesetz sei. Sie übersieht das Scheitern und das Verschwinden. Es gibt die pessimistische Idee, dass das Paradies keine Metapher ist, sondern wahr war, unsere Vorfahren die edlen Wilden. Sie überbetont das heutige Scheitern gegenüber dem vergangenen. Und es gibt die Realisten, die glauben, dass alles ein ewiger Zyklus sei. Sie übersehen den Fortschritt und das Scheitern. In den großen Geschichten und Parabeln wird uns oft ein Dualismus nicht etwa als Wirklichkeit oder gar Täuschung vorgespielt, sondern als Didaktik. An der Zweiheit sollen wir die Vielheit erkennen. Etwas Unglaubliches passierte, und Tatsache, wir können es nicht glauben. So ist es schon, seit die Menschheit denkt. Und deshalb gibt es die Geschichten, von denen die Realisten glauben, dass sie die ‚Torheit unserer Ammen und Wärterinnen‘ seien. Selbst mit den Maschinen, die unsere Erkenntnis stärken, ja substituieren wollen oder sollen, ist die Vielheit nicht erfassbar. Wir verstehen schon nicht, dass ein Mensch nicht das ist, was er zu sein vorgibt, was er in diesem Moment seines Triumphes ist, was er in diesem Moment seines Versagens ist, worin seine Botschaft besteht, wenn er eine hat, woher er kommt, wohin er geht. Selbst der liebste und nächste Mensch bleibt uns fremd, aber auch der fernste und gleichgültigste. Wir haben zweitausend Jahre gebraucht, um über einen so komplexen Begriff wie Feindesliebe auch nur nachzudenken. Sobald man ihn in den Diskurs einwirft, kommt als Echo die sogenannte Realität oder das Ammenmärchen. Die wahren Geschichten wollen wir nicht glauben oder glauben wir, abtun zu müssen, aber die abenteuerlichsten Erklärungen von ewiger Wahrheit und Weltregierung, von Geld, das die Welt regiert, vom Stärkeren, der irgendein Recht hat, von der Ordnung, die uns hindert, von der Freiheit, die uns vorenthalten wird, das alles glauben wir und saugen es auf wie einst die Muttermilch, nur um nichts tun zu müssen, um nur ja nicht über unseren Schatten springen zu müssen.

Die Geschichte von den beiden Brüdern, von denen der eine die kleine Welt ändern will, um selbst besser dazustehn, der andere aber die große Welt ändern will, um sie zu verbessern, zeigt uns, dass keiner nur böse oder nur gut ist. Man kann weder die kleine Welt noch gar die große Welt ändern, wenn man sich selbst nicht ändert. Man muss niemanden auffordern, zu nehmen, das können wir alle von selbst, man muss auch nicht hinausschreien: gib, gib, gib. Man muss geben, damit sich die Welt so langsam weiter bessert, wie sie es schon seit Jahrtausenden tut, gegen alles Jammern, aber auch nicht von allein. Wir sollten weder um ein goldenes noch um ein heiliges Kalb tanzen. Es reicht, wenn wir einander achten, uns gegenseitig helfen, etwas tun, etwas geben. Vielleicht reicht es schon, wenn wir einfach aufhören zu jammern und über uns selbst nachzugrübeln.

 

 

Alle Zitate sind aus SCHILLERs Räubern, von den Brüdern Moor.

Des Verfassers Rochusthal heißt in Wirklichkeit Moor.  

2 Gedanken zu “DER MOOR DUALISMUS

  1. Hallo Rochusthal, wie ich schon bei KV mitgeteilt habe, werde ich dein fester Leser sein. Ob das jeweils an einem Montag geschehen wird, ist noch offen. Vorläufig werde ich mich noch nicht auf die inhaltlichen Schwerpunkte konzentrieren, nicht, was meine Aufmerksamkeit, sondern, was den Kommentar betrifft. Wahrscheinlich wird es nötig sein, Rückkopplungen vorzunehmen. Danke zunächst und herzliche Grüße von Lewin.

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