DER FOKUS DES TERRORS

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Der Terror frisst viel weniger Kinder als der Hunger. Er kommt uns nur schrecklicher vor, weil der Focus auf ihn gerichtet ist, und zwar der einzige.

Religionen, Aufklärung, Kunst und Demokratie – alles soll umsonst oder sogar falsch gewesen sein, Gewalt, Hass, Terror und Krieg nehmen zu? Das kann man täglich in den Billigmedien lesen, wahrscheinlich tausende Empörungsforen im Internet posten sich den Horror zu. Auch die Verschwörungstheoretiker lassen keinen Zweifel: die Welt wird von wenigen skrupellosen Monstern beherrscht. In einer linken Zeitung stand gar: die Welt ist durchgeknallt, nur die Linken wissen den Weg. Schlechte Nachrichten lähmen scheinbar das Erinnerungsvermögen, den Überblick und das klare Denken, aber sie beflügeln den Überlebenswillen.

Es wirkt zwar zynisch, aber dennoch muss man Terror, Krieg und Gewalt immer auch arithmetisch relativieren. Zynisch ist es deshalb, weil der eigene Tod für ein Individuum nicht relativierbar ist. Wir sind uns selbst absolut. Dennoch muss man sagen: im zweiten Weltkrieg wurden vielleicht fünfzig, vielleicht sogar siebzig Millionen Menschen getötet. Ungeachtet dessen hat das zwanzigste Jahrhundert nicht nur den größten Zuwachs an Menschen, sondern auch an Lebensqualität gebracht. Der Hunger wurde zurückgedrängt, fast alle lebensbedrohlichen und endemischen Krankheiten sind besiegt worden. Nicht nur die Atombombe (1944) fand dieses Jahrhundert, sondern auch das Penicillin (1928). Man baute die Atombombe, aber sie wurde nur zweimal, ganz am Anfang, tatsächlich auch angewendet. Die nächsten fünfzig Jahre standen sich zwei hochgerüstete Blöcke gegenüber, die sich anstarrten, aber nicht bekämpften. Seit dem zweiten Weltkrieg ist der Krieg besiegt, scheidet als Mittel der Politik aus. Es gab, zum Glück, keinen nennenswerten Krieg nach diesem. Um so größer sind das Entsetzen und die Empörung darüber, dass Militaristen weiter in den Kategorien des Krieges denken, dass die Staaten aus alter Gewohnheit oder aus übriggebliebener Vorsicht Militaristen beschäftigen. Es hat Stellvertreterkriege in kleinen Ländern gegeben,  scharf kritisierte Militäreinsätze, Kriegsverbrechen – denn jeder Krieg ist ein Verbrechen – aber der Weltenbrand, der Krieg der Welten, der Untergang blieb aus. Statt dessen wird nicht beachtet, dass zum Beispiel der Vietnamkrieg, den alle Zeitzeugen ist West und Ost zurecht verurteilten, schließlich die Wehrpflicht aushöhlte, durch den Federstrich eines Präsidenten beendet wurde und eine langanhaltende Wiedergutmachung in Gang setzte. Wir behalten dabei immer den Gedanken frisch: den individuellen Tod kann man nicht relativieren.

Es ist leichter, immer wieder zu betonen, dass der zweite Weltkrieg und der Vietnamkrieg die größten Katastrophen der Menschheit waren, als zu zeigen: am Ende des zweiten Weltkrieges siegte zum ersten mal die Gewaltlosigkeit, Gandhi, und nach dem Vietnamkrieg war eine große militante Nation traumatisiert und zur Versöhnung bereit und fähig. Der Hass der Hilflosen lenkte sich auf die USA, obwohl deren Militärmacht genau so zerbröckelte wie ihre Vormachtstellung in der Welt. Immer wieder wird betont: die USA führen Kriege und es geht immer um das Öl. Wer will schon hören: Die Pazifisten haben gewonnen? Der Krieg ist besiegt?

Jede Unrechtmäßigkeit wird durch die Medien gejagt, jede Nachricht ist uns recht, um unser Vorurteil bestätigt zu sehen. Das war schon immer so, nur wird es durch die permanente Verfügbarkeit von Nachrichten maßlos unterstützt.

Andererseits sind wir aber auch hilflos, Wenn parteien, Gruppierungen, Sekten die Gewaltmittel anwenden, die wir längst abgeschafft und verurteilt haben: die Todestrafe als Abschreckung, den bewaffneten Aufstand, die territoriale Eroberung. Das sind die Spätfolgen des imperialen Wahns unserer Großeltern. Die Schlafwandler des ersten Weltkriegs holen uns in Form von islamistischen Terrorgruppen jetzt erst ein. Was Gavrilo Princip mit seinem Blechlöffel in den Putz seiner Todeszelle ritzte, jetzt wird es wahr: ‚Unsere Geister schleichen durch Wien und raunen durch die Paläste und lassen die Herren erzittern!‘, man muss nur statt Wien Welt einsetzen, was die Wiener freuen und die Welt entsetzen sollte.

 

 

2

Der Terror frisst viel weniger Kinder als der Hunger. Er kommt uns nur schrecklicher vor, weil der Focus auf ihn gerichtet ist, und zwar der einzige.

Der Hunger hat enorm abgenommen, statt der Hälfte, wie noch vor hundert Jahren, hungert nur noch ein Siebtel der Menschheit, allerdings sind das sehr viele, nämlich fast eine Milliarde Menschen, darunter sind leider sehr viele Kinder. Und der Hunger ist sicher der schlimmste individuelle Terror.

Abgenommen hat aber auch jener Terror, den der Staat gegen seine Bürger, gegen uns, richtete: Körperstrafen, Fesselungen, Folter, Hinrichtungen. Fast alle Länder der Welt verzichten inzwischen auf die Todesstrafe. Im einzigen Rechtsstaat, der noch die Todesstrafe verhängt und ausführt, sind die Gegendemonstrationen inzwischen ein so großes tatsächliches und mediales Ereignis, wie früher die Hinrichtung selbst. Allerdings gibt es noch zwei dutzend Länder, in denen der Staat tötet.

Auch in den Familien hat Terror und Streit drastisch abgenommen. Je größer der Wohlstand, desto weniger wird gemordet, wenn dazu allerdings auch die Abnahme der Strafen tritt. Ein ähnliches Paradox wie das des scheinbar sichtlich zunehmenden Terrors ist das Strafenparadox: je größer die Strafe, desto mehr Untaten gibt es, je weniger Strafen, desto weniger Untaten. Die Strafe selbst ist eine Untat. In Deutschland hat sich die Zahl der Tötungsdelikte im letzten Vierteljahrhundert halbiert. Trotzdem gibt es Ewiggestrige – vielleicht sind es auch Unbelehrbare? -, die immer wieder nach den alten Zuständen und den alten Strafen rufen.

Viel weniger Menschen müssen heute aus ihrer Heimat fliehen als in den Jahren der größten Menschheitskatastrophe, dem zweiten Weltkrieg. Obwohl es mehr als dreimal soviele Menschen wie 1945 gibt, hat das Leid nicht, wie vorausgesagt, zu-, sondern signifikant abgenommen. Auch der Geburtenzuwachs hat schneller abgenommen als angenommen, vor allem in Afrika[1]. die Lebenserwartung steigt mit der Lebensqualität.

 

 

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Der Terror frisst viel weniger Kinder als der Hunger. Er kommt uns nur schrecklicher vor, weil der Focus auf ihn gerichtet ist, und zwar der einzige.

Noch vor hundert Jahren waren mehr als die Hälfte aller Menschen, in manchen Ländern bis zu neunzig Prozent, Analphabeten. Die einzig verfügbaren Nachrichten kamen aus Jahreskalendern und regionalen Zeitungen. Da war selbst das Gerücht auf dem Markt aktueller. Eine rasante technische Entwicklung präsentiert uns jetzt Nachrichten aus aller Welt. Aber wir wollen, weil wir die Technik selbst für omnipotent halten, nicht wahrhaben, dass Nachrichten nach wie vor ausgewählt, fokussiert, gefiltert sind. Weil die Welt immer autoritär und hierarchisch war, wollen wir weiter glauben, dass da jemand ist, der sie für uns auswählt. Wir können nicht glauben, dass das, was wir glauben, von uns selbst gewählt wurde: auf demselben Markt, auf dem unserer Vorfahren ihre Gerüchte hörten, kaufen wir sie heute. Auch wenn die Schreiber selbst sich über uns lustig machen – only bad news are good news – wir beharren darauf: das, was in den Zeitungen steht und auf den Bildschirmen erscheint, ist die Welt. Die elektronische Zeitung muss richtig sein, weil sie schnell ist. Das objektiv einer Sony Kamera ist objektiv. Der Fokus ist uns die Welt. Und nicht zufällig heißen die Medien auch so: Google, Facebook, Focus, Welt, Bild, Spiegel. Gedruckt und gesendet wird, was wir hören und sehen wollen. Hören und sehen wollen, vergeht uns nie. Seit wir keinen Hunger mehr haben, können wir nicht genug vom Elend anderer hören und sehen. Wer würde auf eine Linke hören, die verkündete, der Kapitalismus hat die wesentlichen Probleme der Menschheit gelöst. Wer würde auf eine Rechte hören, die keinen sichtbaren Feind und Schuldigen hätte? Wer folgte Volksparteien, die nicht einfache greifbare allgemeinverständliche Lösungen in Wahlprogrammen anböten? Wer möchte in einer Diktatur leben, die nicht für alles eine Lösung hätte: den allwissenden, aber jedenfalls allmächtigen Diktator? Die letze Option ist heute glücklicherweise seltener gefragt.

Niemand will hören: die Nachricht stammt vom Markt mit Angebot und Nachfrage, nicht aus der Küche der Wahrheit. Probleme kann man nicht lösen, ohne dass neue entstehen. Die Welt ist genausowenig optimierbar wie der Markt oder die Liebe oder die Küche. Die Natur ist nicht beherrschbar, zum Glück, wie wir erst seit kurzem wissen könnten. Allein die Wörter ‚Herr‘ oder ‚Feind‘ haben mehr Schaden angerichtet als ein Tsunami.  Niemand will es sehen und hören, niemand will es wissen. Wir folgen lieber Hoaxes und Gerüchten vom Gemüsemarkt.

[1] Die Gesamtfruchbarkeitsquote ist von 6,7 (bei einer Lebenserwartung von 45 Jahren) auf 4,7 (59) gesunken. dadurch wächst zwar die Bevölkerung bis zum Jahr 2050, nicht aber die Quote [Stiftung Weltbevölkerung]

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