Nr. 164
1
Da draußen läuft die Echtzeit weiter und hier drinnen tanzt die Phantasie ihren letzten Tango. Wir schreiben auf, was wirklich im Innersten passiert, nicht was da draußen abläuft. Da draußen fährt schwatzend die Landschaft vorbei. Aber wir hier drinnen bleiben für immer stumm und stehen. Ich war schon als kleiner Junge turbulent. Ich rannte durch Karlsbad, mein Vater war von mir entsetzt. Jetzt wäre er auch entsetzt. Er würde sagen, es zeugt von schlechten Manieren, wie hier mit Menschen umgesprungen wird. Und er würde sagen, siehst du, Walter, jetzt ist die ganze Welt so schnell wie du als kleiner Junge warst. Aber sie ist auch schnell am Ende. Man kann nichts mehr aufschreiben, teils wegen der Geschwindigkeit, teils wegen der Trauer, teils wegen des Bleistiftmangels. Als ich eines Tages auf dem Cottbuser Friedhof wahrnahm, dass Trauer nur das Bestreben ist, sich zu verbergen, beschloss ich, nurmehr Postkarten zu schreiben. Aber selbst wenn man immer einen Bleistift mithätte, wer wollte lesen, was wir jetzt noch schrieben? Wenn wir in einem Wald verscharrt sind – wenn überhaupt! -, wird niemand mehr etwas von uns wissen oder wissen wollen. Uns wird man noch nicht einmal vergessen, wird sind einfach weg. Aber selbst wenn wir es nach Shanghai geschafft hätten, auch dort hätte niemand auf uns gewartet und niemand hätte uns verstanden. Jeder hat sich immer noch zuviel geglaubt, nicht nur zuviel vorgenommen oder zu weit gegangen oder zu weit gefahren. Ich weiß immer noch nicht, was wichtiger ist: der Anfang oder das Ende. Wer nichts beendet, kann nichts anfangen, auch nicht mit sich. Wer nichts beginnt, kann nicht fertig werden, auch nicht mit sich. Ein Dilemma jagt das andere. Dazu braucht es keinen Wolf. Wenn dann noch ein Wolf hinzukommt, braucht man kein Dilemma mehr. Wenn ohnehin alles zum Verzweifeln ist, muss man nicht auch noch sterben. Dann wäre das Leben Strafe genug. Mancher hat sich diesen Kinderglauben bewahrt: tust du Gutes, wirst du bestraft, tust du Böses, belohnt dich am Ende wer. Wer? Ach, wenn sie wenigstens Kinder geblieben wären, die mit dem Kinderglauben. Statt dessen wurden sie Henker oder Opfer. Das sind beides keine wünschenswerten Berufe. Auch Lokomotivführer zu sein, war früher schöner. Früher war alles besser, nur die Vergangenheit nicht.
2
Ich habe mich taufen lassen. Ich habe Kriminalromane geschrieben. Es hat mir alles nichts genützt. Ich musste sterben. Aber wie oft? Aber wie? Aber warum du, Dorotea? Du hattest recht, es war gut, dass wir noch geheiratet haben, denn wenn nicht, säßen wir jetzt in verschiedenen Güterwaggons, wahrscheinlich sogar in verschiedenen Güterzügen. Aber das Ziel wäre das gleiche. Ob man daran glaubt oder nicht, zum Schluss ist man wieder mit denen zusammen, die man von Anfang an kannte. Ob sie für die Güterzüge auch Fahrpläne haben? Güterzug G1234 von Theresienstadt nach Unterwelt, mit der Reichsbahnfähre über den Fluss Lethe, gezeichnet Reichsbahnrat Charon. Als Berufsbezeichnung tragen die Lokomotivführer jetzt ein: Henker. Auch einem Lokomotivführer fällt es jährlich wenigstens einmal ein, dass seine Beziehungen zur Lokomotive nicht zwingend sind. Und ich verstehe nicht, warum sie uns tausend Kilometer spazieren fahren. In Theresienstadt sind schon so viele Menschen gestorben, da wäre es auf uns paar gar nicht angekommen. Vielleicht verdanken wir den ganzen Schlamassel dem Gavrilo Princip, der auch schon in Theresienstadt gestorben ist. Vielleicht wollte er etwas Gutes. Aber man kann nichts wirklich etwas Gutes wollen und gleichzeitig etwas Böses tun. Ich schlage dich, weil ich dich liebe. Nagut, das ist vielleicht die Ausnahme. Ich töte dich, weil ich gegen das Töten bin oder weil ich das Töten beenden will. Ich habe auch nicht verstanden, warum Hitler mich beseitigen will: ich gehe in keine Synagoge, ich rufe niemanden zur Weltrevolution. Die hier in diesem Waggon um den Luftschlitz versammelt sind, wollten alle keine Weltrevolution, sondern Sonntagskaffee. Sonntagskaffee ist weder katholisch noch jüdisch, weder kommunistisch noch nationalsozialistisch, auch nicht protestantisch oder anglikanisch, er ist einfach Sonntagskaffee. Europa will seinen Sonntagskaffee. Europa will keinen Hitler in seinen Blutbädern. Ich kann das beurteilen, denn ich bin aus Karlsbad. Nach Karlsbad wollten sie früher alle. Jetzt müssen alle dort weg.
3
Wir haben die goldenen zwanziger Jahre durchgealbert, um die braunen dreißiger Jahre zu überfliegen. Aber daraus wurde nichts. Du siehst, Dorotea, das Licht am Ende des Tunnels ist die Beerdigungskerze. Ich wollte nie ein Jude sein, und nun wird mir auch kein Kaddish gesungen. Wir hätten nicht nur nach Shanghai, wir hätten auch gut nach Amerika gepasst. Es war immer noch genug Geld da. In Amerika kann man auch als Tellerwäscher anfangen und gleich darauf sitzt man in einer Villa in Beverley Hills und telephoniert mit Chaplin und Thomas Mann. Der hat sogar mein Manifest gelesen, war selber in der Stimmung in dem Jahr. Und weißt du, Dorotea, was man nicht ertelephonieren kann, lasse ich im Wege der Entwendung an mich bringen. Den Satz werden spätere Geschlechter zitieren bis sie schwarz werden. Braun sind sie ja schon. Die Seele ist kein Brückengeländer. Das merkt man erst, wenn das ganze Leben in so einem Waggon stattfindet. Meine sehr verehrten Damen und Herren Juden und Christen und Dadaisten, wickeln Sie alle ihre Geschäfte, die großen und die kleinen, hier in diesem Waggon der Deutschen Reichsbahn ab. Zum Lohn bringen wir Sie an das Ende der Welt oder an das Ende Ihres Lebens, was für Sie das gleiche ist. Weißt du noch, Dorotea, wie ich schrieb, dass um einen Feuerball eine Kotkugel rast? Man soll so etwas nicht schreiben, es verwirklicht sich zu gerne. Es stinkt hier. Es stinkt mir. Ich will dir sagen, was ich denke, ich will dir sagen, was ich fühle: vielleicht gibt es doch noch einen Ausweg. Stell dir vor, der Zug endet in einem Wald, wir torkeln alle über den feuchten bemoosten Waldboden. Preiselbeeren küssen uns die Füße. Der Duft des Sommers betört und verstört und erhört uns, aber eben nicht nur uns, die Opfer, sondern auch sie, die Henker. Die Henker vergessen zu schießen oder was sie sonst machen sollten oder wollten. Sie vergessen es. Sie vergessen uns. Sie vergessen sich. Es begegnet ihnen vielleicht eine blonde Maid aus ihren Märchenbüchern. Die Gegend wär danach, Dorotea. Dorotea, fass dir ein Herz, sieh einmal durch den Schlitz, ob wir schon da sind, in dem Wald, von dem ich träume. Was man nicht erschießen kann, soll man verschweigen oder laufen lassen. Und dann laufen wir und laufen bis ans Ende der Welt, der Welt, der Welt und nicht des Lebens. Abschied kann man nicht nehmen. Den Abschied bekommt man hinterhergeworfen.
Walter Serner (1889-1942), eigentlich Seligmann, war ein deutscher Dadaist und Schriftsteller. Sein dadaistisches Manifest ‚Letzte Lockerung‘ von 1919 (aus dem die kursiv gedruckten Zitate sind) ist ein Brevier für Zyniker. Er wurde im Wald von Biķernieki bei Riga mit tausend anderen Menschen von der SS erschossen. Das Literaturhaus Berlin und der Rundfunk BerlinBrandenburg rbb vergeben zum Gedenken an ihn den Walter Serner Preis, der 2015 zu gleichen Teilen an Ulrike Syha und mich ging. Die Preisverleihung ist am Freitag, dem 11. Dezember 2015, um 20.00 Uhr im Roten Salon der Volksbühne Berlin. Am selben Tag wird um 16.00 Uhr ein Interview mit mir gesendet, am nächsten Tag gibt es um 19.04 Uhr im Kulturradio vom rbb einen Mitschnitt der Preisverleihung, ich lese da gekürzt die preisgekrönte Geschichte OSMANS NEUNZEHNTES PROBLEM.