ODER DER KÄFIG DER VORURTEILE
Nr. 150
Wenn es eine Frage an den Wanderer sein soll, was da an einem ‚Haus der Mission‘ geschrieben steht, warum nämlich Fledermäuse und Eremitenkäfer, die nach Juchtenleder riechen, mehr Schutz als Flüchtlinge und verfolgte Christen genießen oder benötigen, dann könnte der Wanderer es sich so leicht machen wie der Frager: Fledermäuse sind sozialer als Christen, würde er sagen. Wenn Fledermäuse Christen wären, würden sie ihre energetischen Cluster als ökumenische bezeichnen. Sie tun nämlich das, wovon Christen und alle anderen Menschen im besten Fall träumen: sie nutzen die Energie, die sie selbst erzeugen, für alle Mitglieder ihrer Gemeinschaft und für alle Nachbargemeinden. Vielleicht glaubt der Frager aber auch, es gäbe eine Weltregierung, die auf der einen Seite Christen verfolgt, auf der anderen Seite aber Fledermäuse schützt. Es ist leicht eine Behauptung oder eine Schuldzuweisung in die Welt zu setzen. Die größte Gefahr, in die wir uns begeben können, ist die Selbstgerechtigkeit. Es gibt keine Weltregierung, an die man sich mit seiner Empörung wenden kann. Wahrscheinlich ist es sogar so: wer Fledermäuse schützt, verfolgt keine Christen, wer aber Christen verfolgt, schützt auch keine Fledermäuse.
Die Frage, ob Christen wertvoller sind als Fledermäuse, ist die entweder-oder-Frage nach einer hierarchischen oder vernetzten Welt. Fledermäuse gehen von einer allgemeinen Vernetzung aus. Ihr Kommunikationssystem, ein hochfrequentes Echolot, wurde übrigens erst zum gleichen Zeitpunkt erkannt wie die Verschlüsselung der deutschen Wehrmachtssprache, die hocheffektive Enigmamaschine, die der Höhe- und gleichzeitig Endpunkt aller Hierarchien war. Der Neunazi glaubt heute noch, dass sein Hartzvier gekürzt wird, wenn ein Flüchtling ankommt, und er hält sich für wertvoller. Der Mensch schafft sich eine hierarchische Ordnung und glaubt dann mehr an sie als an Gott. Die Wahnvorstellung von geborenen Alphatieren und permanenten Verlierern ist bis in die Biologie hinein projiziert worden, was uns immer wieder zeigt, dass auch Wissenschaft nichts als Metapher oder vergegenständlichte Parabel ist. Wie würde sich denn die Seligpreisung eines geistlich Armen mit einer vorgegebenen Hierarchie vertragen? Das hat schon Pontius Pilatus erkannt und gleichzeitig vor der Selbstgerechtigkeit gewarnt (1). Er glaubte das sagen zu können, da er hierarchisch über Jesus stand. Jesus dagegen bestand wie schon der König Salomo darauf, dass es keine Hierarchie gäbe.
Die Idealvorstellung des wahren Christen ist nichts als das Paradigma eines guten Menschen. Die Welt kann nur besser werden, wenn jeder einzelne bei sich anfängt, sie zu verbessern. Davon gehen alle Religionen und Philosophien aus. Die Wissenschaft hat das mehr und mehr bestätigt. So ist die Lehre von der Evolution, die von vielen fundamentalistischen Gläubigen so vehement bekämpft wird, doch nichts anderes als die Lehre von der gegenseitigen historischen und synchronen Abhängigkeit aller Wesen der Schöpfung. Das stellt man sich praktischerweise in einem Biotop vor, das ein gedachtes Areal, keinesfalls jedoch ein Käfig ist. Alle Mauern brechen, auch das steht schon in der Bibel(2). Und Asyl meint ‚unberaubt‘, also in Sicherheit gebracht, nicht aber in einen neuen Käfig, in dem man wieder der Freiheit beraubt wird. Der neben dem Schild aufgestellte Käfig, der das Kirchenasyl darstellen soll, das sein Erbauer über den Schutz der Schöpfung stellen will, zeigt tatsächlich den Käfig der Vorurteile, aus dem wir nur schwer herauskommen. Statt nicht durchdachte Poster gegen Käfer aufzustellen, sollten wir lieber das Tal, in dem sich tiefer Glauben mit bester Wissenschaft paarte, unter den Schutz unseres Gedenkens und unserer Gedanken stellen: das Neandertal.
Der vielleicht berühmteste Satz von Jesus sagt genau dieses: nur wer selbst alles richtig machte, könnte einen anderen bezichtigen oder gar bestrafen, aber einen solchen Menschen gibt es nicht, demzufolge gehen alle in dieser Geschichte, weil sie sich dem Charisma und der Evidenz des Jesus nicht entziehen können, betroffen aus dem Raum(3).
Genauso verhält es sich mit der so genannten Wahrheit, die sich aus der Warumfrage ergeben soll. Schiller hat wunderbar beschrieben, dass man, um die Frage zu beantworten, warum sich alle, die sich in einem Raum befinden, in diesem Raum befinden, im Besitz aller Fakten und Zusammenhänge der gesamten Weltgeschichte sein müsste. (4) Wer das behauptet, maßt sich göttliche Eigenschaften bei gleichzeitiger vollständiger Inkompetenz an. Daraus folgt, dass es eine Wahrheit nicht geben kann und wir bestenfalls der höchst fragilen oder ätherischen Glaubwürdigkeit folgen. Meist folgen wir aber unseren dumpfen handfesten Vorurteilen, die besagen, dass unsere Eltern mehr recht haben als die Eltern der anderen. Und damit würden wir vor den Erkenntnisstand Nathans des Weisen zurückgehen, der uns zwar erlaubt, unseren Eltern zu folgen, nicht aber anzunehmen, dass unser Nachbar das nicht auch tun dürfte. In der etwas konstruierten Geschichte vom Nathan – aber sind nicht alle Geschichten konstruiert? – zeigt sich, dass wir alle verwandt sind, so wie es auch in der Bibel steht und von dem Nachbarn Lessings, dem evangelischen Pfarrer Johann Peter Süßmilch, in den Beginn einer Wissenschaft von der Demografie gegossen wurde. Hinter diesen Erkenntnisstand will der Juchtenkäfer- und Fledermaushasser zurückgehen? Oder hasst er die Naturschützer, die Bewahrer der Schöpfung? Er will also hinter die Mülltrennung zurückgehen? Oder meint er sogar, dass seine Wahrheit wichtiger und richtiger sei als die Wahrheiten seiner Nachbarn und geht er damit hinter die Kreuzzüge zurück, die Lessing als den Hintergrund seiner hintergründigen Parabel wählte? Ganz falsch ist es auch, hinter Kafka zurückzugehen, der sich und uns vorgestellt hat, ein Mensch, der sich ganz gefangen fühlt in seiner Arbeit und seiner Familie, würde in einen Käfer verwandelt werden. Es wäre schwer, weil er nun ein Gefangener seiner vermeintlichen Unfähigkeit wäre. Es wäre für einen Käfer auch schwer, in einen Menschen verwandelt zu werden. Deshalb hat uns die Evolution die Empathie mit auf den Weg gegeben. Man kann sie nicht durch bornierte Emphase auf Plakaten ersetzen. Immer wieder muss man sich in die Wesen, die Hilfe brauchen, einfühlen. Gerade einige sehr prominente Christen haben sich zurecht dafür eingesetzt: Jesus, Franziskus von Assisi, Antonius von Padua, auf den sogar die Fische hörten, Albert Schweitzer mit seiner leider vergessenen Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben. Darin steht: es gibt kein Ranking für Hilfe.
Bevor man etwas an sein Haus schreibt, sollte man darüber nachdenken. Vorurteile und Selbstgerechtigkeit sind wenig hilfreich. Wenn ich etwas an mein Haus schreiben wollte, so wäre es: GEHE ZUR AMEISE, FAULER, SIEHE IHRE WEISE UND LERNE.(5) Aber ich glaube nicht, dass man seine Gesinnung an sein Haus oder sein Auto schreiben oder malen muss. Man soll lieber so handeln, dass die anderen uns als Menschen erkennen, der anderen hilft, der aber auch Hilfe braucht, der sozial wie die Fledermaus und einsam wie der Juchtenkäfer sein kann, aber lernt.
(1) Johannes 19,10ff. (2) Josua 6,20 (3) Johannes 8,7 (4) Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte? (5) Sprüche Salomos 6,6
Kein Gedanke, dass ich den Kontakt abreißen lassen wollte. Ich folge … und werde jetzt hoffentlich keinen neuen Eintrag mehr von Dir verpassen.
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