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ES KANN NUR GUT WERDEN IN DER WELT DURCH DIE GUTEN

Nr. 161

Manifest der Mutmacher

Die etwas verquere Grammatik passt zu ihr, die man sich verspielt vorstellen muss und sexy, aber doch auch ernst. In den schönsten Lichtblicken ihres wirklich exzellenten Lebens sagte oder schrieb  sie wunderbare Sätze. Sie liebte Schiller und wollte ihn nach Berlin holen, sie verehrte Pestalozzi   und gründete einen Kindergarten in ihrem Fluchtort Tilsit, sie sprach tagelang mit Kanzler Hardenberg über Politik, ihr Lieblingsdichter war Kleist aus der Familie der Generäle, und sie traf Napoleon, um    ihn, angeblich, um bessere Bedingungen für ihr Volk zu bitten. Als sie siebzehn war, griff sie im Lotto des Lebens einen Volltreffer, sie bekam einen guten, wenn auch etwas verschlossenen Mann, den preußischen Kronprinzen, ihre Lieblingsschwester dessen Lieblingsbruder. Nach einer wunderbaren Liebe mit zehn Kindern, von denen zwei Könige und zwei Kaiser wurden, starb sie mit 34 Jahren in Hohenzieritz im Sommerschloss ihres Vaters, des Großherzogs von Mecklenburg, und in den Armen und im Angesicht ihres Mannes, des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., und ihrer Söhne Friedrich Wilhelm, des späteren IV., und Wilhelm, des späteren I.

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Es ist die alte Frage, ob es böse Menschen und das Böse in physischer Gestalt gibt. Die Kunst führt uns die Bösewichter vor: Franz Moor aus Schillers ‚Räubern‘ oder Jago aus Shakespeares ‚Othello‘, die Schurken, die Ungeheuer, die deformierten kaputten Seelen, jeder glaubt einen zu kennen. Seit altersher gibt es auch die Vorstellung vom Sündenbock, der die Last des Unglücks zu tragen hat, paarig und komplementär dazu das unschuldige Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt. Das zeigt doch nur, wie eng wir einst mit den Schafen gelebt haben, obwohl sie nicht die ersten Tiere waren, die wir uns dienstbar gemacht, ohne unser Verhältnis insgesamt verbessert oder auch nur geregelt zu haben. Der Wolf, der ein Schaf frisst, soll böser sein als Eichmann oder soll Eichmann berechtigter böse sein als der böse Wolf? Der Wolf ist also nur eine Projektion des Bösen.

Auch die Strafe ist eine Projektion des Bösen. Der Gedanke von der spiegelnden Kraft der Rache und von der Herstellung der Gerechtigkeit durch die angeblich einfache Beseitigung des physisch vorgestellten Bösen ist in uns Menschen tief verankert, vielleicht durch das Leben in der Steinzeitherde, vielleicht durch das Leben als kleines hilfloses Schaf in den Armen unserer armen Eltern, und je nach Bildung und Herkunft drängt es immer wieder zur Ausführung.

Das ist die eine Seite: das Böse scheint zu existieren und Rache und Strafe würden dann Sinn machen.

Die andere Seite aber ist: dass die Welt sich gebessert hat seit Abrahams/Ibrahims Tagen oder seit dem Zeitalter der Kreuzigungen und Pfählungen und seit dem dreißigjährigen Krieg, das sieht selbst der Kurzsichtigste. Zwar gibt es noch Länder, in denen selbst ernannte Richter überlegen, wieviele Menschen in dieser Woche zu erschießen sind oder ob der Delinquent erst enthauptet und dann gekreuzigt wird, aber das sind die absoluten Ausnahmen. Die meisten Länder der Welt haben auf diese wahrhaft vorsintflutliche Art der Rache und Strafe längst und mit großem Erfolg verzichtet. Der Hunger ist auf weniger als ein Siebtel der Menschen zurückgedrängt, die meisten bösen Krankheiten sind besiegt, es gibt keinen Krieg mehr. Bürgerkriege wird es noch solange geben, wie die Demokratie einer Minderheit von Menschen als Schwäche erscheint. Um sich die Winzigkeit dieser Minderheit vorstellen zu können, muss man die Zahl der Pegidademonstranten, 15.000, zu allen Dresdenern, 500.000, und zur deutschen Gesamtbevölkerung, 80.000.000, ins Verhältnis setzen, sowie die Zahl der Menschen, die in Diktaturen involviert sind, vielleicht ein bis zwei Millionen, zur Weltbevölkerung, nämlich sieben Milliarden, also 2.000.000:7.000.000.000. Das Böse ist also deutlich zurückgedrängt, selbst wenn man den Hunger, den Krieg und die Flucht dazurechnet.

Warum werden dann aber immer noch die Menschen, die sich im großen oder im kleinen um das Gute bemühen, denunziert, lächerlich gemacht? Als einen gewissen Gipfel dieser merkwürdigen Entwicklung kann man die Aufnahme des Wortes Gutmenschen in den Kanon der Pejorative ansehen. Die das tun, sehen sich als Realisten. Aber weder Jesus noch Michelangelo noch Turing waren Realisten. Im Alltag braucht man einen gewissen Realitätssinn, aber selbst der wird am Abend zugunsten des Zaubers oder des Gifts abgeschaltet. Aber der Weg aus der Höhle und dem Hunger wurde gewiss nicht von Realisten angeführt.

Vielmehr ist das Böse offensichtlich nicht physisch vorhanden. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Summe aller falschen Entscheidungen sowohl eines einzelnen Menschen als auch aller Menschen in der Geschichte. Das ist sicher ein riesengroßer Berg böser Taten, Gedanken und Wünsche, aber er ist umgeben von den wunderschönen Tälern des Fortschritts und der Barmherzigkeit. In der modernen Barmherzigkeit, dem Sozialstaat, haben sich sogar Aufklärung, also Verstand, und Romantik, also Schwärmerei, vereinigt: obwohl Wucher und Waffenexport fortexistieren, gibt es schon große weltumspannende hunger- und fast sorgenfreie Zonen.

Andererseits gibt es keinen Sinn des Lebens, der sich auf einen einzelnen Menschen selbst bezöge. Alle Religionen und Philosophien, alle denkenden Menschen sind sich ziemlich sicher und einig: das Leben bezieht sich immer auf andere. Das gilt für die Herkunft, man schleppt seine Eltern und Voreltern mit sich herum, ob man es will oder nicht, selbst dann, wenn man sich gelöst und alle Tradition verflucht und verworfen hat. Erst besitzen uns die Eltern, dann sind wir von ihnen besessen. Das gilt für die Zukunft: was du auch tust, es gilt immer auch anderen. Deine Schulden bezahlen andere, deinen Gewinn können sich deine Kinder untereinander aufteilen.

Deshalb bringt es nichts, jemanden, was immer er auch vorhat, zu entmutigen. Erörtern darf niemals entmutigen heißen. Seit wir Mut nicht mehr in einem kämpferischen oder gar kriegerischen Sinne verstehen müssen, können wir ihn ganz heiter als eine vorwärtsgewandte Zuversicht sehen. Über die Wege eines Menschen kann sich wie Nebel und Schnee die Decke der Vorurteile und bösen Erinnerungen legen. Aber am Wegrand kann und wird immer auch ein freundlicher Mensch auftauchen. Wir müssen nur offen genug für ihn sein.

Wer also einen anderen Menschen als Gutmensch zu beschimpfen und sich dabei als einen Realisten glaubt, weiß nicht, wie recht er hat und tut: denn der Gutmensch ohne Anführungszeichen (auch so eine Unsitte) wird sich durch dieses Gerede aus der dunklen Vergangenheit ermutigt fühlen*, weiß er doch, dass der nächste, den er sehen wird, der Nächste sein kann oder wird, den er liebt und der ihn liebt. Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten.

* The robbed that smiles steals something from the thief. Shakespeare, Othello I,3