DER AUTISTISCHE SPIEGEL

oder

SPIEGLEIN SPIEGLEIN IN DER HAND

Nr. 360

Einer etwas orientierungslos gewordenen Menschheit scheint ein universelles Spielzeug in die Hand gegeben zu sein, das gleichzeitig global und intim, allwissend und omnipotent ist.

Die Befriedigung der Grundbedürfnisse ist an eine allgemeine Versorgung delegiert, die auch in der sogenannten dritten Welt im allgemeinen funktioniert. Nur noch ein siebtel der Menschen hungert, und auch das liegt nicht an – einem früher normalen – Nahrungsmangel, sondern an Bürgerkrieg, Korruption oder Willkür der Behörden. Freiheit ist ein schönes Ziel und ein schöner Zustand, aber sie erhöht nicht die Sicherheit. Vielleicht sind diese beiden tiefsten Grundwünsche in die menschliche Seele eingehaucht: Freiheit und Ordnung. Aber sie schließen sich in gewisser Weise auch aus. Durch Recht wird nichts richtig oder gerecht. Ein weiterer Destruktionsfaktor ist die Mobilität. Die Fremde ist konkret geworden und für eine deutliche Mehrheit von der Metapher zum wirklichen Ort mutiert. Die Welt wird zwar nicht schöner, wenn man an einem eng begrenzten Ort bleibt, aber durch Reisen oder Flucht erhöht sich jedes Risiko.

Das Zeitalter der Industrialisierung drängte, ohne dass es vorher erkannt werden konnte, auf die Individualität. Der Mensch sollte und wollte sich aus seiner Gruppe lösen können. Noch heute kann man in einer Kleinstadt nachvollziehen, wie kontrolliert das Leben in früherer, durchgehend kleinstädtisch geprägter Zeit gewesen sein kann. Je unabhängiger der Mensch von seinen materiellen Bedürfnissen wurde, je mehr sich sein Bildungshorizont weitete, desto mehr konnte er sich einkapseln. Hinzu kommt die fast ungeheure, vor hundert Jahren unvorstellbare Zunahme an Wohnraum und Freizeit. Seit Walter Benjamins berühmtem Buch beobachten wir die Wirkung der Reproduktionsfähigkeit der Kunst, der Texte und vor allem der Bilder auf uns.

Und nun sind alle Geschichten und Drogen in ein kleines rechteckiges Gerät gewandert, das man bequem in der Hosen- oder Handtasche tragen kann, das manche gar nicht mehr aus der Hand legen wollen. Was früher Monolog oder Selbstgespräch war, ist jetzt ein Dialog mit sich selbst, denn man kann sich antworten.  Sicher, manche Menschen spielen nur damit, nur dass in diesem ‚Nur‘ die größte Arroganz liegt, in die man sich sich selbst gegenüber versetzen kann. Wo gibt es bedeutenderen Dialog als im Schach-, Fußball- oder Theaterspiel? Spiel ist ein Dialogkonzentrat.

Aber so wie der Computer nicht die erweiterte Schreibmaschine war und ist, so ist auch das smartphone nicht nur ein Spiegel. Man kann sich löschen, man kann sich manipulieren, man kann sich bearbeiten. Das alles kann man in der so genannten Realität auch, aber dort dauert es seine Zeit, manchmal ein Leben lang. Hier aber, in unserem kleinen Taschenautomaten, kann das alles im Sekundentakt geschehen. Dazu kann man Lexika und Foren befragen, Experten und Schamanen. Über die Echokammern, die in Gruppen entstehen, die sofort entstehen, wenn man nur ein Wort veröffentlicht, ist schon viel gesagt worden. Die verheerende Wirkung dieser Art von Freiheit ist wesentlich bedrückender als alles, was früher eine Zensur anrichten konnte.

Deshalb muss in den Elternhäusern, Kirchen, Clubs und Schulen nicht mehr nur das kleine Einmaleins gelehrt werden, nicht das Konsumieren, sondern das Produzieren. Unsere Welt gleicht einer großen Mall, in der Waren und Geld rotieren, aber der Sinn verlorenging. Niemand braucht ihn. Wir schalten statt dessen irgendein Gerät an, das uns bedudeln und behudeln kann und wird. Am schädlichsten wird wohl, wegen seiner Komplexität, das Fernsehen bleiben, dicht gefolgt vom smartphone.

Vor Jahrhunderten gaben unsere Ahnen ihren Häusern Namen und Sprüche mit auf den Weg, denn jedes Haus ist immer im Fluss. Aber dieser Name und dieser Spruch war doch kein Kennzeichen der Individualisierung, sondern zu jedem Haus gehörte aktuell eine große Gruppe Menschen, die durch Familie, Handwerk und Dienstleistung miteinander verbunden war. Zudem standen die Häuser einige Jahrhunderte, so dass die Gruppe auch historisch wuchs. Auf der anderen Seite erstarkt das Zusammenwachsen, von uns euphemistisch Globalisierung genannt. Zwar wächst der Wohlstand der Welt kontinuierlich, aber – für die ärmere Seite – zu langsam. Deshalb erscheint die Globalisierung eher als Bedrohung und Verrohung statt als Chance. Jeder will sich die Rosinen herauspicken, ohne den Gesamtkuchen zu beachten. Kuchen schafft nicht nur eine Schokoladenseite, sondern auch eine verwüstete Küche.

Sollte das smartphone der neue Talisman werden, so sollten wird darauf achten, dass er uns zu neuen Inhalten führt, nicht nur zu neuen Orten. Lasst uns aus Schlürfern und Surfern wieder Tüftler werden, nicht vom Welterfolg träumen, sondern vom Erfolg für unser offenes Haus.

BELOVED LOSERS

Nr. 352

Wenngleich viele Menschen harmoniesüchtig sind, so betonen sie doch die Verschiedenheit in der Person, in der Sache, in der Herkunft. Ich frage mich deshalb, ob wir nicht bedeutend stärker sein könnten, wenn wir den Konsens betonten. Statt dessen vergeuden wir unsere Kraft im Dissens. Der Dissens geht wahrscheinlich oft aus der Differenz hervor, die niemand leugnen wird. Die Frage ist nur jeweils, wie stark die Differenzen sind und welche Kraft sie entwickeln können. Unüberbrückbar scheinende Differenzen entspringen oft dem Vorurteil. Segregation und Hierarchie werden als Naturgesetze hingestellt, so dass ihnen nicht zu entkommen sei. Man könnte also sagen, dass die ahistorische Sicht den Dissens gebiert. Die menschliche Welt ist nicht synchron, aber immer historisch, asynchron ist nicht identisch mit ahistorisch.

Geschichte verläuft also nicht linear, sondern, wie wir schon oft betont haben, sinusförmig. Die Menschheit begann vielleicht im heutigen Kenia sich bipedisch fortzubewegen, aber das heißt nicht, dass sie in Kenia heute am weitesten ist. Das heißt eigentlich nichts. Nur merkwürdig ist eben, dass ein Vorurteil geschaffen wurde, das Entwicklung und Geschichte nicht nur umkehrte, sondern daraus auch die Bedeutung des europäischen Menschen ableitete. Selbst die Darstellung von Yesus als blondem, blauäugigem, hellhäutigem Menschen ist dieser reziproken Sicht geschuldet. Am schlimmsten ist es wohl, dass nicht nur die selbst ernannte Oberschicht diese Umkehrung glaubt, weil sie sie glauben will, sondern auch die verdammte Unterschicht, weil sie sie glauben muss. Allenfalls gibt es einen zeitweiligen Adel des Geistes oder einen Adel des Herzens.

Wer jetzt allerdings moralische Aufrufe, die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen, erwartet, wird sich getäuscht finden. Die Welt dreht sich von allein. Alle Vorstellungen von einem Demiurgen sind anthropomorph. Sie stellen sich also einen Menschen als Lenker der Menschen vor, einen entrückten Menschen, einen gestorbenen und wieder auferstandenen Menschen, einen Menschenmenschen, aber eben einen Menschen. So wie es aber keine Triebkraft der Evolution gibt, denn Evolution ist ja nicht der Prozess, sondern seine Beschreibung, so gibt es auch keinen Antreiber der Menschen. Der Prozess der Evolution oder des menschlichen Lebens ist die Akkumulation und das Miteinander tausender und abertausender Teilprozesse. Das wahre Wunder ist der Konsens, nicht seine Beschreibung.

Wir wissen nicht, welche Musik Emil Berliner bevorzugte, ob er überhaupt Musik liebte. Vielleicht liebte er, dem Vorurteil entsprechend, nur das Geld. Vielleicht hat er über seine Erfindung gar nicht nachgedacht, sondern sie nur ausgeführt, weil seine Frau ihm die Ausführung nicht zugetraut hat? Es ist über Emil Berliner und seine Brüder sträflich wenig bekannt, was auch mit der Atemlosigkeit der darauffolgenden Entwicklungen zu tun haben kann, aber es steht fest, dass sie die Welt in einen nie dagewesenen Schwung versetzte. Die Schallplatte hat gleichzeitig die zeitliche und räumliche Reproduzierbarkeit von Sprache und Musik ermöglicht. Das gleiche Musikstück in der nämlichen Interpretation konnte jetzt an jedem Ort und in jeder Zeit außer der Vergangenheit aufgeführt werden. Daraus sind vielleicht die falschen Gedanken der Identität und der Gleichzeitigkeit entstanden. Wenn ein Streichquartett spielt und gespielt wird und im Nebenraum die Aufnahme des gleichen Streichquartetts erklingt, so ist das weder wirklich gleichzeitig noch identisch. Wer das nicht glaubt, höre sich György Ligetis legendäre Komposition – Poéme Symphonique – mit den 100 Metronomen an.

Ungeachtet der Absichten der Erfinder stellt sich die Erfindung in eine komplexe Welt und macht sie noch komplexer, so komplex, dass wir ihr nicht mehr folgen können, obwohl wir mitten in ihr leben. Wir essen auch die Brötchen eines Bäckers, der bäckt, nicht damit wir, sondern auf dass er satt werde. Geschichte ist immer paradox, reziprok oder dilemmatisch, sinusartig, jedoch selten linear.

Aus der ständigen Anwesenheit von Geschichten ergab sich jedenfalls, dass wir die Ursachen gegenwärtigen Geschehens in gegenwärtigen Geschichten statt in Tatsachen suchen. Vielmehr haben wir erkannt oder glauben wir erkannt zu haben, dass es so gesehen gar keine Tatsachen, sondern nur ihre Interpretationen gibt. History und story waren früher zeitlich und räumlich getrennt. Die alten Israeliten glaubten die Gründungsgeschichte ihres Volkes und Staatswesens in des Hirtenjungen Davids Sieg über den Giganten Goliath. Aber das war lange her. Heute dagegen glauben wir nicht, dass ein böser Bube unsere Fensterscheiben eingeworfen hat, sondern wir nehmen lieber an, dass der Hausbesitzer einen noch böseren Buben angeheuert hat, der uns die Fensterscheiben einwirft, damit er die Miete erhöhen und/oder uns hinausekeln kann. Wir glauben sogar lieber Mythen als der Geschichte, weil die Geschichte weniger greifbar ist, als es die Mythen sind. Wir sehen in jeder Grippe eine biologische Waffe, so wenig logisch das auch sein mag, in jeder Gruppe, zu der wir nicht gehören, aggressive loser oder verlierende Angreifer. Periodisch tauchen Fremde oder Wölfe auf, um an unserem Reichtum zu nagen, den wir immer für verdient und für schwer erarbeitet halten.

Der Verlierer lebt eher im Konsens mit sich selbst als der Gewinner, der mit Mythen seinen Gewinn verteidigen zu müssen glaubt. Der geschäftlich erfolgreiche Mensch wird allerdings zum Mythos vom self made man gewöhnlich den Geiz als support hinzufügen. Hartherzigkeit ist in so zahllose Geschichten eingegangen, dass wir sie glauben müssen. Umgekehrt glaubt niemand an den Egoismus der Armen. Ihnen bleibt nur die Gutherzigkeit, da die Hartherzigkeit schon vergeben ist. Zur Geschichte und zum Mythos treten Dichotomie und Evidenz. Der Mythos lebt von der Gutgläubigkeit. Der Zweifel dagegen erschafft die Schallplatte und das Smartphone, das die Welt mehr verändern wird als heute irgendjemand auch nur ahnt. Die Verlierer werden wissender, die Gewinner werden zweifelnder, die Regierenden werden transparenter, die Regierten mutiger – all das wird möglicherweise durch das smartphone befördert werden. Oder aber es wird, wie bei der Schallplatte oder beim Automobil schon in einer Generation Folgen geben, die heute niemand ahnt, weil er sie nicht ahnen kann. Zwar kann man einerseits nichts vermissen, was man nicht hat, aber andererseits kann niemand wissen, was er schon bald haben wird. Vielleicht führt bald, bald ein gegenseitiger Maximalkonsens vermittels technisch gestützter Empathie zu gegenseitiger maximaler Zuwendung. Denn das smartphone und andere, noch nicht erahnbare Techniken verhelfen uns zur Verwirklichung unserer geträumten Imagines, statt starrer dummer Identitäten. Warum soll der Mensch weniger sein als eine Raupe, wenn er schon nicht mehr ist?