IM FALSCHEN ZUG

Geschichte eines Stolpersteins

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Mein Vater hatte die größte Gerberei weit und breit, bis Pommern hinauf und bis in den Barnim hinunter. Er war durch seine Gerberei und seinen Fleiß wohlhabend geworden, lief aber jahraus, jahrein mit seinen Arbeitssachen, die einen unangenehmen Geruch verströmten, durch die Stadt, was aber nicht allzu häufig vorkam. Wenn er etwas auf dem Bürgermeisteramt zu erledigen hatte oder kleine Besorgungen anstanden, schickte er seinen Prokuristen, seine Frau, also meine Mutter, oder später, seit ich zusammenhängend sprechen konnte, auch mich. Er war reich, aber er hatte die etwas eigenartigen Vorstellungen, dass sein Reichtum seinen Ursprung in der geografischen Lage seines Unternehmens hätte und dessen Fortbestand vom Schicksal durch mein Erscheinen vorbestimmt sei. Er hatte noch mehrere Kinder, aber mein Bruder Hugo fiel tatsächlich schon 1915 noch fast zu Beginn des Krieges. Mein Bruder Kurt interessierte sich nicht für Geschäfte und Gewerbe, nur für die alten Schriften. Er war der einzige Fromme von uns, aber das hat ihm dann letztendlich auch nicht geholfen. Meine Schwester Margarethe war wenig selbstständig, sie wollte eigentlich nur heiraten und las gerne Zeitschriften, in denen der noch ledige, aber furchtbar reiche Großherzog im benachbarten Strelitz abgebildet war. Wenn man bedenkt, dass es in der Zeit vor dem Weltkrieg schon emanzipierte Frauenzimmer gab, auch in unseren Kreisen, dann war unser Gretchen schwach und gestrig. Aber wir hatten sie trotzdem sehr lieb, jedoch hat sie dann keinen guten Mann gefunden und blieb erst dem Geschäft unseres Vaters, dann meinem Geschäft und mir zeitlebens verbunden. Die Hoffnungen meines Vaters richteten sich also auf mich, auch weil ich ohnehin der älteste war.  

Unsere Gerberei lag außerhalb der eigentlichen Stadt, aber natürlich in Sichtweite. Die Ucker teilt sich hier in zwei Arme, von denen der eine, kanalisierte, schneller fließt, weshalb er DIE SCHNELLE heißt. Die Schnelle begrenzte unseren Betrieb auf der Ostseite, westlich lag die Straße nach Neubrandenburg, nördlich waren Feuchtwiesen bis hin zur Zuckerfabrik, dahinter das Gaswerk, an der Straße schlossen sich kleine Handwerksbetriebe und einzelne Häuser an. Unser Haus lag mit dem Giebel zur Straße, trotzdem konnten wir aus dem Wohnzimmerfenster die riesige Marienkirche sehen, die sich in meinem Gedächtnis für immer eingebrannt hat, wo ich auch war und ungeachtet dessen, wofür sie – außer ihrer architektonischen Majestät – noch steht. In der Gerberei verbraucht man sehr viel Wasser, und unser Wasser kam aus dem nicht weniger majestätischen Unteruckersee. Es floss dann nach Ueckermünde ab und ins Stettiner Haff. Später, als ich schon kein Kind mehr war und unternehmungslustig und wissbegierig, fuhr ich mit dem Fahrrad, teils auf der Reichsstraße, teils auf wunderschönen Feldwegen an der Ucker entlang, ab Nieden und Nechlin heißt sie dann Uecker, um zu erforschen, wie lange man die Farb- und Gerbreste unserer Produktion sehen kann. Schon im großen Ueckertal bei Pasewald gab es keine Spuren mehr von uns. Die ganze Prozedur unserer Gerberei erschien mir widerwärtig. Die toten Felle, der Verwesungsgeruch, die Chemikalien, das verunreinigte Wasser des unschuldigen Flüsschens, das alles ekelte mich. Wenn mein Vater auf jemanden ärgerlich war, dann sagte er, dass er ihm das Fell über die Ohren ziehen wolle. Mir wurde dann speiübel, denn ich sah es täglich vor mir.  Gleichwohl war mir der Reichtum meines Vaters angenehm und er machte mich auch angenehm vor meinen Mitschülern in der Knabenschule am Mitteltorturm. Es ist leicht möglich, dass ich an diesem Tag meiner ersten Fahrradtour beschloss, auf keinen Fall Gerber zu werden. Auch wenn ich mich nicht an den genauen Tag meines Beschlusses erinnern kann, bin ich doch sicher, dass es in jenem Jahr war, als ich dreizehn Jahre alt wurde und sich so vieles veränderte. Mein Körper zeigte mir, dass ich ein Mann würde, und der Blick auf den Kalender bewies, dass ich zu Großem bestimmt war. Denn es begann eine neue Zeit, ein neues Jahrhundert, ein Aufbruch, den ich ganz gewiss zu meinen Gunsten würde nutzen können.   

Die Zeitungen damals waren voll von den Versprechungen für das neue und wieder einmal goldene Zeitalter, das nun begänne. Wir Jüngeren, besonders die Knaben und Jünglinge, waren angetan vom Siegeszug des Automobils, von dem der Kaiser, wiewohl er sieben Automobile besaß, sagte, dass es keine Zukunft hätte und er weiter an das Pferd glaube. Im Bahnhofsviertel gab es den Rossschlächter Blaumann, übrigens seit 1846, also länger als unser Geschäft, der hatte jetzt schon Hochkonjunktur. Die Gutsbesitzer der umliegenden Dörfer kauften Lokomobile oder die ersten Traktor-Zugmaschinen von Lanz aus Mannheim. Die reichen Leute schafften ihre Kutschen ab und kauften sich Automobile. Die Kutscher wurden Wagenlenker. Die Pferde wurden Salami. Aber hier bei uns stimmte die Welt noch, die Weiden waren voll, die Bierkutscher brüllten. Aber wir sahen uns jedes Automobil aufmerksam an.

Die Älteren dagegen bevorzugten als Objekt ihrer Bewunderung das Telephon. Jetzt könne man, sagten sie, gleichzeitig in der Heimatstadt und in der Reichhauptstadt sein. Mein Vater hatte einen der ersten Telephonapparate in Rantzlau. In der Schule und in den politischen Versammlungen, soweit man davon hörte, war viel von der deutschen Sache die Rede. Aber mein Vater, der alles praktisch und unter dem Vorzeichen seines blühenden Gewerbes sah, erklärte alle Tümer, das Deutschtum wie das Judentum, das Empire wie den american way of life und auch das hinterwäldlerische Russentum zu Irrtümern. Deutschtum, sagte er, ist nichts als ein Irrtum. Es kommt nicht auf die Herkunft an, sondern auf die Zukunft. Jeder will seine Waren verkaufen, deshalb erklärt er den andern für falsch, unmodern, erblich belastet, qualitativ schlecht. Tum heißt immer Neid, und aus Neid wird schnell Gier. Das steht alles schon in den alten Schriften. Lass es dir von deinem Bruder Kurt erklären. Selbstverständlich, sagte er weiter, sind meine Leder besser als die vom Gerber Mamlock aus Preußisch Stargard. Wenn ich das nicht glaubte, könnte ich meinen Laden zumachen, und du mein Junge, würdest nichts als heiße Luft und kaltes Wasser aus der Schnelle erben. Er lachte laut, voller Selbstbewusstsein und Würde. Und ich lachte aus vollem Herzen und gerne mit, denn ich liebte meinen Vater. ‚Ist der Mamlock aus der Steinstraße dieser Konkurrent?‘ fragte ich. ‚Nein,‘ sagte mein Vater, ‚sein Vater. Der Mamlock aus der Steinstraße ist leider ein Beispiel, das man nicht nachahmen sollte. Er kann nur handeln. Aber statt nur mit dem zu handeln, was auf seinem Firmenschild steht, handelt er im Hinterzimmer seines Ladens mit allerlei Schmuddelei. Das ist kein Verbrechen, aber auch keine saubere Sache. Wir bleiben bei unserm Handwerk, das nach außen schmutzig sein mag, das wir aber reinen Herzens betreiben können.‘ So versuchte mein Vater mir die hehren Grundsätze, ja die Ethik des Handwerks beizubringen. Und das hatte auch durchaus Erfolg, ich wurde später ein gewissenhafter Kaufmann, rechnerisch und moralisch. Aber, was mein Vater noch nicht einmal ahnen konnte, und er ist zum Glück auch rechtzeitig gestorben, um mit sich selber im Reinen zu bleiben, was er nicht wissen konnte, war, dass dieser eine Grundsatz nicht ausreichen würde, um unser Leben zu Sinn und Erfolg zu bringen.

Er ahnte ebenfalls noch nicht, dass ich seinen vergifteten Laden nicht erben wollte, um nichts auf der Welt. Ich liebte meinen Vater, aber ich hasste sein schmutziges Gewerbe. Ich war dem Geld nicht abgeneigt, aber es durfte nicht stinken.

Und ich ahnte noch nicht, dass ich, gerade dreizehnjährig, einen Abscheu und Widerwillen gegen jede Vorbestimmung entwickelte. Nach Meinung der meisten Lehrer und Väter war der Weg des Menschen auf der einen Seite durch seine Herkunft bestimmt. Der Gerbersohn wird wieder Gerber, der Gutsbesitzersohn wird Gutsbesitzer oder General. Der Kameruner bleibt ein Sklave, wenngleich er jetzt die einklassige und erstklassige deutsche Dorfschule durchlaufen darf, bevor er schuften muss. Auf der anderen Seite mussten zur Herkunft auch Fleiß und Wohlanständigkeit hinzutreten.

Mein Bruder Kurt, der ununterbrochen las, las nicht etwa nur fromme Bücher, wie er uns glauben machen wollte. Er las auch Philosophen und Romane. Eines Tages lag eines dieser Bücher aufgeschlagen auf dem Tischchen neben seinem Bett. Ich las den Satz DENN DAS BESTE, WAS EINER IST, MUSS ER NOTHWENDIG FÜR SICH SELBST SEIN und hatte mein Lebensprogramm gefunden. Ich war noch so jung, schickte mich gerade an, aus den kurzen Hosen und Leibchen herauszuwachsen, und wusste schon, was ich wollte. Ich wollte Ich sein, nichts weiter. Hatte Gott selbst nicht gesagt: Ich bin Ich? Was bedurfte es weiter Zeugnis? Welches Schicksal auch kommen würde, ich müsste stets versuchen, es auf meine Weise zu umgehen oder auszuführen. Wo ich ein unsichtbares Gängelband entdeckte, müsste ich es zerschneiden, zerstückeln und zernichten. Plötzlich schien mir mein vor mir liegendes Leben in einem wunderbaren Licht, in fast goldenem Glanz: wohin mich einer schicken würde, ich würde das Ziel verfehlen, was ein Jemand von mir wollen würde, ich wollte es verweigern und stattdessen meinen Weg gehen, wie steinigt jener Pfad, der meiner wäre, auch sein würde. Der trockene Ernst der meisten Leute rührt daher, dass sie an den Drahtfäden des Schicksals wie Puppen anhängen. Dagegen würde ich, wenn mir gelänge, was ich an diesem Tag angesichts des Satzes aus dem Buche des weisen Mannes mit dem schlohweißen Haar beschloss, wie der einzige Mensch in diesem Marionettentheater handeln. Die zumeist schläfrigen Zuschauer würden den Unterschied gar nicht oder erst zu spät bemerken. Welche Pläne das Schicksal mit mir auch haben würde, ich würde sie kühn durchkreuzen.

Meine Lehrer waren die ersten, an denen ich mein neues Ideal versuchte. Sie schwangen den Rohrstock und schlugen ins Leere. Zumal ich auch gute Leistungen in allen Fächern vorweisen konnte, waren ihre Vorhaltungen und Ermahnungen, die sie auch meinem Vater zukommen ließen, ganz unnütz und in den Sand geschrieben.  Überhaupt ging unsere Schule, wiewohl sie architektonisch hübsch anzusehen war, ganz anders als die roten neogotischen Klinkerbauten, welche die Stadt dominierten und mit der tatsächlichen Gotik auf das beste harmonierten, ganz anders, moderner, menschennäher war unser Schulbau, und die ihr zugrunde liegende Pädagogik am Menschen, jedenfalls an mir, vorbei. Sie zielte auf einen Menschen, der sich bereitwillig seinem Schicksal ergeben soll, immer auf dem vorgeschriebenen Pfad wandeln würde. Ein Mensch sollte das sein, dem das Vaterland mehr wert war als er selbst, die endliche Regel mehr galt als das lebenslange und unendliche Lernen. Lernen war ihnen kein Forschen, sondern ein Kopieren. Aber sie bemerkten nicht, dass es keine Kopien waren, die sie erzeugten, noch nicht einmal Kopien, sondern Karikaturen. Es gab keine Jugend, nur Greise, junge und alte, die bärtig und übellaunig, die Hände auf dem Rücken, blind durch die Stadt und ihr Leben wandelten. Am krassesten war das alles im Militär zu sehen, und davon war unsere kleine Stadt voll, voller als von Gotik. Allein die riesige Kaserne des 64. Infantrieregiments thronte beinahe bedrohlich über der Stadt. Während die Marienkirche in der Betrachtung Staunen erzeugte, brachte dieser Bau nur Schrecken hervor. Schon als Knabe dachte ich: ihr wahrer Gott war der Krieg, den beteten sie inständig an und hassten ihre Nachbarn. Am meisten meschugge waren die Soldaten, wenn sie betrunken waren, kurz vor dem Zapfenstreich. Dann zeigten sie ihr wahres Gesicht: es war zur Null geschrumpft, abwesend, löchrig, öde und blöde.

Mein Vater wollte, dass ich bald, noch vor dem Einjährig-Freiwilligen Jahr von der Schule abginge, um bei ihm im Geschäft als sein Lehrling einzutreten. Ich dagegen wollte das Abitur ablegen, um einen guten Start ins Leben zu haben, gleichgültig, ob ich studieren könnte oder nicht. Zum Fache hatte ich mir etwas Praktisches und Lebensnahes ausgewählt, nämlich die Ingenieurwissenschaften, die ich an der technischen Hochschule in Charlottenburg mir aneignen wollte. Mein Vater war empört und sagte, es gäbe auf der Welt nichts Ehrenvolleres als einen Handwerksberuf in deutschen Landen auszuüben. Sein ganzes Leben, sagte er, habe er auf diesen einen Moment hingelebt, mir, seinem ältesten und liebsten Sohn, das Erbe, den Betrieb, die Ehre und nicht zuletzt das angehäufte Vermögen zur weiteren Nutzung und Vermehrung zu übergeben. Er würde verstehen, sagte er, wenn ich nach altem Handwerksbrauch zunächst ein oder zwei Jahre durch Europa wandern wollte. Er würde auch verstehen, sagte er, wenn ich ganz ohne erkennbaren Sinn eine längere Reise unternehmen wollte, um mir die Welt anzueignen, bevor ich meine Pflicht und Schuldigkeit hier in unserem ehrwürdigen Städtchen antreten wollte. Das alles würde er verstehen. Aber was nicht ginge, wäre die Desertation, das Verschwinden aus dem Tribut vor der Leistung nicht nur meines Vaters, sondern der Väter überhaupt.

Zum ersten Mal, abgesehen von den Geplänkeln mit den müden Lehrern, musste sich mein Wille und meine Vorstellung bewähren. Ich sagte etwa dies: Vater, ehrwürdig ist an diesem toten Städtchen nur die gotische Maria. Alles andere ist Schall und Rauch. Mein Bruder Kurt kicherte in sich hinein, der Rest der Familie war entsetzt darüber, dass es ein Sohn wagte, nicht nur seinem Vater zu widersprechen, sondern den Widerspruch auch noch mit der Schmähung der Väter, der alten Schriften und jedweder Heimat überhaupt zu begründen.

Ich muss nun eingestehen, dass es mir weder im ersten noch im zweiten Anlauf gelang, mich tatsächlich zu lösen. Mir fehlten die Kraft und die Courage, mein Bündel zu schnüren und ohne Segen und Geld wegzugehen. Das Nomadentum war gerade einer der Vorwürfe, die unseren Kreisen immer wieder von vaterländischer Seite gemacht wurden. Der Deutsche wäre heimattreu, hieß es, unsereiner dagegen zu ewiger Wanderschaft verdammt. Zwar schmetterten die Sozialisten WACHT AUF VERDAMMTE DIESER ERDE, aber in mir gefror das Blut allein bei dem Gedanken, meinen Vater zu verraten. Ich war kein Sozialist und wollte auch keiner werden, obwohl aus unseren Kreisen viele dort mitmachten. Zudem war ich schon wach, wie ich glaubte, denn ich hatte damals an der Ucker, wo sie schon Uecker heißt, geschworen, dem Schicksal, was es auch brächte, zu widerstehen.

Statt Sozialist zu werden, kaufte ich mir über die nun folgenden Jahre die Hefte von Rustins Selbstlernmethode ‚Der deutsche Kaufmann und sein Rechnungswesen‘. Was mir im ersten Anlauf trockene Theorie zu sein schien und meinem Widerwillen dennoch trotzte, erwies sich im Laufe der Jahre als treuer Gefährte wachsenden Wissens. Immer stellte ich mir ein Geschäft vor, das eine weniger widerwärtige Produktion innehätte, vielmehr vielleicht gar keine Produktion, sondern eine Distribution: ein schönes Ladengeschäft in einer freundlichen Stadt. Dazu imaginierte ich eine bildschöne und liebreiche Frau, die treu und zärtlich an meiner Seite stünde, und eine kleine Schar hell aufgeweckter Kinder, denen ich ihre spätere Bestimmung nie und nimmer vorschreiben wollte. Alle Knaben wollen Polarforscher oder wenigstens Lokomotivführer werden, aber werden dann Handwerker wie ihr Vater, ziehen Frau und Kinder dem Abenteuer vor. Die Mädchen wurden damals bekanntlich nicht gefragt, hatten sich noch mehr zu fügen als die Knaben. Aber meinem Leben blieb es vorbehalten, den weiblichen Anteil schätzen zu lernen. Denn ich hatte eine sehr tüchtige und treue Schwester und später eine ebenso bewundernswerte, noch dazu gleichnamige Frau. Die Kinderschar blieb bis auf unsere geliebte Inge aus.

Während der Konflikt über die Jahre hinweg schwelte, erlernte ich neben dem Rechnungswesen aus den Selbstlernbriefen, die ich mir von meinem kärglichen Taschengeld absparte, das ungeliebte und giftige Handwerk. Mit meinem Vater sprach ich nur das Nötigste und kränkte ihn ohne notwendige Ursache. Hätte ich unser späteres Schicksal auch nur geahnt, so hätte ich in den Boden versinken müssen vor Scham. Aber ich glaubte damals, dass die Welt die Verwirklichung unserer Vorstellungen wäre, ungetrübt, frei von Zwecken. Dass der Mensch auch des Menschen Wolf werden könnte, wurde mir erst viel später in Triest klar. In Triest habe ich oft gedacht, dass die vielen Drachen, die man in den Märchen getötet hatte, Menschen waren, die zum Ungeheuer, zum Ungeziefer geworden waren.

Das Traurige ist, dass unser Streit durch ein schreckliches Ereignis beendet wurde, das gleichzeitig das Ende der bis dahin bekannten und geliebten Welt bedeutete: der Weltkrieg brach aus, indem Serbien frech sein Haupt erhob. Aber statt milde zu lächeln, befahlen unsere Kaiser uns alle zu den Waffen. Und alle gingen freudig hin – und marschierten geradewegs in die Ewigkeit. Ich ging widerwillig hin, konnte aber aus zwei Gründen meinen Plan, mich fremdem Willen zu widersetzen, nicht erfüllen. Der erste Grund war die Übermächtigkeit des Ereignisses, dem ich mich sozusagen als pazifistisches Elementarteilchen gegenübersah. Der zweite Grund war, dass ich die Bedrohung falsch herum sah: nicht das kleine Serbien bedrohte uns, sondern wir wurden von uns selbst bedroht: von unserer Habgier und Herrschsucht, von unserem Verlust des weisen Lächelns, vom Wahn der Stärke und der Impotenz der Macht. Die Generäle schrien ihre Befehle in den Wind, und wir verloren Meter um Meter. Das Jahrhundert war schon tot, noch ehe es richtig begonnen hatte. Die schönen Hoffnungen alle: nun lagen sie in der Erde vor Verdun und Langemarck. Wir hatten gerade so viel Land erobert, dass wir unsere toten Kameraden beerdigen konnten.  

Mein Bruder Hugo fiel schon 1915 in Flandern. Auch er war Vaters Hoffnung gewesen. Neue Wörter kamen auf, die schreckliche Dinge benannten: Gaskrieg, Tank, verschüttet, verstümmelt, zum Krüppel geschossen, Stellungskrieg, Kriegsblinder. 1916 wurde der erste gut ausgebildete Blindenhund einem Kriegsblinden übergeben, obwohl es schon seit Herculaneum bekannt war, dass Hund und Mensch sich gut und gegenseitig helfen können. Je länger der Krieg dauerte, desto weniger gab es zu essen, von Munition und Waffen ganz zu schweigen. Daran konnte auch Rathenau nichts ändern, der jetzt der Minister für Kriegswirtschaft geworden war. Rathenaus Familie stammte genau wie ich aus unserem guten alten Städtchen Rantzlau. Ich selbst wurde verschüttet und konnte von da an nicht mehr gut hören. Hitler war blind im Behelfslazarett in Pasewald, aber ich konnte ihn nicht hören. Hätte ich ihn verstanden, wäre uns manches erspart geblieben. Niemand aus unseren Kreisen verstand ihn. Es war unvorstellbar, was er sagte, selbst wenn er brüllte und kreischte. Es war ganz und gar unverständlich. Ich kannte keinen, der ihn verstand, aber Millionen trotteten hinter ihm her, marschierten im Gleichschritt in den Tod.         

Ein Gutes hatte aber der Krieg: ich zog endlich, nämlich als er zu Ende war, von zuhause weg und ging nach Hamburg. Hamburg hatte ich nicht nur ausgewählt, weil alle, die ich kannte, nach Berlin gingen. Hamburg hieß eine freie Stadt und war es auch. In Hamburg sollte mir ein großes Glück blühen, das sich aber dann in mein größtes Unglück verkehrte, und nicht nur meines.

2

                                                                                                            9. November 1918

Sehr geehrter Herr Jacobsohn,

wir haben Ihren lieben Brief dankend erhalten und erwidern freundlichst Ihre herzlichen Grüße. Es erscheint uns als ein großes Glück und als ein Wink des Schicksals, dass gerade ein Kaufmann wie Sie, noch dazu aus einer gutsituierten Familie, sich um die Wohnung im Erdgeschoss bewirbt. Der Krieg hat ja manches durcheinander gebracht, aber die guten Familien behalten doch die Oberhand.  So wie Sie aus einer alten Handwerksfamilie stammen, sind wir seit Generationen Kaufleute. Auch das Haus befindet sich seit einer Generation in unserem Besitz. Wir sind sehr stolz darauf, aber wir teilen es auch gerne mit solch lieben Menschen, wie Sie einer zu sein scheinen. Seien Sie uns also herzlich als Mieter und Mitbewohner, vielleicht sogar als Nachbar und Freund willkommen. Über alles Geschäftliche, was ja leider immer unvermeidlich ist, werden wir uns schnell einig, machen Sie sich da bitte keine Sorgen über. Seien Sie lieb gegrüßt bis zu unserem Wiedersehn.

Herzlichst Ihre Grete Ahlers.

                                                     Februar 1939     

Mein lieber Jacob,

schon das Wort Fuhlsbüttel tut tief im Herzen weh, wenn man weiß, dass Du nur dort bist, weil Du uns schützen wolltest. Beinahe genauso schlimm ist es, dass die Nachbarn, die von uns wissen, auf mich zukommen und sagen: ach, liebe Frau Ahlers, das war doch ein so netter Mann, Ihr Mann, unvorstellbar, dass er Ihnen das antun konnte. Das ist fast genauso schlimm, wie Dich dort zu wissen, wo seit vielen Jahren die Schwerverbrecher sitzen. Ach, in Santa Fu ist Ihr Mann?, fragen manche, und ich muss dann – wahrheitsgemäß bitter – sagen, das ist nicht mein Mann. Die tapfere Inge dagegen sagt weiter, dass Du ihr Vater bist, denn vom Vater kann man sich nicht scheiden lassen. Aber sie will sich auch gar nicht scheiden lassen. Wenn sie vielleicht auch nicht das ganze Drama versteht, so liebt sie Dich doch weiter als ihren Vater, und ich liebe Dich weiter als meinen Mann, denn vor Gott sind wir weiter Mann und Frau. Auch Deine Schwester Grete, die so fleißig und tüchtig im Geschäft ist, lässt Dich grüßen, frägt ständig nach Dir, und ist Dir dankbar und unvermindert zugetan. Inge hat nun ihre Lehre als Verkäuferin begonnen und sie macht mir große Freude und erhält nur gute Zeugnisse. Das Geschäft läuft gut, wenn Du uns auch sehr fehlst mit Deiner Weitsicht und Deinem Instinkt für Mode und Frauen und Farben und Geld. Ach, Jacob, es ist alles so traurig, aber ich will Dir das Herz nicht noch unnötig schwer machen, denn am schwersten von uns allen hast Du es da in Deinem dunklen Kasten. Deswegen kann ich Dir nur sagen, wie unendlich dankbar wir Dir sind, wie unendlich liebevoll wir in jeder Stunde des Tages und vielen Stunden der Nacht an Dich denken und Dich in unser Gebet einschließen. Halte durch, sei so tapfer, wie Du bisher warst. Denn einmal kommen bessere Zeiten, wird wieder Licht sein, wo sich jetzt dunkle Wolken mit ihren mächtigen Schatten versammeln und sich uns als Steine in den Weg stellen. Eines Tages werden die zwei Jahre um sein. Weißt du noch, wie schnell das halbe Jahr, seit Du bei uns eingezogen warst, vergangen ist und wir so glücklich geheiratet haben?  Und dann kam die Inge aber gar nicht, wie wir gleichzeitig befürchtet und erhofft hatten. Aber wir haben es bis heute nicht bereut, nicht wahr? Was da in diesem halben Jahr entstanden ist, wenn es auch noch nicht die Inge, sondern nur die Liebe war, hat ein ganzes Leben – bis jetzt – gehalten und wird, das versichere ich Dir vor Gott, auch noch den Rest des Lebens halten.  Halte die Ohren steif, es grüßt Dich Deine „geschiedene“ Frau Else.

31. Dezember 1940

Mein lieber Jacob, mein lieber, lieber Mann,

endlich und gerade zu Weihnachten bist Du frei. Und Du hast recht, es ist egal, wo man frei ist. Freisein ist wichtiger als Hiersein. Das ganze Dasein ist ein Suchen nach Freiheit. Man sieht es bei der Stubenfliege am Fenster, wie sie verzweifelt den Weg sucht und ihn nicht finden kann. Sie versteht die Scheibe nicht, so wie wir das Leben nicht verstehen. Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, aber irgendjemand scheint die Hand über uns zu halten, so dass Du nun endlich vor dem Fluch fliehen kannst. Glaub mir, es gibt genug Deutsche, die den Fluch nicht teilen, die wissen, dass es, wenn es einen Gott gibt, nur einen Gott gibt, der für alle Menschen da ist. Ich weiß, dass es sie nicht gibt, aber das Böse in mir will es immer wieder fragen, ob es die Frau gibt, mit der Du Rassenschande betrieben haben willst? Es gibt sie, weil Du uns mit dieser Lüge gerettet hast, die Inge aus allem herausgehalten hast. Ich habe an Eides statt ausgesagt, dass die Inge christlich erzogen wurde. Noch lieber hätten sie gehört, dass die Inge nationalsozialistisch erzogen wurde. Aber das erschien mir dann doch zu dreist. Du hast es besser gemacht. Der Rechtsanwalt hat mir Einblick in die Gerichtsakten gegeben. Du hast so schön gelogen, dass die Welt in ihrem Sinne wieder stimmt: wie Du Rassenschande mit dieser Frau betrieben hast, die es gar nicht gibt, wie Du Deine über alles geliebte Tochter Inge hasst, weil sie von mir, Deiner „geschiedenen“ Frau „christlich“ erzogen wurde. Wenn ich so weiterschreibe, wissen wir zum Schluss vor lauter Gänsefüßchen nicht mehr, was Wahrheit ist und was Lüge. Und so ist auch diese ganze Zeit:  wenn man die Wahrheit sagen will, muss man lügen, und wenn man lügt, sagt man aus Versehen die Wahrheit und kommt ins KL.  Der Kamerad von Dir brachte uns deinen Brief, so dass wir gleich wussten, dass alles gut gegangen ist. Ich habe ihm Schnittchen gemacht und Kaffee gekocht, und er sagte uns, wie lange er das hat vermissen müssen. Aber er hat nicht gesagt, warum er im Zuchthaus war. Früher, als Mädel, habe ich immer gedacht, im Zuchthaus sitzen nur Schwer-verbrecher, die ihre Mutter ermordet oder eine Bank ausgeraubt und den Bankdirektor erschlagen haben, aber nun sitzen im Zuchthaus auch solche Menschen wie Du und Dein Kamerad, die anderen geholfen haben, die sich wie die Märtyrer im Mittelalter geopfert haben, nicht für eine große Sache, wie sie immer sagen, sondern für einen geliebten Menschen. Du hast ihnen mit Deiner Aktion und mit Deinem Opfer den Wind aus den Segeln genommen, hast sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Und, mein lieber Jacob, ist das nicht das Größte, was man tun kann, für andere Menschen da sein und auch selber weiterleben?

Um das Geschäft musst Du Dir keine Sorgen machen. Deine Schwester und ich führen es, so gut wir können, ganz in Deinem Sinne fort. Letzten Sommer haben wir sogar eine Hilfskraft einstellen müssen, denn es gibt immer Reisende, die sich hierher verlaufen, wie wir immer scherzhaft sagen. Im Winter dagegen kommt nur die Stammkundschaft. Aber unsere Hilfskraft freut sich über jede Mark, die sie dazu verdienen kann und grollt uns nicht, wenn wir sie nicht brauchen. Denk Dir nur, ihr Mann musste in den Krieg ziehen, obwohl er schon fünfundvierzig Jahre, aber ein ausgebildeter Reservist ist. So hat jeder sein Päckchen zu tragen. Dass Du aber auch im Obdachlosenasyl verbringen musstest, wenn es auch nur wenige Tage waren! Für das Neue Jahr wünschen wir, Deine Schwester, Deine Tochter und natürlich ich, Deine Frau ohne Anführungszeichen, alles Gute und Glück auf den Weg, wohin er Dich auch führen mag.

Deine Else, die Dich liebt und küsst und herzt.

                                               12. Januar 1942

Mein lieber Jacob,

ich hoffe, dass Du unsere Geburtstagsgrüße rechtzeitig erhalten hast. Wir können uns hier nicht vorstellen, wie Dich unsere Briefe erreichen und auf welchen verschlungenen Wegen Deine Antworten treulich zu uns gelangen. Krieg ist Krieg und Post ist Post, sagte mein Großvater immer, der Briefträger und Feldwebel war. Ich musste erst im Brockhaus Lexikon nachsehen, was überhaupt ein Partisan ist und wo Triest liegt. Du bist in der Welt und wir sitzen hier immer noch im Hinterstübchen von unserem Laden. Ich getraue mich kaum, Dir meinen Dank für das, was Du für uns und für Deutschland tust, auszudrücken, aus Angst, der Brief könnte mitgelesen werden. Man hört so viel Schlechtes und Böses in dieser schlechten und bösen Zeit. Warum müssen wir Paris besitzen und was suchen wir in Russland? Wir als Ladenbesitzer wissen doch am besten, dass man anderen Menschen nicht einfach etwas wegnehmen kann. Der Führer sagt immer, dass wir durch unsere höhere Rasse berechtigt sind, aber ich glaube, dass eine höhere Rasse ja gerade uns zwingt, Recht und Ordnung einzuhalten. Außerdem: wer von uns beiden soll und will denn eine höhere Rasse sein? Du bist doch nicht weniger deutsch als ich, und ich bin nicht mehr deutsch wie Du, und was soll denn deutsch anderes sein als die Sprache?  Und den Glauben haben wir beide nicht, Du nicht den Deinen und ich nicht den Meinen. Und bei unserer Inge haben wir den Glauben doch nur vorgeschoben, weil sie es so hören wollten, da müssen plötzlich die selbst die Nationalsozialisten Christen sein. Denk Dir nur, dass der Pfarrer in unserer Gustav-Adolf-Kirche im Talar seinen Arm zum Hitlergruß erhebt – das ist Gotteslästerung und Rassenschande! Ach, jetzt denke ich schon selber so wie die neuen Herren, die alles verderben.

Soweit ich unser Lexikon verstehe, das Partisanen mit Parteigängern zunächst übersetzt, befassen sich diese, also auch Du, damit, dem Feinde, also uns, ohne steten Zusammenhang zum dortigen Heer, zu schaden, wo sie nur können. Das tust du recht, denn auch in Jugoslawien haben wir nichts zu suchen. Das ist nicht nur meine feste Überzeugung, sondern scheinbar auch Deine. So langsam verstehe ich Deinen Lebensplan. Du hast Dich eines Verbrechens bezichtigt, das Du nicht begingst, um die wahren Verbrecher, die Gestapo, von dem, was sie als Verbrechen ansehen, abzulenken. Um unsere Inge zu schützen, hast du Dich zum Verbrecher erklärt, und folgerichtig haben sie Dich dann auch verfolgt. Aber wie hast Du es geschafft, dass sie Dich nach Deiner verbüßten Strafe auswiesen statt ins KL einwiesen? Zum Glück hattest Du in Deiner Gemeinde – so wie ich in meiner Gemeinde – ohne recht eigentlich Mitglied zu sein, Deinen Mitgliedsbeitrag bezahlt, so dass sie Dich, nachdem Du aus dem Zuchthaus entlassen warst, in einer Obdachlosenunterkunft unterbrachten und Dir sodann halfen, unser Heimatland zu verlassen. Aber warum schickten sie Dich nach Jugoslawien, von dem wir früher kaum etwas wussten, als dass sie dort ihren König umgebracht haben? Jedenfalls habe ich das damals in der Zeitung gelesen.  

Aber wissen wir denn überhaupt etwas über das Warum? Wir Menschen tun gerne so, als wenn wir das, was wir tun, zuvor gedacht und geplant hätten. Aber kannten wir uns, als Du damals bei uns eine Wohnung suchtest? Konnten wir ahnen, dass wir innerhalb eines halben Jahres uns verlieben würden, zusammenziehen, verloben, verheiraten würden? Das konnten wir alles nicht wissen. Und als dann Deine Eltern nacheinander starben, war es da nicht Fügung statt Willen, dass Deine liebe Schwester, die noch dazu den gleichen Vornamen wie ich hat, so dass wir mich nach meinem zweiten Vornamen umbenannten, dass diese Deine Schwester eine so liebe und fähige Ergänzung unseres Lebens und Strebens sein würde? Und wieviel Freude machte uns unsere Inge. Hätte sie nicht auch böse, unartig, entartet gar werden können, den Nazis nachlaufen, einen Hitlerjugendführer lieben können, ihre Eltern denunzieren, das alles hätte sie auch machen und sein können. Gut, es gibt da die Erziehung. Aber gibt es nicht auch die Verführung?  Man hört so viel Böses, dass man sich über das Gute, das uns bisher widerfuhr, nur freuen kann, freuen und von Herzen dankbar sein kann. Ob die Güte wohl obsiegen wird?

Es grüßt Dich von Herzen

Else

                                                  27. Juli 1943

Mein lieber Jacob,

noch im vorigen Jahr schrieb ich Dir, dass die Güte obsiegen wird, dass alles gut wird, dass wir uns wiedersehen. Widersehen können wir uns, aber es steht nichts mehr in unserer Straße. Vorgestern und gestern fielen hunderte Bomben von den feindlichen Flugzeugen. Aber sind es denn wirklich unsere Feinde? Gibt es denn Feinde? Oder werden nicht vielmehr mehr oder weniger zufällig Menschen und Völker zu Feinden erklärt und andere zu Freunden verklärt. Wer kennt sich da noch aus? Das Gute ist, dass Inge in der Berufsschule war, Grete war Einkaufen und im Schutzraum dort, und ich konnte hier im Nachbarhaus rechtzeitig im LSR verschwinden. Als wir nach zwei Stunden herausdurften, war die Straße weg. Alle Häuser waren mehr oder weniger kaputt. Es war schrecklich. Aber war es nicht auch schrecklich, was deutsche Soldaten den Menschen in allen unseren Nachbarländern angetan haben?

Ich war ganz verzweifelt, aber noch am Abend, wir saßen in einer Notunterkunft der NSV, fingen Grete und Inge an, Pläne für die Zukunft zu schmieden. ‚Wir müssen,‘ sagte Inge, ‚wenn der Vater zurückkehrt, das Geschäft und die Wohnung komplett wieder aufgebaut haben, und sogar vergrößert und verschönert muss es wieder auferstehen. Denn der Vater hat alles für uns getan, dass wir leben, so müssen auch wir für ihn alles tun, damit er gut leben kann.‘ Da staunst Du, wie erwachsen und verständig die Inge in den Jahren geworden bist, die Du nicht hier warst. Wir haben überlegt, wo Läden frei geworden sind, entweder, weil Juden enteignet worden waren, das nennt sich jetzt ‚arisieren‘, oder weil die Besitzer bei Bombenangriffen ums Leben gekommen sind. Bombenangriffe – das gab es ja im Weltkrieg nicht. So ist alles anders geworden. Inge schrieb eine Liste mit solch freigewordenen Läden und wir teilten auf, wer in den nächsten bombenfreien Tagen welche Straßen und Häuser begutachten sollte. So haben wir buchstäblich in der größten Katastrophe gleich wieder neu angefangen. Bürgermeister Krogmann hat angesichts der vielen tausend Toten gesagt: Wir müssen leben und kämpfen, damit unsere Toten leben. Aber wir drei Frauen haben noch am Abend beschlossen, dass wir leben und kämpfen müssen, damit die Lebenden weiterleben können.

Hast du auch genug zu essen? Hier ist ja alles knapp, aber es reicht, wir drei Frauen essen nicht so viel wie ein Mann. Wir müssen immer lachen, wenn wir an Deinen Appetit denken müssen, besonders an deine Erklärung. Jetzt, wo Du nicht mehr die giftigen Dämpfe aus der Gerberei Deines Vaters riechen musst, kannst Du all das essen, was Du früher aus Ekel aufsparen musstest. Aber wir freuen uns, wenn Du wieder hier bist, dass wir für Dich Essen kochen können. Auch die Inge kocht schon recht gut, und wenn sie bis dahin keinen Mann gefunden hat, wird sie auch für Dich kochen, so wie Grete und ich es gerne tun werden.

So Gott will, sage ich immer, wenn der Krieg vorbei sein wird und wenn Hamburg wieder aufgebaut ist. Von Rantzlau haben wir nichts gehört, außer, dass es nicht zerstört und zerbombt ist. Nach dem Krieg kannst Du hinfahren und die Stätten Deiner Kindheit und Jugend aufsuchen. Kurt soll noch da sein. Aber es werden jetzt so viele Juden deportiert. Das sind alles so neumodische Wörter: arisiert, evakuiert, deportiert, Alliierte, Partisanen. Wollen wir hoffen, dass die letzteren über die ersten gewinnen, vor allem Du, mein lieber Jacob.  

Viele Grüße von Deinen drei tapfer in die Zukunft schauenden Weibern

Else, Grete und Inge

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   Triest, Januar 1953

Sehr geehrte Frau Ahlers,

mein Name ist Nermin Bosniaković, ich bin ein ehemaliger Kommandeur der Tito-Partisanen, der vor allem verantwortlich war für die Zusammenarbeit mit unseren italienischen Partnern. Deshalb war unser Sitz hier in Triest, unweit der slowenischen Grenze. Einer unserer Kämpfer war Jacob Jacobsohn aus Hamburg. Wir haben ihn alle sehr geschätzt und geliebt, denn er war ein guter Kämpfer. Aber er war nicht gut, weil er gut kämpfen konnte, sondern weil er gut kämpfen wollte. Er war eigentlich Kaufmann und Pazifist, insofern als Partisan ungeeignet. Aber er war auch ein Deutscher, und von daher gründlich, fleißig und gerecht. Und sein Gerechtigkeitssinn sagte ihm, dass Deutschland gerade auf der falschen Seite steht. Er hat uns erzählt, wie er, immer einen Schritt vor seinen Verfolgern, erst seine Tochter, dann seine Frau, also Sie, vor der Verfolgung bewahrt hat. Ich schicke Ihnen alles, ein paar Fotos, seine Aufzeichnungen, Ihre Briefe und wenige Dokumente, alles, was ich von ihm vorgefunden habe. Er hatte in den wenigen Stunden, in denen er Pause hatte, begonnen, seine bemerkenswerte Lebensgeschichte aufzuschreiben, seine Kindheit in der kleinen norddeutschen Stadt Rantzlau als Sohn eines Gerbers. Er liebte wohl seinen Vater, aber er wollte nicht Gerber werden. Dann traf er Sie und alles wurde gut. Aber dann kamen die Faschisten an die Macht, und alles wurde schlecht. Er wich ihnen geschickt aus und traf endlich uns, und alles hätte gut werden können. Er hat für uns übersetzt, er hat uns das Verhalten der deutschen Offiziere und Soldaten erklärt, die deutsche Seele und die deutsche Angst. Wäre er noch ein bisschen länger bei uns geblieben, so hätte er sogar in die deutsche Abteilung, die Telmanovci, eintreten können. Aber er geriet in Triest in einen Hinterhalt und in eine Kontrolle der Wehrmacht und wurde enttarnt. Und dann musste er, der die Bahn so liebte und so gerne Bahn gefahren ist, in den falschen Zug einsteigen. Am 8. Dezember 1943 wurde er, wie wir erst viel später erfahren haben, in Auschwitz ermordet. Friede seiner Asche! Pokoj njegovom pepelu!

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ULTRABRUTALE HORRORSHOW

Über Joachim Wohlgemuths Roman ‚Egon und das achte Weltwunder‘ und Anthony Burgess‘ Roman ‚A Clockwork Orange‘

Im Wikipedia-Artikel über die kleine Kreisstadt Prenzlau steht bei den berühmten Menschen ein DDR-Schriftsteller namens Joachim Wohlgemuth. Er schrieb, neben vielen anderen, noch unbekannteren Büchern einen Roman[1] über einen Jungen, der durch ein sozialistisches Jugendprojekt, das vorher schon die Hitlerjugend verfolgt hatte, geläutert wird. In einem weit gefassten Sinne handelt es sich um eine Konditionierung eines bis dahin nicht ganz angepassten Jugendlichen. Eine Schlägerei ohne ersichtlichen Grund brachte ihn für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Der Roman beginnt an dem Tag, an dem er aus dem Gefängnis kommt und seinen Freunden, die er nun – erster Schritt der Besserung – für falsch hält, aus dem Weg gehen will. Das gelingt jedoch nicht, er lernt aber beim nächsten Abend mit viel Alkohol ein hübsches, etwas sarkastisches Mädchen kennen, das – zweiter Schritt der Besserung – die Tochter des Kreisarztes ist. Prenzlau wird im Buch durch die riesige Marienkirche gekennzeichnet, im Film erkennt man als Wohnung des Kreisarztes und seiner Tochter deutich die heute noch stehende und soeben frisch restaurierte Villa in der Grabowstraße.

Beide Protagonisten gehen zusammen in dieses Jugendprojekt der Großen Friedländer Wiese, die schon seit fast zweihundert Jahren – zuletzt von der HJ – trockengelegt werden soll. Dort nun beginnt ihre Liebe, aber der eigentliche dritte Schritt der Besserung und Anpassung kommt durch die FDJ, den Prenzlauer Jugendklubleiter und den Lagerleiter, der gleichzeitig herzkrank und herzensgut ist. Die Liebe wird im Buch zwar etwas langatmig, aber auch anrührend geschildert, im Film kommt sie als prüder und müder Akt daher. Das alles wird gar nicht unflott erzählt, aber immer wieder künstlich verlängert durch kleine hausbackene innere Monologe, deren Kohärenz sich oft nicht erschließt. Dazu gehört auch ein überlanger Brief einer Figur, die in der Handlung gar nicht vorkommt: die Exfreundin des Klubhausleiters. Überhaupt ist Komposition oder Konstruktion einer Geschichte wohl nicht das besondere Talent Wohlgemuths gewesen. Dagegen ist der Text an vielen Stellen witzig oder wenigstens fröhlich. Es gibt auch eine winzige zweite Ebene der Kritik an den Verhältnissen, so etwa, wenn der Jugendklubleiter, der Philosophie studiert hat, sich wundert, dass niemand in seinen Jugendklub kommen will. Erst der Protagonist Egon klärt ihn im Arbeitslager auf, dass am Jugendklub ein Schild angebracht ist: FÜR NIETEN IN NIETHOSEN VERBOTEN. Mit Niethosen waren Jeans gemeint, gegen die die DDR-Führung einen ebenso ausschweifenden wie aussichtslosen Kampf führte, den sie auch noch verlor. Zur kritischen Ebene, die aber marginal bleibt, gehört auch die Sichtbarmachung der Parallelität von HJ und FDJ, die sonst in der Literatur und im Leben der DDR tabu war. Der Protagonist hat einen Gegenspieler, der eine zeitlang im Westen gelebt hat, aber enttäuscht zurückkam und nun versucht, eine winzige Subkultur zu installieren. So redet man sich gegenseitig mit boy an, aber das ist das einzige englische Wort. Und man hat eine Band, in der auf Flaschen und Kämmen gespielt wird. In der Verfilmung von Christian Steinke klingt das aber gar nicht schlecht. 

Der Wikipedia-Artikel über Wohlgemuth klärt uns darüber auf, warum möglicherweise die Zensur dem sonst eher erfolglosen Autor dies durchgehen ließ: statt literarisch zu glänzen, machte er sich einen Namen als Funktionär des Literaturbetriebs und als Stasi-Zuträger. Der Neubrandenburger Schriftstellerverband war unter seiner Führung durch und durch verwanzt und von gegenseitiger Denunziation verseucht. Niemand weinte ihm eine Träne nach, sein Grab in Neubrandenburg-Carlshöhe wurde eingeebnet. Das Buch wurde in der DDR eine halbe Million Mal, also nicht schlecht, verkauft. Das achte Weltwunder war übrigens nicht das Mädchen selbst, sondern wäre ihre Verliebtheit, wenn sie sich denn bis dahin schon einmal verliebt hätte. Auch Wohlgemuths zweites Jugendbuch hatte einen schönen, aber verschenkten Titel Das Puppenheim in Pinnow. Aber warum erinnern wir uns seiner?

Im selben Jahr, 1962, erschien ein später weltberühmtes Buch[2] in London. Es wurde durch die hyperexpressionistische und exzentrische Bildsprache der Verfilmung durch einen Großmeister, Stanley Kubrick, zu einem Klassiker der Weltliteratur, zu einem der besten britischen Romane. Auch dieses Buch handelt von einem nichtangepassten Jungen und Anführer einer Gang, der durch zwei Morde und durch weitere ultrabrutale Verbrechen ins Gefängnis gerät, und dort neu konditioniert wird. Aber warum ist dieses Buch so stark, das andere dagegen schwach und vergessen?

Dieses Buch ist eine Dystopie, eine Parabel, aber auch eine krasse Satire. Etwa zu gleichen Zeit als diese beiden Büchern erschienen, schrieb der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz von der Verhausschweinung des Menschen. Damit ist nun keineswegs eine Verdreckung oder Verrohung im Sinne des Pejorativs gemeint, sondern die Selbstdomestizierung des Menschen. In den Jahrzehnten der Höhepunkte der Mechanik, der Ingenieurskunst, an der Schwelle zum elektronischen Jahrhundert – oder Jahrtausend -, kurz: im Anthropozän, glaubten und glauben viele Menschen an die Umgestaltungsmöglichkeit unserer Psyche. Psychopharmaka und Drogen, die auch in der Milchbar des ‚clockwork orange‘ eine Rolle spielen, können uns in den oder aus dem Wahnsinn treiben. Durch den zweiten Weltkrieg ist zudem die Fähigkeit von uns Menschen, Verbrechen gegen uns Menschen in bis dahin unerhörtem Ausmaß zu begehen, sozusagen unter Beweis gestellt worden. Viele Millionen Menschen starben durch deutsche, sowjetische, japanische und chinesische Schuld, angekündigt durch deutsche, türkische, belgische, britische und französische Genozide und Kolonialverbrechen. Seitdem schien alles möglich, und im Westen wie im Osten hatte man Angst vor einer verrohten und verrotteten und verbrecherischen Jugend.

Der erste Teil des Buches zeigt eine sich steigernde Terrorisierung eines nicht benannten Stadtteils von London oder Manchester. Die Angst vor Terror, das Rufen nach dem starken Staat dominierte die Politik. Sobald aber Politiker die Grenze zum Autoritarismus überschreiten, werden sie vom Publikum, vom Verfassungsgericht oder von der Geschichte zurückgepfiffen. In unserer Story trifft es den ‚Minister des Innern, des Hintern, des Untern‘. Das Buch ist eine Dystopie, aber die satirischen Überzeichnungen machen sie nicht nur lesbarer, sondern den Schrecken auch erträglicher.

Im zweiten Teil erleben wir zunächst ein ganz normales Gefängnis. Der Protagonist Alex erweist sich als Oberopportunist und wird Gehilfe des Gefängnispfarrers. Aber dann kommt es zu einem weiteren Mord in der überbelegten Zelle. Nun bekommt Alex freiwillig das neue Konditionierungsprogramm: mit Elektroschocks und Ekelpharmaka wird ihm die Lust an der Ultrabrutale genommen. Ethische Bedenken gibt es nur vom stets betrunkenen Gefängnispfarrer.

Der dritte Teil lässt den Protagonisten das Programm seiner eigenen Gewaltspirale zurücklaufen. Als er schließlich bei dem Schriftsteller landet, dessen Frau an den Folgen von Alex‘ Gewalt starb, kehrt diese sich endgültig gegen ihn selbst um: die mit dem Schriftsteller verbundenen politischen Aktivisten wollen Alex durch ultrabrutal laute klassische Musik zum Selbstmord bringen, um damit die Regierung stürzen zu können.

Hier haben wir zwei der Besonderheiten, die den Roman so wirkungsvoll gemacht haben: die Liebe des Alex zu Beethoven und überhaupt zur klassischen Musik, die er mit Anthony Burgess und Stanley Kubrick teilt, und die besondere Jugendsprache. Burgess nimmt nicht einfach ein eher beliebiges ‚feindliches‘ Wort, sondern er konstruiert einen Soziolekt aus russischen Wörtern, den er Nadsat nennt, der dann aber gar nichts mehr mit den Russen zu tun hat, sondern eher wie eine Vorwegnahme der Rappersprache oder Nachahmung des Rotwelschen, einer Geheim- und Gruppensprache im 18. Und 19. Jahrhundert ist. Die schönsten eigenständigen und neuen Wörter sind horrorshow für хорошо[3] = gut und Gulliver für голова[4] = Kopf. Obwohl die Sprache eigens für diesen Roman konstruiert wurde, gibt sie ihm ein Höchstmaß an Authentizität. Allein durch diese Sprachkonstruktion, auf die Burgess während einer Reise nach Leningrad (Sankt Petersburg) kam, wird der Leser nicht nur in den Bann, sondern auf die Seite von Alex gezogen. Das ist besonders im dritten Teil wichtig, wenn wir Alex zum ersten Mal als Opfer sehen sollen. Und schließlich sollen wir das in den USA zunächst nicht gedruckte letzte Kapitel nicht als Moralkitsch – im Sinne des letzten Kapitels von Tolstois Auferstehung -, sondern als Möglichkeit lesen.

Schließlich ist A Clockwork Orange schon vom Titel her eine Parabel, welche die verschiedenen Möglichkeiten des Menschen zwischen Gut und Böse als fiktive Handlung erzählt, die gleichzeitig Satire und Tatsachenbericht zu sein scheint. Alex verliert durch das ultrabrutale Konditionierungsprogramm nicht nur die Lust zur Gewalt, sondern auch die Fähigkeit zum Genuss der Musik. Wenn Burgess selbst zunächst glaubte, das Buch sei zu didaktisch, so denken wir es heute eher als hochaktuelle Parabel mit sehr verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und Figuren, die alle widersprüchlich, und das heißt realistisch, angelegt sind. Obwohl der fiktive Ort nicht erkennbar ist, erkennen wir die typischen Hochhaussiedlungen der suburbs und banlieus in Ost und West mit ihren fast identischen Wohnungen (zum Beispiel WBS70), dem Dauerfernsehen, den Arbeitssklaven, den austauschbaren Söhnen und Töchtern und Eltern (M & P). Inzwischen sind wir alle aber nicht nur Orangen in mechanischen Uhrwerken, sondern in elektronischen Zerkleinerungs- und Zermürbungsmaschinen.   


[1] Joachim Wohlgemuth, Egon und das achte Weltwunder, Verlag Neues Leben, Ostberlin 1962

[2] Anthony Burgess, A clockwork orange, London 1962

[3] chorosch‘o

[4] golow‘a

NEUE WELT PRENZLAU

Vor fünfhundert Jahren wurden die fünftausend Prenzlauer von über hundert Geistlichen betreut. Das waren natürlich nicht nur liturgische Dienste, sondern auch erzieherische, soziale und seelsorgerische. Prenzlau hatte damals, nach der Stadt Brandenburg, die höchste Anzahl von Kirchen im Land Brandenburg, nämlich sieben. Die Institution Kirche war einst das, was heute der Sozialstaat, das Bildungswesen, Kunst und Kultur sind. Trotzdem und obwohl es keine größere Einwanderung gab, war die Bevölkerung nicht homogen. Seit 1244 gab es in Brandenburg Juden, in Prenzlau seit 1309, die als fremd angesehen wurden, weil sie einen anderen Glauben hatten und eine fremde, wenn auch sehr verwandte Sprache benutzten. Es gab Roma, die ihre fremdländischen Sitten geradezu feierten und in deren Händen der Pferdehandel, die Kesselflickerei und die Unterhaltungsmusik lagen. Es gab die Jenischen und die Sinti, wenn auch mehr im Süden und in der Schweiz. Und es gab Rotwelsche, das waren outlaws, die sich ebenfalls einer Geheimsprache, eben des Rotwelschen bedienten. Sie traten als Landstreicher und in Räuberbanden auf. An die Häuser machten sie geheime Zeichen, die Zinken, die ihren Nachfolgern mitteilten, ob etwas durch Betteln oder Stehlen zu holen sei. Auch die Straßentheaterleute, die Spieler und Gaukler, waren fahrendes Volk. Sie alle wurden als Wohltat und als Bedrohung wahrgenommen. So wie heute auch alle Fremden.   

Die Welt mischt sich immer wieder einmal neu. In Prenzlau befand sich wenige Meter von der Marienkirche entfernt, ungefähr da, wo die immer noch vom letzten Krieg gezeichnete Jakobikirche heute eine Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge aus der ganzen Welt unterhält, ein slawisches Heiligtum. Mal nahm man an, dass die Slawen sich dem einwandernden Deutschtum willig assimilierten, weil sie es als technisch überlegen erlebten, dann wieder überwog die Ansicht, dass sich die Slawen erbittert der deutschen Ostexpansion und der damit verbundenen Zwangschristianisierung widersetzen. Kein Mensch kam bisher auf die Idee, dass es weder die Slawen noch die Deutschen gegeben hat. Es gab ganz sicher Slawen, die mit den Deutschen kooperierten, es gab die Anführer des großen Slawenaufstandes von 948 sowie die weinenden Mütter am Straßenrand, und es gab ganz sicher Slawen, denen alles ganz egal war. Es gab Deutsche, die den Osten kolonisieren und christianisieren wollten, was sich nach christlicher Ansicht ausschließt, es gab Deutsche, die einfach vor ihrem gewalttätigen Vater geflohen sind, andere wieder fanden die Mädchen der Slawen attraktiv, es gab Deutsche, die waren gar keine Christen, andere wieder waren gar keine Deutschen. Das war die Lage vor tausend Jahren.

Am Ende des zweiten Weltkriegs brennt die Marienkirche, einer der wuchtigsten und schönsten Kirchenbauten Nordeuropas, nieder, nicht von alliierten Bombern getroffen, sondern sozusagen mit diffuser Täterschaft entzündet. So wie auch viele Dorfkirchen in der Umgebung kann die einheimische Bevölkerung, ähnlich wie die Massenselbstmorde vor allem von Frauen in Demmin, in einer Mischung aus Angst und Selbstbestrafung, die Kirche als mächtigstes Symbol der gesamten Vergangenheit (außer der slawischen) selbst in Brand gesteckt haben. Wahrscheinlicher ist natürlich, dass SS oder HJ oder beide die Kirche als letzte Selbstverteidigung geopfert haben. Das wäre sinnlos gewesen, aber der ganze Krieg war sinnlos. Anklam wurde am selben Tag von der Nazi-Luftwaffe zerstört, weil es sich kampflos ergeben wollte wie die Nachbarstadt Greifswald, warum soll nicht Prenzlau von der SS geopfert oder bestraft worden sein? Jahrzehntelang wurde behauptet, dass die ankommenden Russen die Kirche und die Stadt nicht ertragen konnten und sie deshalb sinnlos (sinnlos?) zerstört haben. In der Zwischenzeit lebten in Prenzlau neben der assimilierten ehemaligen slawischen Bevölkerung natürlich die Deutschen, aber auch zeitweilig fast ein Viertel Juden, dann aber im achtzehnten Jahrhundert auch ein Drittel Franzosen. Immer gab es viele Polen, denn Polen war nicht nur nie verloren, sondern immer auch ganz nah, ob nun mit oder ohne Grenze. 1929 kam eine große Gruppe von wolgadeutschen Mennoniten, die auf dem Roten Platz in Moskau so lange demonstriert hatten, bis sie nach Deutschland ausreisen konnten. Sie kamen ausgehungert und verwahrlost in Prenzlau an und die Überlebenden wanderten weiter nach Paraguay aus. Nach dem letzten Krieg kamen viele Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, zu Fuß auch solche aus der Batschka, der deutschen Insel in Kroatien. Bevorzugt kamen auch Siebenbürger Sachsen und Rumänen nach Prenzlau. In den neunziger Jahren gab es so viele Russlanddeutsche in Prenzlau, dass der Zeitungskiosk im Kaufland zwölf russischsprachige Zeitungen führte. Im Jahr 2015 hat Prenzlau ziemlich geordnet und fast vorbildlich etwa 1000 Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, untergebracht, in der deutschen Sprache unterrichtet und ihnen den einen oder anderen Sinn für ihre Freizeit und Freiheit gegeben.

Wer definiert jetzt bitte, wer oder was ein Prenzlauer oder ein Deutscher ist? Jedes Land ist ein ständiges Auf und Ab, ein Kommen und Gehen, so wie es in einer Familie auch ist. Ernest Renan, ein eher rechter Autor, nannte die Nation ein fortwährendes Plebiszit.

Viel merkwürdiger als die verschiedenen Gruppen der Alt- und Neubürger – inzwischen sind die Stettiner und Batschkadeutschen Altbürger und Salinger, eine Familie auf dem vorbildlichen jüdischen Friedhof im Süßen Grund, das klingt gut, ist aber zwischen der Bahnlinie und der Bundeswehrkaserne, die – ich finde es falsch, das so zu nennen – laut Uckermarkkurier – eine transsexuelle Kommandeurin hat, Salinger ist ein weltberühmter, toter, äußerst skurriler Dichter in den USA, viel merkwürdiger sind die neuen Nationalisten, die ständig auf ihr Land kotzen möchten. Es ist zu vermuten, dass sie sich auf das berühmte Zitat eines berühmten Berliner Juden beziehen, der, als die Nazis die Macht übernahmen, gesagt hat, dass er nicht so viel essen könne, wie er kotzen möchte. Er hat es wohl eher als Berliner gesagt, aber vielleicht als Jude gedacht. Es ist schwer zu glauben, dass er ein jüdischer Maler war, denn er hat keine jüdischen Sujets gemalt. Die Bundeswehrkommandeurin ist auch nicht in Prenzlau, um sexuelle Abenteuer zu erleben – das dürfte auch sehr schwer werden -, sondern um die NATO-Dienststellen in Stettin mit Nachrichtentechnik zu versorgen. Es werden neuerdings Attribute verteilt, die nicht mitteilungsrelevant sind.

Die neuen Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, sondern die Vergangenheit, haben genau die tausend Jahre als Richtschnur gewählt, die auch Hitler und Himmler vorschwebten. Wie wir alle wissen, haben sie dieses Ziel verfehlt. Der Krieg ging verloren, wir sagen zum Glück, aber selbst wer es als Unglück empfindet, muss es eingestehen. Demzufolge muss man doch fragen dürfen, welche Vergangenheit sich die Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, zurückwünschen. Im Kaiserreich gab es bittere Not, Hunger und Kinderreichtum, von dem die neuen Nationalisten annehmen, dass er ein Geschäftsmodell der Flüchtlinge sei. Die Neudeutschen haben nicht nur keine Kinder mehr, einige von ihnen halten Kinder auch nicht für etwas beglückend Schönes, einen Lebenssinn vor allen anderen, sondern für ein Geschäftsmodell. Gleichzeitig schimpfen sie auf den Kapitalismus. Sie halten uns – als Deutsche – für dumm, obwohl unsere Volkswirtschaft die viertstärkste der Welt ist. Ständig preisen sie Polizeistaaten mit ihren Unrechtssystemen und fordern strenge Bestrafungen nach dem Vorbild Saudi Arabiens, Irans und Chinas, obwohl sie und wir alle in einem der sichersten Länder der Welt mit sinkender Kriminalität leben. Die Kriminalität sank auch 2015 und vor allem 2016 weiter, obwohl angeblich so viele potenziell kriminelle Neubürger hinzukamen.

Nach der neuerlichen Aufzählung der Menschen, die in einer relativ kleinen Stadt wie Prenzlau in den letzten tausend Jahren hinzukamen und wegwanderten – ich erinnere an New Prenzlau in Queensland und die superreiche Familie Salinger -, kommt man eher zu dem Schluss, dass die ständige neue Mischung von Menschen normal und wünschenswert ist, jedesmal aber mit Vehemenz von einer winzigen verbohrten Minderheit vergeblich bekämpft wird. Natürlich kann man Nörgeln nicht verbieten, Polizeistaaten versuchen es immer wieder, aber man kann es als lästig empfinden. Die mutigen Menschen leben in den Flüchtlingsheimen, nicht draußen.

Nach acht Jahren sind alle Voraussagen eingetroffen: die weltweite Migration hält an, und ein sehr kleiner Teil davon betrifft auch die Festung Europa, die sich ungerne aufstören lässt in ihrem Reichtum, in ihrer Bequemlichkeit, die schnell zur Behäbigkeit wird. Die ultralinken Kapitalismuskritiker, also die Kinder der behäbigen Europäer, schreiben gerne mal an die Bahnhofswände: your comfort zone will kill you. Nun wird bei uns in Deutschland wieder der Platz knapp, in Berlin werden abermals Turnhallen geopfert. In der kleinen Stadt Prenzlau steht ein Bürogebäude fast leer. Es mag nicht besonders gut geeignet sein als Erstaufnahmeeinrichtung. Aber die Gelegenheit, das neben dem Asylbewerberheim gelegene Kasernengebäude am Südend, damals vor mehr als zwanzig Jahren gleich mit zu erwerben und langsam zu sanieren, dann stünde es jetzt zur Verfügung, diese Gelegenheit ist verpasst worden. Gern warten die Staatsbürokraten auf die Spekulanten, um sich von ihnen dann vorführen zu lassen. Was nun vorgebracht wird, sind keine wirklichen Argumente, sondern die seit dem Mittelalter virulenten Ängste und Vorurteile. Zum Beispiel soll es in der Grabowschule, die es sicher schwer hat, Klassen mit einem Ausländeranteil von 70% geben. Das ist für die Lehrer herausfordernd. In solchen Klassen müssten mindestens zwei Lehrer oder die Klassen müssten geteilt sein. Aber komischerweise kommt niemand von den Obernationalisten auf die Idee, dass es bei 30% Schülern die Klasse und wahrscheinlich die ganze Schule gar nicht mehr geben würde. Ein paar Dörfer weiter gibt es einen sehr schönen Spielplatz. An seiner Stelle stand da einst eine Plattenbauschule. Und die Dorfbewohner entblöden sich nicht zu jammern, dass man ihnen die Schule genommen hätte, obwohl man von diesem Spielplatz den Schulbus kommen sehen kann. Ihm entsteigen vier Kinder, im nächsten Bus vielleicht noch einmal vier. Der Zusammenhang wird – nicht böswillig, sondern leichtfertig und absolut gedankenlos – geleugnet. Der Merksatz dafür scheint zu lauten: Damals war alles richtig. Heute ist alles falsch. Und die Partei, die genau das sagt, wird gewählt. Es ist nicht schwer vorauszusehen, dass die Wagenknechtpartei mit ihrem Programm KONZERNEZERSCHLAGEN&MIGRATIONSTOPPEN ebenfalls Erfolg haben könnte. Allerdings glaube ich, dass Wagenknecht, deren rhetorische Fähigkeiten man früher mit dem Titel Maulheldin qualifizierte, erneut an den organisatorischen Schwierigkeiten scheitern wird. Irgendwann geht das Paar Lafontaine-Wagenknecht ins Guinness-Buch der Rekorde mit den meisten zerschlagenen Parteien pro Kopf ein. Statt in talk shows sind sie dann nur noch in Satiresendungen zu sehen. Auch die AfD hat zehn Jahre und fünf Führer gebraucht, um das heutige Niveau zu erreichen.

Obwohl der größte, widerlichste und verbrecherischste Sozialdarwinist gescheitert und suizidal geendet ist, haben weiterhin alle Autokratien und auch die Parteien, die eine Autokratie anstreben, die Vorstellung von der sozusagen automatischen demografischen Lösung aller Probleme. Obwohl sich immer wieder zeigt, dass die meisten demografischen Herausforderungen Bildungsprobleme sind, obwohl selbst die intendiert gutwilligsten und gleichzeitig praktisch böswilligsten Eingriffe in die Demografie – Indira Gandhis Zwangssterilisationen und Deng Xiaopings Einkindehe – katastrophal gescheitert sind, gibt es weder bei den Autokraten noch bei ihren Nachplapperern ein Einsehen. Fast jeder Mensch ist gut bildbar, man muss ihn nur genügend und effektiv fördern. Ich halte den berühmten Spruch ‚fördern und fordern‘ für zumindest verkürzt, wenn nicht falsch. Immer wieder zeigt sich, dass ein Kind für seine Entwicklung maximale Förderung braucht. In Südkorea, einem äußerst reichen und sehr erfolgreichen Land, zerbricht die relativ größte Anzahl Jugendlicher an vielleicht gutgemeinten, aber weit überzogenen Forderungen. Die beste Förderung von Kindern ist LEGO & LESEN.

Indessen ist Prenzlau nicht der Mittelpunkt der Welt, deren Probleme hier auch nicht gelöst werden können. Der Bundespolitik muss man vorwerfen, dass sie zu wenig unternimmt, um den Kommunen, Landkreisen und Ländern zu helfen. Unter helfen darf man nicht nur Geld, sondern muss man auch Geist verstehen, Argumente, Erklärungen, die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten. Dann würde endlich dem Eindruck widersprochen, dass auch die gegenwärtige Bundesregierung den Dingen einfach ihren Lauf lässt, in Analogie zu Kohls und Merkels ‚aussitzen‘. Allerdings darf man die Motivation von Merkels Satz ‚Wir schaffen das‘ nicht unterschätzen, er hat leider auch die Gegenkräfte zum Gegenteil ermuntert. Aber besteht der allgemeinste Irrtum nicht darin, stets das Gegenteil nicht genügend mitzudenken? Die Weltpolitik scheint im Moment nicht zu koordiniertem Verhalten befähigt. Sie ist, wie im Kalten Krieg, nun aber mehrfach gespalten: G7, G20, Brics, EU, AU, NATO. Zwar gibt es viele Überschneidungen, aber auch harte Abgrenzungen. Nur die Schwäche Russlands verhindert höchstwahrscheinlich einen dritten Weltkrieg.

Neuerdings gibt es in Prenzlau auch Ukrainerinnen und Ukrainer, im Gymnasium gibt es sogar eine ukrainische Klasse. Sie werden noch weniger angefeindet als die Flüchtlinge von 2015/2016. Das ist ganz im Sinn der alten Migrationstradition dieser kleinen Stadt, die sich endlich auch aus dem Grauingrau der DDR erhoben hat. Selbst der Dreke-Ring wird bunt. Dagegen wehrt sich die WIRWOLLENNACHGESTERN-Partei. Aber das Rad der Geschichte lässt sich bekanntlich nicht aufhalten. Es dreht sich wie das Mühlrad aus dem Lied: di redern drejen sich, di joren gejen sich…, das vielleicht Nathan Mamlock aus der Steinstraße 15 vor sich hin gesummt hat, als er wieder einmal von seinen Mitbürgern, die gern bei ihm im Hinterstübchen ein Glas zu viel tranken, denunziert worden war.      

Foto: rochusthal

Neue Prenzlauer vor den slawisch-deutsch-christlich-jüdisch-französisch-polnischen-russland- und batschkadeutschen Orten, deren Ururenkel womöglich einst Meier oder Schmidt heißen werden.

Der Text von 2016 wurde überarbeitet, aktualisiert und erweitert.

BANLIEU

Nr. 363

Oben und unten sind genauso untauglich gewordene Begriffe wie Gewinner und Verlierer. Sie stammen aus der unsolidarischen Ständegesellschaft, inzwischen gibt es eine durch das Bildungssystem gestützte soziale Durchlässigkeit, die vor hundert Jahren absolut unvorstellbar war. Die Hälfte aller Menschen macht Abitur und in den Berufsschulen gibt es Büros, die Türöffner oder ähnlich heißen, die Menschen aufsammeln, die bisher durch alle Auffangeinrichtungen gefallen sind. Trotzdem belassen gerade die Demokratie und die mit ihr als Ideal verbundene Freiheit Menschen im Zustand der Unbildung, die theoretisch nicht identisch mit Unwissenheit ist, in der Praxis aber wohl. In der Ständegesellschaft war das unten, das waren die Verlierer, die den Hof fegten, bevor es Hartz IV oder ähnliche Leistungen gab. In Köthen in Sachsen-Anhalt gibt es zwei berühmte Familien, die jeder in Deutschland kennt: die Familie Bachs, des weltgrößten Komponisten, und Familie Ritter, die sich aller Bildung und Fürsorge durch Leberzirrhose entzieht. Sachsen-Anhalt hat zur Freude der Berliner das bundesweit schlechteste Bildungsergebnis.

Das ist nicht neu. Neu ist aber, dass sich jemand dieser bedauernswerten und bedauerlich kaum erreichbaren Gruppe bemächtigt. Wir können nicht bestreiten, dass es Xenophobie tatsächlich gibt. Aber wir wissen auch, dass sie fast nur reziprok auftritt: je mehr Fremde es gibt, desto geringer ist die Angst, je abgeschotteter und verlorener eine Region ist, desto ängstlicher sind ihre Bewohner. Diese Angst musste man aufgreifen und durch den seit altersher vorhandenen Abscheu gegen die Regierenden ergänzen. Dabei wird absichtlich Bürokratie mit dem Staat, also der Organisationsform des Gemeinwesens verwechselt. Die Kritik an der zum Ausufern neigenden Bürokratie stammt von Max Weber und nicht von Bernd Höcke. Die hoch verdienstvolle Gorki Theaterkolumne hat jüngst aufmerksam gemacht, dass der so genannte Bremer Skandal, also das angebliche Durchwinken jesidischer Flüchtlinge nach der Überprüfung eine Fehlerquote von 0,7% erbrachte, während die vorsorglichen negativen Asylbescheide zu 20% falsch sind. Obwohl die Tatsachen einfach verdreht wurden und der Staat in seiner Intention mit der ausführenden – und gut ausführenden – Bürokratie gleichgesetzt wurde, bleibt bei den Wählern dieser Gruppe hängen, dass Menschen begünstigt wurden, die nicht sie waren. Alle Argumentationen greifen schon deshalb nicht, weil sie in einem sachlichen, teils auch wissenschaftsnahen, bürokratischen Ton vorgetragen werden, den diese Gruppe nicht versteht und nicht verstehen will. Die Partei, dies sich dieser Gruppe angenommen hat, greift dagegen diesen pöbelhaften Ton auf, dessen emotionale Schärfe den Mangel an Argumenten übertönen soll.

Auch die Dresdner Pegidarentner, die keinesfalls überwiegend zu dieser Gruppe gehören, übernahmen freudig diesen Ton, mit dem sie endgültig ihren jahrzehntelangen Opportunismus aufzugeben glaubten. Tatsächlich haben sie nur die Gruppe gewechselt, werden jetzt von Bachmann, Höcke, Kalbitz und Gauland instrumentalisiert. Plötzlich ist es erlaubt, die da oben nicht nur zu kritisieren, sondern mit Pejorativen zu belegen, die im familiären Kreis längst gebannt schienen. In Dresden wurde der Bundeskanzlerin auch der Lynchgalgen gezeigt, eine uralte Tradition der Rassisten. Die Rasse, die jetzt bekämpft wird, sind die Oberen. Anders als in Amerika stammen bei uns die Regierenden keineswegs oft aus der Klasse der Oberen. Gerhard Schröder beispielsweise kommt aus einer Siedlung, die heute eher am Rand der Gesellschaft, nicht nur am Rand einer Kleinstadt zu finden wäre. Folgerichtig, so scheint es, ist der einzige Milliardär in einer deutschen Regierung von Nazis erschossen worden. Die heutigen Nazis greifen auch diese antikapitalistische Stimmung begierig auf. Damit treten sie im Osten Deutschlands das Erbe der linken Partei an, ergänzt um den pöbelhaften Ton. Würde man also die AfD nach alten Parteikriterien einzuordnen versuchen, so könnte man sie als Nationalbolschewisten bezeichnen. Vorbilder sind nicht nur die Gebrüder Strasser, sondern auch Slobodan Milošević, während Sarah Wagenknecht mit ihrer schon vom Namen her nationalbolschewistischen Initiative klar gescheitert ist.

Es gibt die Angst abzusteigen, es gibt die Angst, dass die Abgestiegenen sich den engen Raum teilen müssen, es gibt Xenophobie. Aber auf der anderen Seite gibt es immer jemanden, der das für seine Zwecke zu nutzen versteht, der instrumentalisiert, der populistische Sprüche in pöbelhafter Sprache hinausschleudert und übrigens auch keine Achtung vor den Gedanken anderer hat. Das ist kein tragfähiges politisches Konzept und wird sich auf Dauer nicht durchsetzen, weder hier noch anderswo. Die zweite Regierung mit nationalistischer Beteiligung ist soeben gescheitert, nach Österreich nun auch Italien. Sie werden alle scheitern, sowohl am Wählerwillen als auch – Gott sei Dank – an ihrer scheinbar als Fluch vererbten Inkompetenz.

Das eigentlich Tragische in diesem Jahr – und man kann befürchten, dass es bei der nächsten Bundestagswahl noch einmal so kommt – sind die Versuche der Parteien mit diesem zurecht als widerwärtig wahrgenommenen Problem fertigzuwerden. Auf der einen Seite ist die AfD demokratisch gewählt, auf der anderen Seite aber missbraucht sie die Demokratie und deren Geld auf die schändlichste Weise. Manche rennen ihrer Schaumschlägerei hinterher, wie leider auch die neue Vorsitzende der CDU. Andere versuchen ernsthaft die Rückgewinnung verlorener Verlierer.

Am Freitag vor der Landtagswahl hat sich der stellvertretende und – wie zu befürchten ist – designierte Vorsitzende der SPD in ein abseitiges Banlieu begeben. Die alte Bedeutung des heute eindeutig konnotierten Begriffs war das Stadtbild von weitem, das Weichbild einer Stadt. Die Hauptstadt der Uckermark, die immer noch eine der größten gotischen Kirchen – demnächst sogar fertig rekonstruiert – besitzt, wird aber dennoch gekennzeichnet durch fast endlose Neubauviertel, die aber schon fast ein halbes Jahrhundert hier stehen. Wahrscheinlich wollte die SPD die Menschen erreichen, die sich hier abgehängt fühlen. Aber es kam eine Handvoll überwiegend ältere Damen auf dem Fahrrad, dazu die Stadtprominenz, angeführt vom SPD-Bundestagsabgeordneten, der seit Jahren durch seine Visionslosigkeit geradezu schockiert. Die Adressaten waren wie immer ausgeblieben. Es gab mehr Kuchen als Kaffee, aber diese Kuchenbüffets sind auf allen Veranstaltungen absolut identisch. Daraus folgt, dass die ältlichen Frauen das Rückgrat dieser Art politischer, religiöser und künstlerischer Kultur sind. Der Kuchen war bemerkenswert gut. Dazu war der künftige Vorsitzende der ältesten und größten Partei Deutschlands mit zwei gepanzerten Mercedes-S-Klasse-Limousinen und einem dicklichen Polizisten auf dem Motorrad hundert Kilometer aus Berlin angereist:

LOVE WAS SUCH AN EASY GAME TO PLAY – YESTERDAY.

In derselben Woche hat das Handelsblatt eine Studie der Universität Mainz veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die vier gesundheitlich lebenswertesten Regionen im Nordosten Deutschlands liegen. Der in dieser Hinsicht beste Postleitzahlbezirk hat die Nummer 17. Schauen Sie nach und kommen Sie her!

NEUE WELT PRENZLAU

Nr. 265

 

Die Welt mischt sich immer wieder einmal neu. In Prenzlau befand sich wenige Meter von der Marienkirche entfernt, ungefähr da, wo die immer noch vom letzten Krieg gezeichnete Jakobikirche heute eine Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge aus der ganzen Welt unterhält, ein slawisches Heiligtum. Mal nahm man an, dass die Slawen sich dem einwandernden Deutschtum willig assimilierten, weil sie es als technisch überlegen erlebten, dann wieder überwog die Ansicht, dass sich die Slawen erbittert der deutschen Ostexpansion und der damit verbundenen Zwangschristianisierung widersetzen. Kein Mensch kam bisher auf die Idee, dass es weder die Slawen noch die Deutschen gegeben hat. Es gab ganz sicher Slawen, die mit den Deutschen kooperierten, es gab die Anführer des großen Slawenaufstandes von 948 sowie die weinenden Mütter am Straßenrand, und es gab ganz sicher Slawen, denen alles ganz egal war. Es gab Deutsche, die den Osten kolonisieren und christianisieren wollten, was sich nach christlicher Ansicht ausschließt, es gab Deutsche, die einfach vor ihrem gewalttätigen Vater geflohen sind, andere wieder fanden die Mädchen der Slawen attraktiv, es gab Deutsche,die waren gar keine Christen, andere wieder waren gar keine Deutschen. Das war die Lage vor tausend Jahren.

Am Ende des zweiten Weltkriegs brennt die Marienkirche, einer der wuchtigsten Kirchenbauten Nordeuropas, nieder, nicht von alliierten Bombern getroffen, sondern sozusagen mit diffuser Täterschaft entzündet. So wie auch viele Dorfkirchen in der Umgebung kann die einheimische Bevölkerung, ähnlich wie die Massenselbstmorde vor allem von Frauen in Demmin, in einer Mischung aus Angst und Selbstbestrafung, die Kirche als mächtigstes Symbol der gesamten Vergangenheit (außer der slawischen) selbst in Brand gesteckt haben. Wahrscheinlicher ist natürlich, dass SS oder HJ oder beide die Kirche als letzte Selbstverteidigung geopfert haben. Das wäre sinnlos gewesen, aber der ganze Krieg war sinnlos. Anklam wurde am selben Tag von der Nazi-Luftwaffe zerstört, weil es sich kampflos ergeben wollte wie die Nachbarstadt Greifswald, warum soll nicht Prenzlau von der SS geopfert oder bestraft worden sein? Jahrzehntelang wurde behauptet, dass die ankommenden Russen die Kirche und die Stadt nicht ertragen konnten und sie deshalb sinnlos (sinnlos?) zerstört haben. In der Zwischenzeit lebten in Prenzlau neben der assimilierten ehemaligen slawischen Bevölkerung natürlich die Deutschen, aber auch zeitweilig fast ein Viertel Juden, dann aber im achtzehnten Jahrhundert auch ein Drittel Franzosen. Immer gab es viele Polen, denn Polen war nicht nur nie verloren, sondern immer auch ganz nah, ob nun mit oder ohne Grenze. 1929 kam eine große Gruppe von wolgadeutschen Mennoniten, die auf dem Roten Platz in Moskau solange demonstriert hatten, bis sie nach Deutschland ausreisen konnten. Sie kamen ausgehungert und verwahrlost in Prenzlau an und die Überlebenden wanderten weiter nach Paraguay aus. Nach dem letzten Krieg kamen viele Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, zu Fuß auch solche aus der Batschka, der deutschen Insel in Kroatien. Bevorzugt kamen auch Siebenbürger Sachsen und Rumänen nach Prenzlau. In den neunziger Jahren gab es soviele Russlanddeutsche in Prenzlau, dass der Zeitungskiosk im Kaufland zwölf russischsprachige Zeitungen führte. Im Jahr 2015 hat Prenzlau ziemlich geordnet und fast vorbildlich etwa 1000 Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, untergebracht, in der deutschen Sprache unterrichtet und ihnen den einen oder anderen Sinn für ihre Freizeit und Freiheit gegeben.

Wer definiert jetzt bitte, wer oder was ein Prenzlauer oder ein Deutscher ist? Jedes Land ist ein ständiges Auf und Ab, ein Kommen und Gehen, so wie es in einer Familie auch ist.

Viel merkwürdiger als die verschiedenen Gruppen der Alt- und Neubürger – inzwischen sind die Stettiner und Batschkadeutschen Altbürger und Salinger, eine Familie auf dem vorbildlichen jüdischen Friedhof im Süßen Grund, das klingt gut, ist aber zwischen der Bahnlinie und der Bundeswehrkaserne, die – ich finde es falsch, das so zu nennen – laut Uckermarkkurier – eine transsexuelle Kommandeurin hat, Salinger ist ein weltberühmter, toter, äußerst skurriler Dichter in den USA, viel merkwürdiger sind die neuen Nationalisten, die ständig auf ihr Land kotzen möchten. Es ist zu vermuten, dass sie sich auf das berühmte Zitat eines berühmten Berliner Juden beziehen, der, als die Nazis die Macht übernahmen, gesagt hat, dass er nicht soviel essen könne, wie er kotzen möchte. Er hat es wohl eher als Berliner gesagt, aber vielleicht als Jude gedacht. Es ist schwer zu glauben, dass er ein jüdischer Maler war, denn er hat keine jüdischen Sujets gemalt. Die Bundeswehrkommandeurin ist auch nicht in Prenzlau, um sexuelle Abenteuer zu erleben – das dürfte auch sehr schwer werden -, sondern um die NATO-Dienststellen in Stettin mit Nachrichtentechnik zu versorgen. Es werden neuerdings Attribute verteilt, die nicht mitteilungsrelevant sind.

Die neuen Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, sondern die Vergangenheit, haben genau die tausend Jahre als Richtschnur gewählt, die auch Hitler und Himmler vorschwebten. Wie wir alle wissen, haben sie diese Ziel verfehlt. Der Krieg ging verloren, wir sagen zum Glück, aber selbst wer es als Unglück empfindet, muss es eingestehen. Demzufolge muss man doch fragen dürfen, welche Vergangenheit sich die Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, zurückwünschen. Im Kaiserreich gab es bittere Not, Hunger und Kinderreichtum, von dem die neuen Nationalisten annehmen, dass er ein Geschäftsmodell der Flüchtlinge sei. Die Neudeutschen haben nicht nur keine Kinder mehr, einige von ihnen halten Kinder auch nicht für etwas beglückend Schönes, einen Lebenssinn vor allen anderen, sondern für ein Geschäftsmodell. Gleichzeitig schimpfen sie auf den Kapitalismus. Sie halten uns – als Deutsche – für dumm. Ständig preisen sie Polizeistaaten mit ihren Unrechtssystemen und fordern strenge Bestrafungen nach dem Vorbild Saudi Arabiens und Chinas, obwohl sie und wir alle in einem der sichersten Länder der Welt mit sinkender Kriminalität leben. Die Kriminalität sank auch 2015 und vor allem 2016 weiter, obwohl angeblich so viele potenziell kriminelle Neubürger hinzukamen.

Nach der neuerlichen Aufzählung der Menschen, die in einer relativ kleinen Stadt wie Prenzlau in den letzten tausend Jahren hinzukamen und wegwanderten – ich erinnere an New Prenzlau in Queensland und Familie Salinger -, kommt man eher zu dem Schluss, dass die ständige neue Mischung von Menschen normal und wünschenswert ist, jedesmal aber mit Vehemenz von einer winzigen verbohrten Minderheit bekämpft wird. Natürlich kann man Nörgeln nicht verbieten, Polizeistaaten versuchen es immer wieder, aber man kann es als lästig empfinden. Die mutigen Menschen leben in den Flüchtlingsheimen, nicht draußen.

 

Neue Prenzlauer vor den slawisch-deutsch-christlich-jüdisch-französisch-polnischen-russland- und batschkadeutschen Orten, deren Ururenkel womöglich einst Meier heißen werden.

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