
Vielleicht ist das ganze Leben nichts anderes als ein Wechselbad von Regeln und Freiheitssehnsucht. Jedenfalls glauben die Fanatiker an die Ordnung, die sie eben damit zerstören, und die Freidenker nehmen die Ordnung hin, obwohl sie die Freiheit behindert. So geht der Kampf seit Jahrhunderten hin und her.
Dabei kommt es immer wieder zu kontroversen Konstellationen: das Gedankenwerk des größt-denkbaren Freidenkers (‚wenn du deine Feinde liebst, hast du keine mehr‘, ‚wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein‘) wird in riesige Kathedralen und auf morsche Katheder verbannt und von einer krakenartigen Hierarchie steinalter Männer verwaltet. Solange sie die Macht und Kraft dazu hatte, verbrannte und erwürgte sie jeden einzelnen Gegner. 1209 wurden die Katharer aus Carcassonne vertrieben und erschlagen, 1336 wurden in der uckermärkischen Kleinstadt Angermünde Waldenser verbrannt, die Bogumilen in Bosnien gingen spätestens 1481 im Islam der türkischen Eroberer auf. Mit dem Aufscheinen der Moderne im neunzehnten Jahrhundert stand der altertümlich an der alten Ordnung festhaltende Klerus vor einer neuen Herausforderung, und seine Antwort war paradigmatisch und hieß Pius IX. Er war kein Visionär, noch nicht einmal im negativen Sinne, kein Fanatiker. Aber er glaubte fest an alles Alte. Gott spielte dabei eigentlich keine Rolle. Er setzte das Dogma von der unbefleckten Empfängnis der Maria durch. Statt also endlich die Kirche aus dem Bett herauszuhalten, schob er sie tiefer hinein. Das Ergebnis ist der massenhafte Missbrauch. Weiter, und noch wichtiger, prügelte er gegen eine schweigende Mehrheit das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes zusammen mit dem Jurisdiktionsprimat durch. Gemeint war zwar nur die theologische Lehrmeinung, aber sein Satz, dass, wer dem widerspräche, ausgeschlossen würde, ist zum Programm der Ordnungsfanatiker geworden. All die Lager und Gefängnisse des zwanzigsten Jahrhunderts sind Orte der Exkommunikation. Auf der anderen Seite: wer alle ausschließt, steht zum Schluss alleine da. Uns sollte nicht die Pervertierung des Christentums kümmern, die darin begründet liegt: Ausschluss statt Integration, sondern überhaupt die Desintegration als die verkehrtest mögliche Methode zur Aufrechterhaltung der Ordnung.
Die Ordnung macht nur Sinn und ist nur aufrechthaltbar, wenn sie freiwillig ist. Peitsche und Freiheit schließen sich aus, ja sogar schon Peitsche und Leben. Schwarze Pädagogik kann nur in einer Welt der Gefängnisaufseher enden. Kleriker, Mathematiker und Karussellbetreiber können die Welt nicht verstehen oder gar lenken, weil sie Regelwerke und Wegweiser und letztlich Gefängnisse bauen und sich mit ihnen im Kreise drehen.
Die gegenwärtige Hochkonjunktur des Autoritarismus ist eine Fehlwahrnehmung. Die sagenhafte Urordnung mag Freiheit gewesen sein, das Paradies. Aber alle sichtbaren Ordnungen vor uns sind hierarchisch und autoritär, weshalb die Ordnungsfanatiker glauben, dass der Urzustand Ordnung war. Aber das ist evolutionär kaum denkbar. Die Frage ist also, ist Freiheit Fiktion, Fakt oder Ideal? Die Ordnung kann kein Ideal sein, weil das jede Entwicklung und Widersprüchlichkeit, die Konkurrenz, den Wettbewerb, letztlich die Fiktion ausschlösse. Erfindung und Tatsache sind im Ideal vereint, das der Findung dient, aber nicht mit ihr identisch ist. Das Ideal ist der Wegweiser, der Weg aber ist Freiheit. Das lehrt schon die Gemeine Stubenfliege (musca domestica) am Fenster.
Was hat nun dieser unsägliche und selbstverständlich unselige Papst mit uns zu tun? Er kann uns triumphieren lassen: die Tage der Diktatoren sind gezählt, wenn auch leider nur einzeln. Die Autokraten, die Beherrscher lediglich der Regeln und der Zitate, schädigen bedauerlicherweise nicht nur ihre vermeintlichen Feinde, sondern erfreulicherweise auch sich. So wie Pius IX. ausdrücklich den Ausgang aus der Kirche öffnete, so zerstören alle Autokraten und Hierarchen den inneren Zusammenhalt der Gesellschaften, denen zu dienen sie lediglich vorgeben. Tatsächlich hat keiner aus dieser Klasse ein tausendjähriges Reich begründet, wovon sie aber alle geträumt haben. Alexander Dugin zum Beispiel, der Hausphilosoph Putins, glaubt, dass die chinesische Zivilisation ‚den Triumph des Klans, des Volkes, der Ordnung und Struktur über jegliche Individualität‘* darstellt. Aber ein paar Seiten später wird Russland zum ‚bedeutendsten Pol des großen Erwachens‘, das seine imperiale Mission wiederentdecken muss. Wir zitieren das nur, um die eigenartige, personalisierte Geschichtsauffassung autoritärer Herrschaft zu zeigen. Einerseits schreibt Dugin, dass der russische Kollektivgeist sich bewusst für den Byzantinismus entschieden hat und bemerkt nicht die unfreiwillige Ironie. Andererseits beschwört er die wiederum bewusste Entscheidung für eine entliberalisierte und entglobalisierte russische Welt. Dugin glaubt sich als Lenin der Gegenwart, vergisst aber dessen Schicksal.
Im Gegensatz zu den Despoten und ihren Zitateverwaltern können wir nicht die Zukunft voraussagen. Wir sehen aber ein deutliches Auf und Ab und Hin und Her zwischen Ordnung und Freiheit, Autokratie, die Allwissenheit voraussetzt und imitiert – man beachte die handschriftlichen Notierer, die dem genialen Führer des nordkoreanischen Volkes, Kim Jong Un, auf dem Fuße folgen -, und Liberalismus, der bisher immer mit Wohlstand, Bildung und Demokratie einherging. Das wirtschaftliche Versagen aller Diktaturen rührt aus dem Mangel an Freiheit, der der Feind jeder Idee ist. Wer Kollektivismus zur Staatsdoktrin macht, muss sich über Orwellschen Überwachungswahn und kollektiven Schlendrian nicht wundern. Die Mängel der Demokratie – Langsamkeit, Entscheidungsschwäche, Unübersichtlichkeit – resultieren aus ihrem Erfolg. Der Despot muss schnell zurückschlagen und kann alle Fehler (mit neuen Fehlern) korrigieren. Die Demokratie muss es sich leisten, mehr als hundert Jahre an einem Gesetz zu arbeiten, denn sie will alle mitnehmen. In einer Krise ist das allerdings gefährlich. Wenn man beklagt, dass der Demokratie Menschen als Wähler oder Befürworter verloren gehen, dann muss man aber auch bedenken, dass in fast allen Autokratien Menschen erschossen oder vergiftet, hingerichtet oder wenigstens inhaftiert werden.
Papst Pius IX. ließ übrigens im Vatikan vermeintliche Spione hinrichten, er deckte den letzten Raub eines jüdischen Kindes, das zwangsgetauft wurde. Dabei blieb er ein freundlicher alter Mann, aber eben auch der oberste Katholik, der so böse war. Es wird immer ein Rätsel bleiben, wie man behaupten kann, an Yesus zu glauben und dann zum Vorbild für Despoten und Schlächter zu werden. In meiner Bibel steht: VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN. Aber der böse Pius muss wohl eine andere Bibel gehabt haben.

*DUGIN, Das große Erwachen gegen den Great Reset, London 2021, S. 42
