NAZIS SIND AUCH MENSCHEN

 

Nr. 387

Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird?*

Kaum passiert eine Untat, schreien sofort die Fassungslosen und Berufsempörten, dass es sich bei dem Täter um ‚Abschaum‘ handelt. In diesem Wort liegt aber der Schlüssel der Tat und nicht ihrer Verhinderung.

Der Ungeist der Diskriminierung schwebt über dem Menschengeschlecht, seit es denken kann. Die Kraft der Unterscheidung, im biblischen Schöpfungsbericht mit der Metapher des Baums der Erkenntnis gezeichnet, aus der die Technologie, die Wissenschaft und die Kunst entsprang, gebar auch die Untat. Bisher alle Ideologien, aber leider auch alle Religionen, oft gegen ihre Grundaussage, teilen die Menschen in Menschen und Unmenschen, nur um ihre eigene Richtigkeit zu bestätigen. Was wir als Richtigkeit empfinden, ist doch aber nichts weiter als Wiederholung, solange es geht. Wir wiederholen einen Gedanken oder ein Verhalten, bis sie an die Grenzen des Zusammenlebens stoßen. Manchmal gibt es auch Innovationen ohne Grenzüberschreitung. Während das Fahrrad als Laufrad gerade in dem Moment erfunden wurde, als die Grenzen der Pferde, als im Jahr ohne Sommer ihre Abhängigkeit vom Futter erkannt wurde, gab es in Konstantinopel und später in Ulm keinen erkennbaren Grund zum Fliegen, außer Erkenntnisdrang. Umso mehr wurden Ahmed Celebi und der Schneider von Ulm, die den Aufwind über dem Bosporus und über der Donau erkannt hatten, verachtet und geächtet. Lilienthal entkam dem nur, weil er einen geldmächtigen und fürsorglichen Bruder hatte. Ihn fällte der Wind, aber er gilt auch als der erste Flieger.

Diskriminierung bedeutet nicht nur, einen Menschen oder eine Menschengruppe als minderwertiger – Abschaum – anzusehen als die eigene Gruppe, sondern überhaupt Mensch und Wert als Kategorienpaar zusammen bringen zu wollen. Kants berühmter Gedanke, dass im Reich der Zwecke alles entweder einen Preis oder eine Würde habe**, hatte dies Problem schon gelöst. Während alles, was einen Preis hat, austauschbar bleibt, schreibt Kant weiter, hat die Würde kein Äquivalent. Sie ist ein innerer Wert. Um einem Menschen seine ihm nach dem Naturrecht angeborene Würde zu nehmen, muss er zum wertlosen Abschaum degradiert werden. Wo es keine Grade gibt, bedarf es auch keiner Gnade. Graduierung und Hierarchie sind Fantasieprodukte des Herrscherwillens. Der Wert der Kunst besteht, schreibt Kant weiter unten, in den Gesinnungen, die aus ihr resultieren, daher die ungeheure Nachwirkung der Geistesriesen wie Beethoven.

Aber wer hört auf Kant und seinesgleichen?, könnte man sich in Zynismus flüchten. Warum soll ich deinen Vätern und Müttern mehr glauben als meinen?, argwöhnen doch alle. Aber so ist es nicht.  Eine mächtige Aushebelung dieser scheinbaren Familientreue ist das von uns viel zitierte Kindchenschema. Der große Naturforscher Konrad Lorenz fand, dass alle Tiere und Menschen auf einen gewissen hilflosen Gesichtsausdruck mit Fürsorge antworten. Lange vor Lorenz waren schon Wolfskinder beobachtet und beschrieben worden (Das wilde Kind, 1801). Jedoch wird auch hilflosen Erwachsenen die Anteilnahme der meisten Menschen sicher sein. Allerdings bewirkt die Stigmatisierung, zum Beispiel durch die Attribute des Sklaven- oder Gefangenenstatus, leider auch oft das Gegenteil. Das Problem des entflohenen Sklaven oder Häftlings ist also auf der einen Seite die Orientierung, die beim Nichtgefangenen durch die Wiederholung ersetzt wird, aber auf der anderen Seite das Wohlwollen der Mitmenschen. Ist im neunzehnten Jahrhundert ein Sklave aus den Südstaaten entflohen, so musste er nicht nur wissen, wo Norden ist, sondern er durfte auch nicht von Befürwortern der Diskriminierung entdeckt werden. Das gleiche gilt, im zwanzigsten Jahrhundert, für entlaufene KZ- oder GULAG-Häftlinge. Allein ihr Aussehen ließ ihre Haft als gerechtfertigt erscheinen. Aber andererseits wurde ihnen auch soviel Hilfe zuteil, dass sie die Freiheit erreichen und die Würde zurückerlangen konnten. Fast jeder bewundert den Mut zur Flucht. Fast niemand will stattdessen wieder Mauern und Läger bauen.

Aber der Ungeist der Diskriminierung weht durch unsere Sprachen und unsere Gedanken. Das Paradox der Strafen, dass je drastischer die Strafen, desto garstiger die Verbrechen sind, wird immer noch von vielen verkannt. Sie richten ihren Blick auf das momentane abscheuliche Verbrechen und konstruieren daraus eine Welt des Verbrechens und der Verbrecher. Die gab es aber nur in den Kreuzzügen und Kriegen, in den Hunger-, Hexen- und Fangeltürmen, in den KZs und GULAGs, schon allein diese Wörter sind Monster.  Nur wo der Mensch seiner Würde beraubt wird, als Gefangener und als Wächter, wo ihm ein Wert und Preis eingeredet wird, wird er zum zeitweiligen Unmenschen. Man kann es jetzt, wo die allerletzten Nazitäter vor Gericht stehen, beobachten, dass sie sich selbst wie in einer fernen, unverständlichen Welt sehen. Sie wissen heute nicht mehr, was sie damals taten. Ihr damaliges Verhalten erscheint ihnen selbst heute so abwegig, dass sie es nicht glauben können. Dieses infantile Unverständnis kann man am besten mit dem berüchtigten Satz des nicht minder berüchtigten Marinerichters und Ministerpräsidenten Filbinger beschreiben: ‚Was damals Recht war, kann doch heute nicht Unrecht sein.‘  Filbinger war genauso wenig Abschaum wie seine armen Opfer. Sie haben es gegenseitig von sich gedacht, weil ihr jeweiliger Wertekanon auseinanderklaffte.

Die heutigen Nazis, Rechtsextremen und Rechtskonservativen  glauben in Muslimen, Juden, Afrikanern, Flüchtlingen, Sinti und Roma, Kopftuchmädchen und Messermännern, auch Obdachlosen und Bettlern, Abschaum zu erkennen. Viele begnügen sich mit verbalen Attacken, argumentfreiem Gestammel, immer gleichen Behauptungen. Auch ihre Orientierung ist bloße Wiederholung.  Sie erklären sich selbst zu Realisten, ihre Meinung zum Fakt, die sie sich in ihren Gruppen immer wieder bestätigen lassen.

Aber greift dann einer von ihnen zum Messer, zur Pistole oder gar zur Bombe, folgt der Aufschrei in der gleichen Sprache, in der Sprache der Untäter: Abschaum.

Dagegen singt der eritreisch-deutsche Rapper FILIMON: Mensch ist Mensch und Papier ist Papier. Man kann bezweifeln, dass er Kant gelesen hat. Aber man muss auch nicht Kant gelesen haben. Man muss versuchen, ein Mensch zu sein, der nur noch Menschen kennt, weil es auch nur Menschen gibt und weil alle Diskriminierungen – Rassen, Klassen, Massen – gescheitert sind. Die Unterschiede innerhalb einer Gruppe sind immer größer als die zwischen  verschiedenen Gruppen.*** In der Verneinung liegt keine Kraft für die Zukunft. In der Verneinung von Menschen liegt der Schlüssel der Untaten und nicht ihrer Verhinderung. Untaten kann man nicht verhindern, wohl aber reduzieren durch Bildung und Würde. Getan ist, was du tust, nicht was man dir tut.

 

 

*Beethoven an Struve 1795

**Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

***Cavallho-Sforza

YOUR FACE IS YOUR PAST II

Nr. 348

Wir torkeln blind durch das Stück Geschichte, das uns zugeteilt ist, denn jegliches, sagt Salomo, hat seine Zeit. Wie Kleinkinder sehnen wir uns nach dem Gängelwagen, der in Kants berühmtestem Absatz vorkommt und sogar der Königsberger Wirklichkeit abgelauscht gewesen sein mag. Das Kind strebt in die Weite und schleppt seine Unfreiheit mit sich. Wer einen Weg sucht, wundert sich, dass es eine Einbahnstraße oder gar eine Sackgasse ist, eine Baustelle oder ein Abhang, wenn nicht gar ein mainstream, vor dem uns unsere Großmutter warnte, obwohl sie ihm selbst entstiegen war. Wie ein doppelseitiges Geländer wollen uns Traditionen und Ideologien führen. Charisma ist genauso verführerisch wie ein Aphrodisiakum oder eine Trance. Wer Halt sucht, ist genauso verloren wie der Haltlose. Eigentlich ist das ganze Leben ein Dilemma: man kommt nicht vorwärts, kann aber auch nicht stehenbleiben.

Dabei gibt die Suche nach Identität einem natürlichen Sicherungsbedürfnis Gestalt. Sind wir, fragen wir uns, wirklich nur ein Abbild Gottes, geformt aus Ton, bei Shakespeare gar nur aus einer Brotkrume, verdammt dazu, auf ewig Regeln und Strafen auszuhalten? Der Verstand mag nicht das Werkzeug sein, uns glücklich zu machen, aber er weigert sich auch, uns im Gefängnis zu belassen. Bei Seneca gibt es einen Sklaven, der in der Gladiatorenarena geopfert werden sollte, der aber stattdessen sich die Abortstange in den Rachen rammte, um selbstbestimmt und in Würde sterben zu können. Das ist eine seltsame Vorstellung, die Stange, mit der in der Antike die Fäkalien beiseitegeschoben wurden, als Symbol der Würde des Menschen, die uns ein hohes Gut geworden ist.

Leider ist die Würde des Menschen, obwohl für unantastbar erklärt, nicht das höchste Gut. Wir verharren allzu gern in der Einteilung von Qualitäten und Quantitäten. Jeder glaubt sich der oder die richtige, wenigstens zur richtigen Gruppe, Familie, Nation oder Religion gehörend. Beinahe der schlimmste Kollateralschaden daran ist, dass die zu minderwertigen erklärten sich selbst auch für minderwertig halten. Die Wertordnung gilt in ihrer Zeit für alle. Der einzige Trost, dass sie von einer anderen Wertordnung abgelöst wird, ist für die rezenten Menschen kein Trost. In ihrer Lebenszeit ändert sich nichts. Sie gehen unter und ihre Würde mit ihnen.

Von Henry Ford, der leider ein Antisemit, also auch ein aggressiver Menschensortierer, aber gleichzeitig auch ein Großinnovator war, stammt der schöne Satz, dass Geschichte Quatsch sei. Hätte man also ein Automobil konstruieren können, das auf alle Lehren aus der Geschichte Rücksicht nimmt, das alle Pferde rettet? Hätte man ein Automobil konstruieren können, das die energetisch-fossile Katastrophe vorwegnimmt oder gar verhindert? Hätte man ein Automobil konstruieren können, das eine Freiheit nicht nur vortäuscht, sondern auch tatsächlich gewährt, oder diese Freiheit eben nicht vortäuscht, sondern das sein eigenes Dilemma aufzeigt: je größer das Automobil, desto größer die Unfreiheit? Es zeigt sich, während man das alles überlegt, dass das Automobil überschätzt wurde. Es ist nur ein pferdetötendes Vehikel. Aber waren die Millionen Pferde vor dem Automobil glücklich? Wir sind nicht die ersten, die über die Würde der Tiere nachdenken. Für viele Tiere wird es zu spät sein. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem wir an unserer Häuser schreiben:

BEES AND REFUGEES WELCOME.

Denn Menschen gehören nicht in Schubladen, sondern in die Herzen und Häuser ihrer Mitmenschen. Gift gehört nicht auf den Acker oder in den Garten. Das Mittelmeer ist nicht zum Ertrinken da. Ein Kopftuch ist eine Kopfbedeckung, das gilt für Befürworter und Gegner gleichermaßen. Warum halten wir uns nicht an solche klaren Aussagen für unsere Gegenwart und suchen stattdessen unser Heil in Gruppen, Traditionen oder Ideologien?

Noch merkwürdiger ist, wer die vermeintliche Identität anderer denunzieren will. Der greift nicht selten zum Paradox: viele rechte Schreiber wollen uns einreden, dass wir eigentlich alle Nazis sind, die schleichende Diktatur und Meinungsunfreiheit hindert uns nur daran. Das würde bedeuten, dass die Nazis als Gegner eigentlich Nazis bekämpfen. Wir müssen, um das Problem zu lösen, zu Hilfsmitteln greifen, zum Beispiel zu Wahlen. Wahlen spiegeln die Wirklichkeit genauso wenig exakt wie ein Spiegel wider, sie sind, wie der Spiegel, ein Hilfsmittel, um den bloßen Kinderglauben, dass alle so sind, wie man selber zu sein glaubt, zu widerlegen. Aber indem wir diesen infantilen Unsinn als Kinderglaube bezeichnen, tun wir den Kindern unrecht, denn sie haben weniger Vorurteile, weniger Zwang und weniger Gewalt zur Verfügung als die Erwachsenen. Ein weiterer Missbrauch der ohnehin überflüssigen Identitätssuche ist die Benutzung von Tieren, zum Beispiel Wölfen, Schweinen, Hunden oder Bären als Pejorative. Die Sprache und die Gesellschaft verrohen auch, weil wir ständig etwas diskriminieren, diskreditieren und beschimpfen müssen. Wie das Automobil die unglücklichen Pferde tötete, so liquidiert das Internet die Würde von Mensch und Tier einfach durch die stündliche und millionenfache Wiederholung pejorativer Kommentare. Alles wird unflätig durch Inflation. Alles wird besser durch Enthaltsamkeit. Alles wird schlechter durch regeln, alles wird besser durch lernen, beides sind keine Substanzen aus dem Supermarkt, sondern Prozesse, Gedanken, Gefühle, Freude und Leid aus dem menschlichen Leben.

Wir torkeln also nicht durch die Geschichte, sondern nur durch unsere Geschichte. Wir torkeln durch die Welt auf der Suche nicht nur nach der verlorenen Zeit, sondern nach uns selbst. Überall sehen wir Ebenbilder. Überall wünschen wir Ebenbilder. Deshalb halten wir uns selbst auch für ein Ebenbild. Es gibt Gemeinschaften, aber es gibt keine Identitäten. Niemand ist auch nur mit sich selbst identisch. Deshalb sollten wir uns so schnell und so intensiv wie möglich angewöhnen, in jedem Gegenüber den Bruder und die Schwester zu sehen. So gesehen sind wir alle Dioskuren.

SONY DSC