MERKELS MEMOIREN

Warum Merkels Memoiren ‚Freiheit‘ heißen, kann gut mit ihrer Herkunft aus dem Osten, mit ihrem Aggregatzustand als Frau erklärt werden. In ihrer ersten Regierungserklärung bezog sie sich auf Willy Brandts erste Regierungserklärung, in der er ‚mehr Demokratie [zu] wagen‘ versprach. Sie wollte ‚mehr Freiheit wagen‘. Die Frage ist nun, warum eine law-and-order-Partei sich die Freiheit auf die Fahne schreibt. Partei und Parteivorsitzende sind nicht identisch, wie man leicht an der SPD studieren kann, die hat auf der einen Seite Bebel und Brandt hervorgebracht, auf der anderen Seite aber auch unterirdische Figuren wie Lafontaine und Scharping. Später ist Merkel unterstellt worden, sie hätte die CDU sozialdemokratisiert, von rechts in dieselbe Mitte transferiert, die kurz vor ihr Schröder und Blair, auch sie Parteivorsitzende, für ihre Parteien reserviert hatten.

Tatsächlich aber ist Merkel durch eine Verkettung für sie günstiger Zufälle an die Spitze von Partei und Land geraten, genauso wie Schröder aus seiner Armensiedlung. Biografien sind so wenig geradlinige Prozesse wie die Geschichte selbst. Die Koinzidenz von Person und Ereignis ist selbstverständlich zufällig und irrational. Deshalb gibt es Mathematik: um das Irrationale doch und irgendwie abzubilden. Deshalb ist einer der ersten Schlüsselsätze von Angela Merkel, dass sie zwar eine Wissenschaftlerin war, aber Gefahr lief, nicht bemerkt zu werden. Deshalb ist ihr Leben gegenüber reinen Parteisoldaten schon von vornherein abgehoben.

Für die ganze Klasse der rheinisch-katholischen Männer-CDU war Merkels Leben bis 1989 höchst erklärungsbedürftig. Mit der Spendenaffäre Kohls war andererseits ebendieser Männerzirkel an seine Toleranzgrenzen gelangt. Und drittens schließlich war das ganze Projekt der Volksparteien sichtlich beendet. Sie konnten nur noch um dieselbe Mitte kreisen. Die neuerliche Diskussion um den §218, den 80% der Bevölkerung abgeschafft sehen möchten, zeigt, wie weit die Bewahrungspartei sich von der Bewegungsbewegung entfernt hat, die in der Heimholung der Flüchtlinge des Sommers 2015 kulminierte. Unter Heimholung (‚Heim ins Reich‘) verstand man bis dahin irredentistische aggressive Akte wie die Rückeroberung des Saarlands, des Sudetenlands oder danach des Donbass. Merkel – in Absprache mit dem sozialdemokratischen österreichischen Kanzler Faymann – stellte dieses Prinzip vom Kopf auf die Füße: gerettet oder heimgeholt werden muss, wer sich in einer Notlage befindet. Es ging nicht um die allerdings sehr große Anzahl der Flüchtlinge dieses Jahres, sondern um jene, die von Viktor Orban auf die Straße – auf die Autobahn – getrieben worden waren: mehrere tausend Menschen, die schon eine dramatische Flucht vor allem auch aus Syrien[1] hinter sich hatten und denen nun zunächst Busse und dann Sonderzüge entgegengeschickt wurden. Die Bilder von ihrer Ankunft in München gingen um die Welt und zeigten Deutschland als Heimat der Menschlichkeit. Das hinderte aber die Bewahrungspartei, damals noch von Horst Seehofer, jetzt von Höcke, Weidel und Wagenknecht angeführt, nicht, entgegen dem offensichtlichen Willen einer Mehrheit auf dem Prinzip zu beharren, es zu bewahren, statt auf das Leben zu sehen und zu hören und etwas zu bewegen. Angela Merkel schreibt schon im Prolog ihres voluminösen Buches, dass die Rechtfertigung dieser weltpolitischen Szene der eigentliche Anlass für das bemerkenswert ausführliche, aber doch auch sehr schnelle Schreiben dieser Memoiren war. Diese Passagen sind auch spannend geschrieben, die eigene Erinnerung und der Text laufen über viele dutzende von Seiten synchron.

Die evangelischen Pfarrer in der DDR waren grob in zwei Gruppen geordnet vorstellbar: die Widerstandskämpfer, deren Konsequenz dann Gefängnis oder Brüsewitz-Syndrom[2] sein musste, und die Opportunisten, die mehr oder weniger mit der Schönherr-Formel ‚Kirche im Sozialismus‘ lebten. Zu denen gehörte auch der Vater von Angela Merkel, Horst Kasner, der noch dazu nicht Gemeindepfarrer, sondern Leiter eines Pastoralkollegs war, einer Fortbildungsstätte für Pfarrer. Das war der Verknüpfungspunkt der Merkel-Biografie mit der DDR-Geschichte, und nicht etwa, wie später vor allem von Pegida, AfD und Corona-Leugnern behauptet wurde, ihre Involvierung in die FDJ. Die FDJ war, außer in den Anfangsjahren der DDR, eher lächerlich. Die militaristische Infiltration oblag der GST, nicht der FDJ. So kann Merkel ihre Kindheit und Jugend glaubhaft und ohne Brüche als Idylle schildern. Zudem war sie eine Musterschülerin, die ihren Mangel an gesellschaftlichem Engagement durch die Teilnahme an den Russischolympiaden kompensieren konnte. Zur gleichen Zeit lernte in Dresden ein KGB-Offizier Deutsch. Im Gegensatz zu Merkel war und ist Putin geprägt von seiner Vergangenheit in einem Leningrader Hinterhof, dort im Kampf mit Ratten und Kriminellen, und später durch seine Ausbildung in einem der repressivsten Geheimdienste. Das war kein gutes Omen und schon gar keine Idylle.

Erst nach dem Studium kollidierte Merkel das erste Mal mit dem Staat, als sie in Ilmenau promovieren, aber nicht auf die Teilnahme an der evangelischen Studentengemeinde verzichten wollte und ebenso wenig bereit war, in dieser Gemeinde für die Staatssicherheit zu spionieren.

Ich habe nie CDU gewählt, auch nicht während ihrer Kanzlerschaft, mich interessierten an ihr nur die zeitliche und räumliche Nähe unserer Lebenswege und ihre überdurchschnittliche Fähigkeit, Krisen zu meistern. Nachdem ihre Ehe mit dem namensgebenden Dr. Merkel beendet war, eine Studentenliebe nennt sie sie, kam sie mit Dr. Sauer zusammen, der später ein bedeutender Chemiker und Professor wurde. Die eher provisorischen Altbauwohnungen in Ostberlin ergänzten die beiden bald – noch in der DDR-Zeit – durch den Ausbau eines nach 1945 von Umsiedlern, wie es bei uns hieß, oder Vertriebenen, wie sie im Westen genannt wurden, gebauten Hauses, das der Bauzeit und den Umständen entsprechend in einem schlechten Zustand war. Darin wohnen die beiden, neben der Wohnung gegenüber dem Pergamonmuseum, noch heute. Das ist der ganze Luxus der einst mächtigsten Frau der Welt.

Ausführlich beschreibt sie das Krisenmanagement, durch das sie weltberühmt wurde, jedenfalls in Politikerkreisen und dem interessierten Publikum. Die Griechenlandkrise, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch Lehman Brothers ausgelöst worden war, die Flüchtlingskrise und schließlich die Pandemie hat sie mit dem Stoizismus der märkischen Hausfrau, die sie auch ist, überstanden.

Während man gut verstehen kann, warum sich in der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine rechtskonservative Opposition bildete, bleibt dieses Verständnis während der Pandemie aus und wird von Merkel auch leider nicht vertieft. Selbst die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten wurden in vielen Städten und Dörfern unfreundlich bis feindselig aufgenommen. Mit dem Schimpfwort ‚Zigeuner‘ sollte wohl ausgedrückt werden, dass ihnen ein Mangel an Sesshaftigkeit nachgesagt werden kann. Flucht ist immer mit tatsächlichem Verlust auf Seiten der Flüchtlinge und Verlustangst auf Seiten der aufnehmenden Gesellschaft verbunden. Merkel und Faymann haben mit ihren – auch gegen die Dublin-Vereinbarungen verstoßenden – Entschlüssen einen größeren, menschlichen und auch christlichen Zusammenhang hergestellt, wie das in der Politik wahrlich selten ist. Die Bildung von teils recht aggressiven Oppositionen ist zwar nicht richtig und auch nicht verständlich, aber doch wenigstens verstehbar. Geld wird immer wieder als Pool, als endliche Menge vorgestellt. Wie vieles im Leben und in der Geschichte ist Geld aber ein Fluss. Die Billionen Euro, die durch Merkels umfangreiche Memoiren fließen und durch ihre Hände flossen, zeigen, wie falsch unsere absoluten Begriffe vom relativen Geld sind. Mir bleiben dagegen die Protestanten gegen die Pandemie-Maßnahmen bis heute ein Rätsel, da wir alle, die Politiker wie das Wahlvolk, nicht wissen konnten, was richtig und was falsch ist. Selbst Aktionismus war besser als abwarten oder vertuschen, wie es während der Spanischen Grippe, begünstigt durch den gleichzeitigen ersten Weltkrieg gang und gäbe war.

Die siebenhunderteinundzwanzig Seiten der Merkel-Memoiren zeigen, dass der Mensch, sei er nun Regierender oder Oppositioneller, nicht allwissend ist. Zum Leben gehört immer auch ein Grundvertrauen. Empörung ist keine Lösung, noch nicht einmal eine Option. Alternativlos ist nichts, aber nicht jede Wut ist schon eine Alternative. Wenn auch das letzte Drittel des Buches, wie auch schon vorher ein Abschnitt, wie der abgeschriebene Terminkalender wirkt, so bleibt es doch in seiner Gesamtheit nicht nur gut lesbar, sondern auch erhellend. In die Geschichte eingehen wird Angela Merkel mit ihren berühmtesten drei Worten, dem Credo aller Pragmatiker: WIR SCHAFFEN DAS.  

      


[1] Gerade heute [8. Dezember 2024], als ich das schreibe, wurde endlich der syrische Diktator Bashar al Assad gestürzt. Die neue Herrschaft muss nicht – aber kann – besser sein als die alte, aber es gibt einen Bösen weniger auf der Welt.

[2] Oskar Brüsewitz, umstrittener evangelischer Pfarrer, der sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche in Zeitz selbst verbrannte