HOFFNUNG

THE WORLD IS NOT THY FRIEND NOR THE WORLD’S LAW[1]

Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen[2].

schnelllangsam
TechnikHeimat
GeldLiebe
KommunikationGlaube
MobilitätNobilität
KulturNatur

Gift und Geld sind zwei schnelle Lösungen für hoffnungslose Situationen. Ein junger Mann will seine Geliebte und sich umbringen – ihm fehlt das Gift. Einem Apotheker fehlt das Geld, aber stattdessen hat er reichlich Zweifel und Skrupel. Romeo, der resignierte junge Mann, sagt in seiner forschen Jugendlichkeit: die Welt ist nicht dein Freund. Freud hat es 1930 allgemeiner beschrieben: das Leben ist zu schwer ohne Schlaf und Traum und Betäubung[3], denn wo die Hoffnung fehlt, regiert das Gift.

Einerseits bemächtigen sich fast alle Ideologien, Philosophien und Religionen der Hoffnung als willfähriges Instrument, andererseits wird sie als vermeintliche Weichspülung verächtlich gemacht. Wer an das Recht des Stärkeren glaubt, braucht keine Hoffnung, denn er glaubt sich schon als Gewinner. Wer sich als Verlierer sieht, braucht meist auch keine Hoffnung, denn er sieht sich schon verloren. Hoffnung ist das Salz in der Suppe.  

Wohl die meisten Bewohner des Anthropozäns setzen auf die schnelle Hoffnung, auf Technik und Geld, auf die Geschwindigkeit der Gedanken und Gestalten und glauben an die Macht der Raserei. Aber es gibt auch die Fraktion der Langsamkeit. Sie setzt auf Heimat und Glaube und glaubt, dass Heimat nicht vergeht und Liebe ewig fortbesteht. Letztlich geht es immer auf die uralte Fehde zwischen Freiheit und Ordnung zurück. Wir erfinden eine Technik nach der anderen, das Rad und den Roboter, um uns die Arbeit zu erleichtern und beschleunigen. Andererseits hängen wir an der inneren und äußeren Heimat, an der Muttersprache wie am Vaterland. So sagen manche: Geh dahin, wo du hingehörst. Sie wollen die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht gestatten und hoffen selber auf den Bestand, darauf, dass sich alles gleichbleibt.

Selbst im Sprichwort wird die Hoffnung diskreditiert: hoffen und harren / hält manchen zum Narren. Da ist sie wieder: die Zweiteilung, die Dichotomie, damit die einen gut und richtig sein können, müssen die anderen zu Narren erklärt werden. Wer auf Emanzipation hoffte, war ein Narr wider die Ordnung. Darüber wurde das gesamte neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert zur Epoche der Emanzipation der Frauen, der Kinder, der Afrikaner, der Mühseligen und Beladenen, der Kranken, all jener, die anders sind. Es sollte und wird kein Anders mehr geben, nichts anderes heißt ja ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER[4], wie der Schwesternfreund nicht nur wegen des Reims und wegen des Rhythmus dichtete, nein, auch wegen seiner zeitgemäßen Blindheit.   

‚Vielleicht liegt die Wurzel unserer Misere, der menschlichen Misere, darin, dass wir die ganze Schönheit unseres Lebens opfern, uns von Totems, Tabus, Kreuzen, Blutopfern, Kirchtürmen, Moscheen, Rassen, Armeen, Flaggen und Nationen einsperren lassen, um die Tatsache des Todes zu leugnen, die einzige Tatsache, die wir haben.‘[5] Vielleicht wird alles besser, wenn wir die Hoffnung als Tatsache zulassen und nicht mehr als Narretei abtun.

Ziel der Hoffnung ist das Ende jeder Dichotomie, wenn wir das Sowohlalsauch nicht mehr als Beliebigkeit oder Synkretismus oder als cancel culture verstehen, sondern als Chance, als Synthese, als Komposition, als Kreation unseres Selbst. Ziel der Hoffnung ist es, dass auf unserm Klavier keine Reihe von Tasten als unberührbar gilt.[6]  Ziel der Hoffnung ist es, dass die Hoffnung nicht aufhört.   


[1] William Shakespeare, Romeo und Julia, 51

[2] 1. Brief des Paulus an die Korinther, 1313

[3] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1984, S. 73

[4] Friedrich von Schiller, Ode an die Freude, Werke, Cotta 1869, Band 1, S. 53

[5] James Baldwin, Nach der Flut das Feuer, dtv München 2018, S.100

[6] Albert Schweitzer, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Ostberlin 1963, S. 59

DIE WELT, DIE FUGEN UND DIE HOFFNUNG

The time is out of joint, o cursed spite,

that ever I was born to set it right.

SHAKESPEARE, Hamlet, I5

Plädoyer für Dankbarkeit, Demut, Muße, Heiterkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Auf der einen Seite war sie noch nie ‚in den Fugen‘, auf der anderen Seite sagt diesen berühmten Satz eine Kunstfigur, ein Zauderer mit Atemnot, der sich noch nicht einmal für die Frau entscheiden kann, die ihn liebt. Er schickt also sie in den Wahnsinn und die Welt in das Chaos. Aber da ist die Welt schon. In dem berühmten Theaterstück werden Politiker gezeigt, die damals mit Mord und Totschlag, heute mit Filz und Fake ihre kleine Politik besserwisserisch durchsetzen wollen, nicht, weil sie besonders schlecht und böse wären, sondern weil sie Menschen sind wie du und ich. Aber wir, die Konsumenten von Politik, sind andere geworden. Wir sind keine Analphabeten mehr, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Wir sind keine unmündigen Elemente eines zwar funktionierenden, aber doch hierarchisch-autoritären Systems. Das nächste ABER muss gleich folgen: und autoritäre und hierarchische Systeme funktionieren nur soweit und solange ihr Zusammenbruch mit drastischen Strafen vorweggenommen und gleichzeitig zu verhindern versucht wird. Wer das System bedroht, wird bedroht. Dadurch verrohen die, wie Rousseau meinte, anfangs idealen Sitten. Die Demokratie versucht nun das Gegenteil, sie macht die Menschen nicht nur mündig, sondern auch zu Produzenten der Verhältnisse. Allerdings stößt sie dabei auf fast gleich erbitterte Widerstände wie seinerzeit und seinesorts der Autoritarismus. Gegen ihn richtet sich der Freiheitswille des Individuums, den man an jeder Stubenfliege am Fenster beobachten kann, an jedem Käfer im Glas. Gegen die Freiheit der Demokratie richtet sich der Ordnungszwang, dem wir ebenso unterliegen. Wir glauben, und alle Religionen und Philosophien bestärken uns in diesem Glauben seit Jahrtausenden, dass die Welt ursprünglich oder eigentlich geordnet, aber durch den bösen Willen und Unverstand immer wieder ins Chaos abzurutschen gefährdet sei. Das ist der Grund, warum sich jede Ordnung, sei sie nun autoritär oder liberal, für alternativlos erklärt. Das gilt im Übrigen auch für Texte. Man könnte keine Politik machen, wenn man an Alternativen glaubte. Man muss sich für richtig halten, wenn man etwas tun will. Wenn man sich alte Bundestagsdebatten anhört, dann kann man das sehr schön illustriert finden: jeder Redner – zum Beispiel Strauß und Wehner – geht zwar auf die Argumente der anderen Seite ein, aber nur, um festzustellen, dass lediglich die eigene Politik das Problem lösen kann und wird.

Es gibt allerdings zwei Auswege, die sich natürlich, wie alles auf der Welt, überschneiden und nicht etwa unversöhnlich gegenüberstehen. Das Wort unversöhnlich scheint einen gemeinsamen Sohn doch nur auszuschließen, denn praktisch, das weiß jeder, gibt es, wo Menschen aufeinandertreffen, immer auch Söhne und Töchter. Der erste Ausweg sind charismatische Führer.

1

Führer scheut Diskurs.

[Arbeitshypothese: Könnten die Führer die Lösung sein, wenn sie den Diskurs zuließen?]

Sie demonstrieren ihre Macht und glauben, dass jedes Problem mit ebendieser Macht zu lösen sei. Aber die Macht ist nur eine taube Nuss, ebenso wie das Talent, wenn es keinen Inhalt, keinen Fleiß, kein Abarbeiten der Einzelfälle gibt. Es hilft selbstverständlich nicht, wenn die Menschen nur in Gruppen eingeteilt werden: Freund und Feind, Mann und Frau, innen und außen, schwarz und weiß, rechts und links. Das Charisma des Führers erlaubt die einfachen, unglaubwürdigen Lösungen. Aus Erfahrung weiß man eigentlich, dass es nicht geht. Alle autoritären Gesellschaften verweisen deshalb auf die Weisheit des Führers (DAS KARPATENGENIE) oder der führenden Gruppe (DIE PARTEI DIE PARTEI DIE HAT IMMER RECHT), denn: bei aller Rechthaberei oder Besserwisserei, wer bezeichnet sich selbst schon als weise? Darauf setzt die Autorität. Sie glaubt, dass sie nur durch Gegengewalt gestürzt werden kann. Tatsächlich aber haben sich alle Diktaturen durch ihre Inkompetenz selbst gestürzt. Das Hitlerreich hat die eigenen Kirchtürme bombardiert, um nicht zugeben zu müssen, dass es zurecht verlor; das zusammenbrechende Sowjetreich hat, hier bei uns, alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen, wohlwissend, dass es in die Armut zurücktorpediert würde.

Putin bombardierte oder annektierte Tschetschenien, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, die Krim, den Donbass und Luhansk, Syrien, und schließlich die Ukraine, um zu verdecken, dass es im eigenen Land durch eigene Schuld für die ländliche Mehrheit weder WCs noch sonst einen Wohlstand gibt. Nationalismus braucht keinen Wohlstand, dafür reicht das Staatsfernsehen. Wohlstand braucht keinen Nationalismus, deshalb sind wir in jenem Staatsfernsehen das Beispiel für Dekadenz und Untergang. Die ganze Misere der Autokratie wird auf uns projiziert, und die genervten Bewohner der Autokratie sind getröstet, dass es den anderen – also uns – wenigstens schlechter geht als ihnen. Leider erleben wir seit drei Jahren als Zeugen einer erbärmlichen Geschichte mit, wie der Tyrann nicht nur seine Nachbarn und den lange herbeidiskutierten Konsens schwer beschädigt, sondern das eigene Land in den Orkus seines Untergangs mitreißt.

2

Diskurs scheut Führer.

[Arbeitshypothese: Könnte der Diskurs die Lösung sein, wenn er Führer zuließe?]

Der Diskurs demonstriert eher die Unmöglichkeit, ein Problem zu lösen als die Möglichkeit. Den Kompromiss empfinden viele Menschen als Schmach. Es ist schwer einzusehen, dass man selbst nicht recht hatte oder nichts zur Lösung beitragen konnte. Das Ausdiskutieren jedes Problems dauert manchmal Generationen. Bei uns in Deutschland wurde zum Beispiel der § 217 des Strafgesetzbuches, also die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, hundert Jahre lang diskutiert. Deshalb sehnen sich die Menschen in diskursiven Systemen so oft nach Ordnung, Charisma, vielleicht einfach nur nach Anhaltspunkten. Eine Demokratie ist also schlecht beraten, immer wieder aufs Neue, aus Kostengründen, wegen der Rationalität oder aus anderen Gründen, Ordnungen zu beseitigen. Demokratie ist ohnehin schon schwer zu verstehen, wenn dann auch noch die Kreisverwaltung schließt oder der Name des Heimatortes in eine anonyme Bezeichnung – ORTSTEIL – geändert wird, verlieren die Menschen Vertrauen und Orientierung.

Wenn einem Staatsvolk, dem ein intensiver Glauben an die Staatsmacht als Inbegriff nicht nur der notwendigen Bürokratie und Ordnung, sondern als pseudoreligiöse Allmacht abverlangt wurde, der Staat unter dem Boden verschwindet, so bricht nicht nur die Ordnung selbst zusammen, sondern verschwindet auch der Glaube an sie. Das scheint mir der Hauptunterschied zwischen West- und Ostdeutschen: auf der einen Seite Kontinuität, wo es sie nicht hätte geben dürfen, auf der anderen Seite unverdiente doppelte Diskontinuität, die als Progress gepriesen wurde.

Viele vermuten daher als Urheber von Ereignissen einen Masterplan oder sogar eine Weltherrschaft. Der Prinz in unserem Titelzitat beklagt nicht etwa, dass die Welt aus den Fugen, sondern dass ausgerechnet er dazu berufen sei, sie wieder in Ordnung zu bringen. So gesehen sind wir alle Egoisten. Wir glauben immer und überall, dass wir gemeint sind. Wir können uns nicht für anonym halten, weil wir einen Namen haben. Wir haben einfach vergessen, dass wir, um einen Namen zu haben, uns erst einen Namen machen müssen. Wer aber in der Demokratie seine Namenlosigkeit beklagt, wie will der in der Diktatur glücklich werden? Er kann nur erfolgreich sein durch den Ausschluss anderer, und das verbietet nicht nur die Menschlichkeit, sondern das verbieten auch alle Religionen und Philosophien, allerdings im Kleingedruckten. Der Preis des Sieges ist das, was man nicht hören will. Niemand lässt sich gerne belehren von Menschen, die unter ihm stehen. Wie soll er da verstehen, dass niemand unter ihm steht?

3

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Sie verbessert sich nur langsamer, als wir gehofft haben. Niemand ist allein berufen, die Welt zu verändern. Keiner kann allein die Probleme der Menschheit lösen. Nur der Diskurs selbst ist alternativlos, allerdings sollte er das Charisma zulassen. Charismatiker sollte man weder erschießen oder ans Kreuz nageln, weil man niemanden erschießen oder kreuzigen darf, noch unterdrücken, weil man niemanden unterdrücken sollte, noch nach ihrem Tod diskreditieren, weil man keinem Toten Schlechtes nachreden muss, denn man kann ihn nicht mehr ändern.

Vielmehr müssen wir lernen, den Diskurs und das Charisma auszuhalten. Unsere Medien sind nicht unsere Kompetenz, sondern nur unser Krückstock. Krückstock und Rollator* sind aber keine Wegweiser. Was also weder Politik noch Medien, leider aber auch nicht die Kirchen in ihrem bürokratischen Phlegma uns geben können, ist die dringend benötigte Hoffnung, von Zuversicht wollen wir gar nicht reden. Es bleibt eigentlich nur die Kunst, die allerdings quantitativ und qualitativ in eine nie dagewesene, fast inflationäre Riesendimension eingetreten ist, jegliches elitäre Merkmal für immer abgelegt hat, als das große Hoffnungsmedium.

Hoffnung ist sowohl eine ganz triviale Größe: wie viele hoffen auf einen Lottogewinn? Aber Hoffnung ist auch eine Kategorie der moralischen Oberklasse: das Neue Testament der Bibel stellt sie an die Seite des Glaubens und der Liebe**.

Glauben würden wir uns heute nicht (nur) als Mitgliedschaft in einer Glaubenskongregation vorstellen, wenn diese auch darauf insistieren. Glauben würden wir heute eher als ein Urvertrauen sehen wollen, das notwendigerweise mit den Eltern beginnt. Dabei ist die Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft nicht ausgeschlossen, aber auch nicht Bedingung. Jede Gemeinschaft drängt auf Hierarchie und Spaltung. Bei der Hierarchie ist die Bürokratie, die Ordnung, das Regelwerk eingeschlossen. Die Schismen entstehen sowohl durch den Diskurs als auch durch das Charisma der gewählten oder selbst ernannten Führer.

Es ist eines der größten Wunder der Liebe, dass sie sich im zwanzigsten Jahrhundert, das gleichzeitig der Tiefpunkt von Hass, Rache, Krieg, Mord und Totschlag war, das Auschwitz, My Lai, Waco (Texas), Gulag, Kulturrevolution hervorgebracht hat, so großer und wirkmächtiger Propheten oder Philosophen bedient hat: Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, James Baldwin. Sicher tut man dem Bösen unrecht, es so fragmentarisch aufzuführen, und erst recht dem Guten, das natürlich viel mehr Gute hervorgebracht hat. Es ging nur darum, das zwanzigste Jahrhundert nicht von seinem Makel als böse zu befreien, sondern es gleichzeitig auch als Ausgangspunkt der Liebe zu benennen. Die momentane Weltlage scheint dem zu widersprechen: die Autokraten formieren sich. Aber das täuscht. Es ist eine Krise der Demokratie, eine Krise des Diskurses, die Sehnsucht nach der Autorität verstärkt. Wenn der Diskurs in der Unkenntlichkeit der Beliebigkeit zu versinken droht, wird der Ruf nach Kontrapunkt und Führung laut. Es ist schon fast peinlich hinzuzufügen, dass bei uns in Deutschland die Bürokratie alles ersticken könnte, was an Edlem, Gutem und Hilfreichem hervorgebracht wurde.

Die Empathie ist die Schwester der Liebe und gleichzeitig das Bindeglied zur Hoffnung. Wenn es die krasseste Forderung ist, seine Feinde zu lieben, so ist das bis auf den heutigen Tag von allen Religionen und Philosophien verfehlt worden. Aber es ist auch keine Tatsachenbeschreibung, sondern eine Maxime. Ihre Verwirklichung setzt Empathie voraus. Zugegeben: Empathie ist auch ein Modewort, das aber seinen Ursprung im Mangel an Hoffnung hat. Würden wir uns in unsere Gegenüber besser einfühlen können, so müssen wir sie immer noch nicht lieben, aber es besteht Hoffnung.

Die Spaltung der Gesellschaften wird immer mehr vertieft durch das wachsende Unvermögen, sich in andere hineinzuversetzen. Individualisierung und Globalisierung stehen in Opposition zueinander. Leider wird viel Geld damit verdient, den Hass und die Angst zu forcieren. Die Demokratie und der Liberalismus müssen alle Meinungen erlauben und schützen. Alle Versuche, an diesen Grundprinzipien zu schrauben, führen zu ihrer Auflösung. Aber gegen Angst und Hass darf und muss man jederzeit argumentieren.

Deshalb muss die Hoffnung von außerhalb kommen, nicht von außerhalb der Gesellschaft, sondern von außerhalb der sich widersprechenden Gruppen. Es müsste einen Pool der Dankbarkeit, der Demut, der Muße, der Heiterkeit, der Freundlichkeit und der Hilfsbereitschaft geben. Mag sich jede und jeder heraussuchen, was ihrem und seinem Wesen gemäß ist, womit sie oder er in der Welt wirken will. Es klingt wie Sonntagspredigt, wird aber durch diesen Makel nicht unwahrer oder unwichtiger: Wenn jede/r ab morgen etwas besser ist als heute, wird die morgige Welt besser sein als die heutige. Wenn wir alle freundlicher sind, wird die Welt freundlicher. Von einer Gruppe Jugendlicher bin ich einmal gefragt worden, ob ich religiös bin, weil ich eine Gefälligkeit mit dem Satz begründete, dass man und frau jeden Tag eine gute Tat tun soll. Ist es nicht traurig, dass dieser schöne Satz nicht aus der Sonntagspredigt stammt, sondern von Lord Baden-Powell, dem Begründer der Boy Scouts?

Empathie mag ein Modewort sein, aber umso wichtiger ist die Botschaft, Empathie statt Emphase*** zu üben und zu stärken. Wenn wir dann auf dem berühmten Sterbebett oder wo immer wir bilanzieren wollen, sagen können, ja, die Zeit war durcheinander, aber ich habe daran gestellt, das wäre gut.  

*bei Kant heißt es noch ‚Gängelwagen‘

**1. Korinther 13

***Emphase = Verstärkung eines Gefühls, Ausruf;   Empathie = Einfühlung, Mitgefühl

JEDE KETCHUPFLASCHE HAT EINEN NAMEN…

Nr. 329

Über ‚CAPERNAUM‘ von Nadine Labaki

…und ein Herstellungs- und ein Verfallsdatum, nur illegale Flüchtlinge nicht, sagt der Menschenhändler auf einem Beiruter Markt, der zum Schein und zur Geldwäsche einen Marktstand betreibt und den Menschenfreund spielt. Der Film wiederum spielt mit der Realität. Die Slums von Beirut kommen dem Zuschauer wie in einem Dokumentarfilm ganz nahe. Und deshalb wirkt der unglaublichste fiktive Fakt ebenfalls realistisch: dass der kleine Zain seine Eltern verklagt, so wie alle Kinder in den Slums und auf den Flüchtlingsbooten uns, die Erwachsenen dieser Zeit, verklagen müssten, weil wir der Verantwortung, die wir uns entweder durch sie, die Kinder, oder durch unser luxuriöses Leben aufgeladen haben, nicht gerecht werden. Aber auch die Eltern des ungeheuer starken Zain sind Opfer ihrer Unbildung, ihrer Abhängigkeit, ihrer Mutlosigkeit und ihres Fatalismus. Dieses ganze Leben handelt nur von Müll und Leid. Alle Gegenstände, die man sieht, stammen aus und kommen wieder in den Müll. Nichts ist etwas wert. Es gibt keine Werte. Und da das Leben ebenso wenig wert ist, ist die zweite Komponente, das Leid, noch stärker als der Müll. Und trotzdem geht es um Fürsorge und Zuversicht.

Kapernaum – in verschiedenen Schreibweisen – ist sowohl eine biblische als auch eine historische Stadt. Yesus hat mehrfach in ihr gelebt und gelehrt, allerdings nicht in der vor hundertfünfzig Jahren ausgegrabenen Synagoge, sondern in ihrem Vorgängerbau. Mehrere seiner Jünger stammten von hier. Einst wurde Yesus von einem römischen Hauptmann gebeten, dessen Knecht zu heilen. Und da er nicht glaubte, dass Yesus dafür in sein Haus kommen musste, das der Hauptmann als zu klein und niedrig empfand, wurde er von Yesus vor dem versammelten Volk für seinen Glauben gelobt. Kapernaum versank 746 in einem Erdbeben in der Wüste. Vielleicht hat es dann so ausgesehen, wie die Slums von Beirut heute. Der Glaube des Hauptmanns an Heilung und seine Fürsorge ließen ihn zum allgegenwärtigen und noch heute verständlichen Symbol werden.

Der erste Mensch, um den sich der schon mit der Arbeit im Laden des Vermieters überforderte Zain kümmert, ist seine Schwester Sahar. Sie mag die Lakritze des Vermieters und Arbeitgebers Assad, aber Zain ahnt, dass sie an ihn verkauft werden soll. Was er nicht ahnt, ist, dass er sie nie wiedersehen wird. Erst als er den Kampf um seine Lieblingsschwester verliert, verlässt er die Bretterbude ohne Betten und ohne Liebe. Die schöne Äthiopierin Rahil, die so gerne Tigest hieße und für gefälschte Papiere spart, vertraut ihm ihren kleinen, nirgendwo registrierten Sohn Yonas an, um den er sich bis zur Verzweiflung sorgt. Zain ist ein ungeheuer durchsetzungsfähiger Junge. Er besorgt ein Skateboard, auf das er einen Topf montiert, in dem er den ungeheuer folgsamen hochempathischen kleinen Yonas durch die Slums und Märkte navigiert. Ein syrisches Flüchtlingsmädchen gibt ihm marktwirtschaftliche Tipps und vor allem eine Zukunftsperspektive: in Schweden, sagt sie, haben die Kinder eigene Zimmer, wo die Erwachsenen anklopfen müssen. Zain verkauft zunächst den Hausrat, der im Gegensatz zu dem seiner Eltern wenigstens verwertbarer Müll ist. Leider verkauft er auch wieder das aus Schmerztabletten gewonnene Rauschwasser, was ihn der Gewalt der Halbstarken unterliegen lässt. Man vergisst, wie der Richter in der Rahmenhandlung, ständig das Alter des kleinen Zain.

Die ganze Zeit überlegt man als Beiwohner dieser Tragödie, die aber immer wieder durch das Lächeln des Schützlings Yonas aufgehellt wird, den Zain wider allen Anschein stets als seinen Bruder ausgibt, welches Leid das größte ist: der Verlust der Schwester, das Aufbegehren gegen die verantwortungslosen Eltern, die Überforderung mit Yonas, die Verhaftung von Rahil, der Mutter des Yonas, der Verlust des Geldes, der endliche Verkauf des Yonas an den Menschenhändler, der Mordversuch an Assad, der für den Tod der Schwester verantwortlich ist, das Gefängnis in Beirut, die Zeugenaussage der Eltern vor Gericht. Es ist eine Kette von Leid und Müll und Tod.

Im Gefängnis, dessen Zustände für uns nicht erzählbar sind, tritt eine christliche Gruppe auf, die hilflos, geradezu albern wirkt, aber als sie eine christliche Schnulze singt, wirkt plötzlich die Kraft der Musik. Nach der Liebe ist die Kunst die zweite große Kraft. Die Musik des Films – von Khaled Mouzanar, das ist der Ehemann von Nadine Labaki – ist eine bezaubernde Mischung aus orientalischem und elektronischem Mirakel. Man vergisst sie streckenweise, genauso wie man vergisst, dass man nicht in einem Dokumentarfilm sitzt.

‚Capernaum‘ erzählt eine große Geschichte mit großen Mitteln. Die Unmittelbarkeit erinnert an Iñarritus ‚BABEL‘, aber es geht um etwas anders. Es geht darum, dass wir übersehen, dass in dem Müll und Leid und Tod der Slums der großen Städte, die nach dem Vorbild der europäischen und nordamerikanischen großen Städte gewachsen sind, nur dass in ihnen statt Industrie nichts als falsche Hoffnung blüht, dass in diesen Slums die Grundwerte der Menschheit weiter gültig blieben, entgegen dem Anschein, der einerseits durch Menschenhändler und andere Kriminelle, andererseits durch den repressiven Staat entsteht. Der Staat ist aber gleichzeitig auch der Bewahrer ebendieser Werte. Ein pensionierter Richter, der in der Spencer-Tracy-gleichen Rolle (‚Das Urteil von Nürnberg‘) die Hilflosigkeit des Staates, der Gesellschaft und ihrer Institutionen, aber auch ihre Funktion als Korrektiv und Katalysator zeigt. Nadine Labaki, die Filmemacherin, spielt sich selbst, sie ist die Anwältin, die zu einer Nebenrolle verdammt ist.

Tolstoi schon stellte die Frage, was aus dem Intelligenz- und Moralpotential all der Menschen wird, die nicht in die von ihm gegründete Schule gehen konnten. Wir müssen uns fragen, warum wir die Kraft dieser Kinder aus dem Müll vergeuden, statt sie zu schützen und zu nützen. Die Zukunft der Menschheit wird nicht Industrie mit Menschenhand sein. Damit die großen Städte, die anscheinend nicht verhinderbar sind, zu Städten der Hoffnung werden, brauchen wir verschenkbare Bildung, nicht verschenkte. Die trostlosen Eltern der Kinderschar in diesem Film überlegen kurz, ob sie dem Wunsch Zains nicht nachgeben sollten und ihn zur Schule schicken. Ihr einziges Motiv ist aber, dass er dort kostenlose Schulkleidung und Lebensmittel bekommt. Den Wert bedruckten Papiers können sie nicht erkennen, weil sie es weder haben, noch lesen könnten, wenn sie es hätten.

Libanon ist ein religiös und politisch zerrissenes Land. Aber schon in der Antike hatte es eine Scharnierfunktion zwischen Orient und Okzident. Es hat großartige Dichter hervorgebracht, die hierzulande niemand kennt. Labaki lässt einige ihrer Protagonisten so sprechen, wie unser Klischee von Dichtung im Orient geht. Aber vielleicht ist das gerade der Realismus?