HASS IST EIN GROSSES WORT

 

Nr. 249

Eine Antwort an Ahmad Hashish

Der Flüchtling, also du, und die deutsche Gesellschaft, also ich, haben je zwei Probleme mit sich, die sich so miteinander verschränkt haben, dass man von je einem Dilemma reden kann. Das ist ein Problem, bei dem es zwei Lösungen gibt, die beide schlecht sind. Das gibt es im Alltag sehr oft, und die Flüchtlinge von 2015 sind inzwischen zum Teil unseres Alltags geworden und wir zu ihrem.

Der Flüchtling ist vor katastrophalen Verhältnissen, Krieg, Hunger, Pest, die drei symbolischen und realen Feinde der Menschheit, geflohen. Oft werden diese drei Katastrophen durch einen Diktator wie mit einem Fokus verstärkt. In Syrien ist das der Sohn des vorhergehenden Diktators, Bashar al Assad, in Eritrea ist es der ehemalige Führer der Unabhängigkeitsbewegung, Isaias Afewerki. Beide hatten auch Zeiten, in denen man ihnen glaubte und folgte. Trotz dieser ungeheuren Schwierigkeiten des Lebens oder sogar des Überlebens geht der Flüchtling nicht ganz freiwillig. Zu stark sind die Bindungen, die wir alle in unserer vertrauten Umwelt haben, Schule, Arbeit, Freunde, Verwandte, Musik, Literatur, Filme, Natur, Architektur, alles das hält uns mit starken Seilen dort fest, wo uns der Zufall hingeworfen hat. Das ändert sich nicht, wenn wir annehmen oder sogar sicher sind, dass ein gütiger Gott uns an unseren Platz gestellt hat. Es bedarf sehr guter Argumente, begründeter Hoffnungen und auch viel Geld, damit sich einer, zum Beispiel du, auf den Weg macht. Geht er mit seiner Familie, so hat er zwar seine Familie nicht verloren, aber doch alles andere aufgezählte. Geht er mit seiner Familie, so kann sein Widerwille berechtigterweise mitwandern.  Geht er alleine, so verlässt er auch noch seine Familie und bleibt auch mit seinem Ärger allein, hat keine Projektionsfläche, um den Ärger abzuladen. Der Flüchtling will also gleichzeitig da sein, wo er herkommt, und hier sein, wo es ihm besser gehen soll. Ginge er zurück, ließe er seine Hoffnung hier, bliebe er hier, so wäre der unerträgliche Abschied sein täglicher Begleiter.

Der Eingeborene dagegen hat in seiner Kindheit gelernt, wie wichtig Hilfe und Fürsorge, Solidarität, Nächstenliebe, Vertrauen und Sicherheit sind. Auch er hat gelernt, dass Freiheit und Gerechtigkeit die großen Ideale der Menschheit und jedes einzelnen Menschen sind. Aber zu seinem Glück ist er in einem Land aufgewachsen, in dem es seit siebzig Jahren Frieden, Wohlstand und immer mehr Gerechtigkeit gibt. Gerechtigkeit an sich gibt es natürlich nicht, sie ist und bleibt ein Ideal so wie Cristiano Ronaldo ein Idol bleibt, und trotzdem kann man ihm nacheifern. Das Land, Deutschland, wenn man es so schildert, gleicht einem Märchen. Tatsächlich sprechen die Menschen vom Wirtschaftswunder. Es gibt aber auch ein Bildungswunder, fast die Hälfte aller Menschen macht Abitur. Es gibt auch ein Politikwunder, so viele Menschen stehen zur Demokratie und sind mit den politischen Verhältnissen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sehr einverstanden. Trotzdem gab es immer wieder Schwierigkeiten. Nach dem zweiten Weltkrieg kamen die deutschen Siedler aus dem europäischen Osten zurück nach Deutschland. Das waren über zehn Millionen Menschen ohne Hab und Gut. Und obwohl sie oft nicht gerade sehr freundlich empfangen wurden, haben sie eine neue Heimat gefunden. Dann kamen, weil das Wirtschaftswunder Arbeitskräfte brauchte, Gastarbeiter aus Italien, Griechenland, Spanien und vor allem aus der Türkei. Sie haben zunächst fast unbeachtet in ghettoähnlichen Zuständen gelebt. Heute sind sie geachtete Mitbürger, die mehr als die eingeborenen Deutschen Klein- und Mittelunternehmer sind. Sprichwörtlich und erfolgreicher als alle amerikanischen Fastfoodketten ist der deutsche Döner aus Berlin, eine absolut leckere türkische Spezialität, absolut halal. Berlin ist die größte türkische Siedlung außerhalb der Türkei. Dann kam im Jahre 1990 die deutsche Wiedervereinigung, fünfzehn Millionen Ostdeutsche blieben zwar, wo sie waren, aber eigneten sich das westdeutsche System erfolgreich an, so dass sie heute – hoffentlich – nicht mehr oder kaum noch zu unterscheiden sind. Der Eingeborene hat also das Doppelproblem, dass er einerseits helfen will, aber andererseits auch Angst davor hat, dass diesmal das System versagen, abstürzen  könnte. Überall in Europa hat sich zudem eine gewisse Demokratiemüdigkeit breitgemacht, so wie auch in den USA nicht gerade der demokratischste Präsident gewählt wurde. Allerdings gibt es in den letzten Jahren tatsächlich auch eine Bedrohung durch islamistischen Terror, der sich zwar hauptsächlich gegen Gruppierungen im eigenen Land wendet, aber doch auch in Amerika und Europa Schaden angerichtet und Angst hervorgebracht hat.

Niemals gibt es nur ein Problem, eine Lösung, eine Seite, eine Katastrophe. Wir können diese unsere Welt deshalb so schwer verstehen, weil zu jedem Zeitpunkt, nennen wir ihn Sekunde, tausend Probleme und tausend Einflüsse und tausend Lösungsmöglichkeiten gleichzeitig auftreten. Wir können aber nur maximal vielleicht zehn gleichzeitig verstehen. Deshalb werden von einem Bruchteil der Bevölkerung zum Beispiel die Flüchtlinge abgelehnt, obwohl sie weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung sind. Und so wie manche Menschen wie gebannt auf diese eine Prozent starren, starrst du auf die dich anschreienden alten Frauen und Männer, wenn du mit deinem alten Fahrrad vorbeifährst. Starre doch einmal lieber auf die sechs Millionen Flüchtlingshelfer, die es in Deutschland in Kirchengemeinden, Bürgerinitiativen, Volkshochschulen, Flüchtlingsheimen, Fußballmannschaften, Theatergruppen und sonstwo gibt. Rein rechnerisch kommen also auf jeden Flüchtling sechs Helfer. Praktisch sieht es leider nicht so gut aus. Meine Lösung des Problems – das eigentlich gar kein objektives Problem ist – lautet demzufolge: jeder Helfer sucht sich einen Flüchtling, dem er helfen kann, jeder Flüchtling sucht sich einen Helfer, dem er sich anvertraut.

Niemand oder fast niemand hasst dich. Das ist ein viel zu großes Wort für die Angst, die vielleicht hier und da vorhanden ist, die Missgunst, den Neid auf die Aufmerksamkeit. Wir kennen das von Kindern, die schwer ertragen können, wenn sich die Aufmerksamkeit der Eltern oder der Lehrer plötzlich jemandem zuwendet, der in diesem Moment hilfebedürftiger ist. Wie kommt man aus dem falschen Fokus heraus? Am besten versucht man, aus seinen Albträumen Träume zu machen. Man sucht sich eine Aufgabe, die über die Schule oder die Arbeit hinaus geht. Du kannst so gut Deutsch, und immer wieder werden Dolmetscher gebraucht. Manche Hilfesuchender braucht nur eine Begleitung zum Arzt oder will einfach die Muttersprache hören. Der Zauber der Freude, glaub mir, bindet wieder, was  Neid, Missgunst und Angst getrennt haben. Sei froh, dass du deine Familie hast, dass du in die Schule gehst, dass um dich herum Frieden herrscht. Nichts wird die wenigen Schreier mehr überzeugen, als ein erfolgreicher Flüchtling. Meine sechs Millionen Kollegen und ich wünschen dir dabei Glück, Liebe und Freude.

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DIE GESPRUNGENE SCHALLPLATTE

 

Nr. 216

Weil sie fühlte oder ahnte, dass Faust ein Repräsentant einer anderen oder neuen Welt sei, stellte ihm Gretchen, bevor sie sich mit ihm einließ, gerade weil von ihm der Reiz des neuen Systems ausging und trotz seines beträchtlichen Alters, er war vierzig, die Frage nach seiner Kompatibilität mit der alten, bürgerlichen Welt ihrer Herkunft. Faust antwortete bekanntlich mit einer völlig neuen, erstmals das Individuum in den Mittelpunkt stellenden Gottessicht: Gott ist die Assistenz zur Güte. Die heutige Entsprechung wäre der Turing-Test: würden wir in einem Dialog zwischen Mensch und Maschine die Maschine erkennen? Schon Weizenbaum, der das erste Dialogprogramm für einen Computer fand (ELIZA), kritisierte nicht nur die Schwachstellen der Maschine, sondern auch der beteiligten Menschen.  Die machten nämlich, vor über fünfzig Jahren, denselben Fehler wie der Teslafahrer vor einigen Wochen, der mit seinem selbstfahrenden und selbststeuernden Mobil in einen Sattelzug raste und wie  jene Fahrer, die mit einem herkömmlichen Navigationsgerät, wenn sie von Bochum nach Düsseldorf wollen, in Prag merken, dass etwas schiefgelaufen ist. Der Turing-Test, der der Gretchenfrage so ähnlich ist, bannt die Angst vor der Übermacht der Assistenzsysteme. Diese Angst überbetont die Kollateralschäden neuer Systeme, zum Beispiel des Buchs, der Eisenbahn oder des Automobils, und projiziert oder stilisiert sie zu neuen Feinden der Menschheit. Dabei ist seit der Antike klar, dass wir Menschen uns höchstens selbst im Weg stehen. Wir verbrennen und kreuzigen jene, um noch einmal Faust zu zitieren, die uns wirklich und durch Vorlaufen Wege weisen wollen und verherrlichen andere, die als dümmliche und statische Wegweiser immer nur die Vergangenheit beschwören können. Deshalb wirken ihre ohnehin schon schwächlichen Argumente wie eine broken record, die seit fünfhundert oder noch mehr Jahren dudelt.

Am Montag vergangener Woche fand in der European School of  Management and Technologies, einer Privatuniversität im ehemaligen Staatsratsgebäude, ein vom rbb organisierter und durchaus hochkarätiger Dialog statt, auf dem die pro- und die contra-Seite mit prominenten Befürwortern und Gegnern der Künstlichen Intelligenz besetzt war. Auch ein echter Obermitarbeiter, principal scientist, von Google sprach einführende Worte, durch die man endlich bemerkte, dass es Google wirklich gibt und dass es aus echten Menschen und echten Milliarden besteht. Viele Menschen halten ja Google und Facebook, aber auch GPS für eine transzendente, höhere, nicht aber wirkliche Wirklichkeit. Deshalb ist es wichtig, dass man, wenn schon nicht Lord Zuckerberg persönlich, so doch hin und wieder Menschen sieht, die diese virtuellen Räume herstellen. Nicht jeder von uns hat das Glück, in der Familie einen Informatiker zu haben, der den Computer reparieren und nebenher den Turing-Test erklären kann.

Die Fragestellung war schon etwas religiös gehalten, ob nämlich die künstliche Intelligenz mehr Fluch oder mehr Segen für die Menschheit ist. Die Pferde und die Kutscher haben vielleicht das Automobil als Fluch empfunden, aber man muss sich heute ernstlich fragen, ob die Pferde wirklich glücklich waren, wenn sie schwere Wagen, beladen mit Bierfässern und mit Kohle, durch Straßen aus Sand und Kopfsteinpflaster gezogen haben, als sie Straßenbahnen schleppten und Menschen, die sie schlugen, trugen, als ihnen mehrstöckige Ställe, zum Beispiel in der Berliner Schwedenstraße, gebaut wurden, in denen sie gegen jeden Instinkt, nach oben geführt wurden, denn das Pferd ist ein Fluchttier. Und wenn sie ein Leben lang für den meist undankbaren Menschen geschuftet hatten, wurden sie zu Bouletten und Mänteln verarbeitet. Ist das Glück des Sklaven, behütet und versorgt, aber unfrei zu sein, noch heute ein Ideal? Andererseits bringt das Pferdesubstitut Automobil bestenfalls eine falsche Freiheit, deren andere Seite die Abhängigkeit des Menschen von der Arbeit, vom Öl und vom Straßensystem immer größer wird, seine Verantwortung, diesmal nicht in Bezug auf lebende und fühlende Wesen, sondern auf die Belastung der Atmosphäre proportional zu seiner Freiheit wächst, die sich zum bloßen Gefühl degradiert. Das Öl der Zukunft sind die Daten.

Zum Glück für die Veranstaltung war die populistische Kapitalismuskritikerin mit dem Luxemburglook verhindert, sonst hätten wir zum siebenhunderteinunddreißigsten Mal erfahren können, dass die künstliche Intelligenz nur den Banken dient und deshalb mit diesen abgeschafft gehört. Der Kapitalismus wird von ihr erst personifiziert und dann verteufelt. Das ist schon rhetorisch fragwürdig, philosophisch aber überhaupt nicht haltbar, denn er ist eine Methode und der Computer ist sein Assistenzsystem. So erscheint sie wie die prominenteste Reichsbürgerin, gefangen in einem schönen Paradox: sie bekämpft das System und verdient dabei gut. Statt dessen erläuterte eine eingesprungene ebenfalls prominente Grüne, die vor ein paar Wochen Menschen besucht hat, die ihr Hassbotschaften geschickt hatten, dass für sie künstliche Intelligenz erst nach der Schaffung eines Rechtssystems akzeptabel sei, so als ob es bei uns einen Mangel an Rechtssicherheit gäbe und ausgerechnet die Grünen ihn entdeckt hätten. Eine Professorin aus Wien war stolz auf ihr Buch, das neunhundert Fälle von Datenmissbrauch auflistet. Sie glaubt ernsthaft, dass die Menschen ihr Buch kaufen, weil sie das System durchschauen und ablehnen wollen. Und wir sollen ihr glauben, dass sie das Buch geschrieben hat, weil sie die Wahrheit kennt und nun unter das unwissende Volk bringen will, nein, muss. So funktioniert Populismus auch ohne Wagenknecht und Petry, und wie sie alle heißen mögen. Der auch auf dieser Seite des Podiums anwesende Bischof wirkte so dümmlich wie Luther gegenüber Zwingli in Marbach im Jahre 1529. Dort argumentierte Luther rein autoritär. Das Hauptargument des gegenwärtigen Bischofs, dass die Maschinen vielleicht Intelligenz, aber kein Gewissen hätten, lässt sich in mindestens zwei Richtungen  falsifizieren. Erstens nützt einem das Gewissen wenig, wenn man sich in Mordsysteme einbinden lässt, von den Kreuzzügen bis zum zweiten Weltkrieg war das Gewissen der Christen auf Null gesetzt. Und zweitens führt ein Gewissen ohne Intelligenz auch nicht zum Ziel. Der Bischof jedenfalls wurde aus dem Publikum zurecht scharf attackiert und hatte dem nichts entgegenzusetzen: da stand er nun und konnte nicht anders als dieses eine Scheinargument zu wiederholen wie eine broken record.

Dagegen wirkte die Befürworterseite quicklebendig und konnte ihr Konzept von der Assistenz durch die Maschinen, von der Befreiung von stupider Arbeit, von der Maschine als bloßer Nachahmung menschlicher Intelligenz, von der Widersprüchlichkeit aller Perfektion, von dem Aberglauben, dass die Maschinen die Macht übernehmen könnten, beinahe möchte man sagen: undsoweiter undsoweiter überzeugend darlegen. Jedem, der Kinder oder Flüchtlinge dabei beobachtet hat, wie sie Sprache lernen, und der auf der anderen Seite schon einmal den Googleübersetzer benutzte, weiß, dass von der Maschine keine Gefahr ausgeht. Trotzdem gewannen die Gegner in der Abschlussabstimmung Prozentpunkte, wenn auch nicht die Mehrheit.

Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass sich Zellen, Wahrheiten und Software, sobald sie manifest sind, zu teilen beginnen. Bei den Zellen begrüßen wir es, bei der Software verstehen wir es nicht und bei den Wahrheiten glauben wir immer wieder und immer wieder, dass es sie gäbe. Wir glauben immer wieder, dass der gegenwärtige Stand der Dinge der letzt- und immergültige sei. Statt dessen ist es wohl eher so: Das Fernsehen ist wie ein vertrautes Wohnzimmer, aber der Computer ist der immer noch verpackte Fernsehapparat, der in der Diele steht.