Im vorvorigen Jahr hatten wir die nächste, im vorigen Jahr die übernächste Flüchtlingskrise. Und obwohl in der Politik heftig gestritten wurde, hat sich das WIRSINDDASVOLK-Volk beruhigt. Vielleicht ist es durch den Ukraine-Krieg oder die Inflation abgelenkt. Die Klimakrise wurde durch das Heizungsgesetz zugeschüttet oder sogar eskamotiert, so wie die Bauern ihren sicheren Untergang durch den Wegfall von durchschnittlich knapp 3000 € pro Jahr und Hof Dieselsubvention projizieren. Der Vergleich mit den Klimaklebern drängt sich auf. Über allem schwebt die Krise der schwächsten Regierung nach Ludwig Erhard als Kanzler, Kohl IV und Merkel IV. Allerdings steht sie vor weitaus größeren Herausforderungen als diese drei schlechten Regierungen. Jetzt rächt sich, was alles gedanken- und gewissenlos versäumt oder dummerweise zugestanden wurde. Mich wundert, dass sich, obwohl die Marke Deutschland im Sturm der Weltgeschichte wackelt, wenn nicht kippelt, kein Politiker, Wissenschaftler oder Dichter findet, der sagt: so jetzt fangen wir neu an, und zwar unten. Die Subvention für den Agrardiesel, die Dienstwagenpauschale oder das Ehegattensplitting sind ganz oben. Sie sind nur ein Sparpotential und keine Vision. Unten dagegen sind die Kinder, von denen ein inzwischen beträchtlicher Teil, der migrantische und anderweitig bildungsferne, zunächst Förderbedarf hat, dann aber zur Hoffnung und zu Mitarbeitern an den Visionen aufsteigt. LASST UNS ENDLICH NICHT MEHR ÜBER DIE HERKUNFT DIESER KINDER SCHWAFELN, SONDERN ÜBER IHRE ZUKUNFT REDEN. Fachkräfte wachsen nicht auf den Bäumen oder fliegen durch die Luft in die geöffneten Münder der vergreisten Nationen, sondern müssen gefördert und ausgebildet werden. Ich erinnere an Uğur Şahin, der von der Schule schon als nicht beachtenswertes Migrantenkind abgestempelt und abgetan war, aber ein Nachbar setzte sich dafür ein, dass er doch noch aufs Gymnasium konnte. Saša Stanišić dagegen wurde von seinem Deutschlehrer entdeckt, ermutigt und gefördert. Wer jetzt nicht weiß, wer Uğur Şahin und Saša Stanišić ist, gehört in die Gruppe von Lindner und Merz bis Söder und Scholz, die nicht verstanden haben, wie man Zukunft macht, die überhaupt keine Macher, sondern nur Schwätzer sind. Noch schlimmer sind allerdings Wagenknecht, Weidel, Maaßen und Aiwanger, die wissentlich das Falsche sagen, weil ihre Wähler das hören wollen. Was wir nicht hören wollen, ist, dass Entwicklung unten anfängt: bei der Bildung, beim Schienennetz und bei der Kommunikation. Schon, wenn wir diese Erneuerung von unten auf begönnen, würde sich die Strahlkraft der Demokratie erhöhen. Je perfekter die Demokratie ist, desto mehr kann sie durch reine Bürokratie ersetzt werden. Je mehr die Demokratie aber durch die Bürokratie am Laufen gehalten wird, desto mehr Anhänger verliert sie. Vielen Menschen fehlt einfach ein Gesicht des Staates. Der Diskurs braucht keine Führer, aber wir Menschen lieben Gesichter. Fast fällt einem der alte Slogan aus dem Prager Frühling ein: Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Der gelebte Sozialismus war unmenschlich, aber der Demokratie fehlt das Gesicht. Merkels Spottname ‚Mutti‘ war ein Ausdruck dessen, obwohl er anders gemeint war. Die bemerkenswerte Gesichts-, Geschichts-, Gedächtnis- und Sprachlosigkeit von Scholz verstärkt nur das Desaster der Demokratie: wenn alles schon geregelt ist, worüber soll man dann reden oder gar abstimmen. Ob nicht diese fatale Sehnsucht nach Autokraten in Wirklichkeit die Sehnsucht nach dem Gesicht ist? Dafür spricht Selenskyj, der Präsident, der sich jeden Tag an sein langsam ermüdendes Volk wendet und mindestens einmal in der Woche an der Front ist. Dagegen lässt Putin sich durch seine Propagandisten vertreten, auch in dem Punkt Hitler ähnlich, der nach Stalingrad nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten ist. Die bösen Staaten China, Russland, Iran, Nordkorea halten an einer voraufgeklärten, sozialdarwinistischen, auf dem vermeintlichen Recht des Stärkeren beruhenden Staatsraison fest, Russland kann man nur zynisch zuraunen: dann muss man aber auch der Stärkere sein. Aber wir bleiben bei unserer felsenfesten Ansicht: das Böse kann und wird nicht gewinnen. Ich weiß, dass das kein Brief, sondern ein Aufschrei ist. Auch mein Optimismus ist ins Wanken geraten, aber er behauptet sich.
‚Kein Hüsung‘ (1857) von Fritz Reuter in der Nacherzählung (1960) von Ehm Welk
Der Parvenü-Baron verweigert dem alten Gutsarbeiter den Arzt, lässt aber für den Edelhengst, der mit Koliken liegt, per Eilboten den Tierarzt kommen. Dazu kommen idealisierte philosophische Dialoge von Gutsarbeitern, deren Unbildung und Rückständigkeit eigentlich sprichwörtlich war. – So stellt man sich die schematische Sozialkritik in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor, aber Fritz Reuter gehörte nicht zum Vormärz und auch Ehm Welk war kein linker Scharfmacher. Beide hatten eher Biedermeier-Qualitäten, amüsante Anekdoten von Onkel Bräsig, von Durchläuchting sowie vom Nachtwächter und den Kindern des fiktiven Kummerow waren eher ihre Sache.
Indessen heißt die älteste Schule in Neubrandenburg, wo Fritz Reuter einst seine Bestimmung fand, heißen in Mecklenburg unzählige Straßen und heißt sogar eine Straße im Weltkulturerbe Hufeisensiedlung in Berlin Neukölln nach dem Buch, das früher in jedem norddeutschen Haushalt zu finden war: ‚Kein Hüsung‘, jetzt selbstverständlich ‚min…‘, ‚uns…‘ und so weiter Hüsung. Hüsung war das Niederlassungsrecht für nicht mehr leibeigene, aber doch noch sehr abhängige Gutsarbeiter in Mecklenburg und Pommern. Der Grundkonflikt und der Titel des Buches beschreiben die Verweigerung des grundsätzlichen Rechtes jedes Menschen auf eine Wohnstatt, Wohnung, Behausung, niederdeutsch Hüsung. Im Hochdeutschen gibt es jedoch einen feinen Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit und Unbehaustheit. Wenn es dem anrührenden Liebespaar des Versepos gelungen wäre, nach Amerika oder in die Großstadt zu entkommen, wie es Johann mehrfach vorschlug, dann wäre es nicht mehr obdachlos, aber trotzdem unbehaust gewesen, nämlich ohne eine vorher absehbare und garantierte Zugehörigkeit. Und genau das ist es, worunter heutige Kommunitarier leiden oder vorgeben zu leiden: dass heutige Menschen nicht mehr vorhersehbar zu traditionellen Gruppen gehören und gehören wollen. Die Kommunitarier sind getriggert vom Gendern, von Veganern und dritten Geschlechtern, von Parteien, die es ihrer Meinung nach gar nicht geben dürfte. Es geht ihnen im Gegensatz zu den Liberalen darum, zu einer Gruppe zu gehören, eben kein Individuum zu sein, das auf Rechte Anspruch hat, die sich nur aus seinem Menschsein ergeben. Der Liberale ist der Meinung, dass Deutsch eine Sprache ist, der Kommunitarier dagegen hält Deutsch für einen Zustand, eine vererbbare Zugehörigkeit, Qualität, Kultur und sogar Leitkultur, die weit über die Sprache hinausgehen: DEUTSCHSEIN HEISST, EINE SACHE UM IHRER SELBST WILLEN TUN[1]. Aber Achtung: auch der krasseste Individualist gehört zu einer Gruppe, nämlich zu den krassen Individualisten. Und auch der krasseste Kommunitarier mit seinem schönen und stolzen Nationalbewusstsein fährt wenigstens nach Holland zur Tulpenpracht und isst Kiwi aus Neuseeland oder Kartoffeln aus Israel.
Darüber streitet die Gegenwart, aber erstaunlicherweise ist diese Gegenwart in dem längst vergessenen, ja fast verschollenen Büchlein vorgeformt.
Nicht nur der herz- und geistlose Pfarrer, vor allem auch der Kirchenpatron und seine extrem bigotte Gattin treiben die Verweltlichung, die Säkularisierung voran. Jahrhunderte und Jahrtausende als Staatskirche haben die Kirche zu einem Appendix jeden Staates gemacht, zu einem Werkzeug des Bösen, wenn der Staat auch böse war. Das gilt für jede Religion, in dem Punkt sind sie sich einig. Merkwürdigerweise gibt es Kirchenleute, die ausgerechnet den atheistischen Staat für den Niedergang von Kirche und Religion verantwortlich machen wollen. Dagegen war der Impuls für die Entstehung der Religionen gerade Hunger und Repression. Wer also behauptet, der Atheismus sei stärker als der Theismus, der kreuzigt Yesus und Bonhoeffer und Martin Luther King noch einmal. Umgekehrt ist es wohl: erscheinen Unterdrückung, Hunger, Diskriminierung am größten, so sind Glaube und Wissen Navigator und Helfer. Im Dunklen hilft nur das Licht. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit[2]. Jedoch geht es in unserem Büchlein nicht um die Theorie, sondern um die Praxis der Menschlichkeit. Es zeigt sich, dass der alte Kutscher Daniel diesen Humanismus als Gen mitbekommen hat und weitergibt: Er hilft dem starken und stolzen Knecht Johann, der vorher das Kind der Müllerwitwe aus der brennenden Mühle errettete, als der im Zorn über die himmelschreiende Ungerechtigkeit den selbstsüchtigen Baron mit der Mistforke (!) ersticht. Der Kommentar des aufgeklärten Freiherrn von Maltzan hingegen lautet: ‚Sein Tod ist Ergebnis seiner Borniertheit.‘ Das Gleiche, können wir heute sagen, gilt auch für die Kirche und die Monarchie. Es gilt übrigens auch, und das sollte uns froh und optimistisch machen, für Diktaturen und Autokratien: sie gehen an ihrer eigenen Borniertheit zugrunde! Umgekehrt schleppt das Gute immer den Bonus seiner Güte mit sich herum, was ihm einen Vorteil, einen manchmal minimalen Vorsprung, eine oft nur winzige Mehrheit sichert. Deshalb wird die Welt auch dann immer ein bisschen besser, wenn es schlecht um sie bestellt zu sein scheint. Wenn die Welt immer schlechter würde, wenn der Mensch nur aus Neid, Missgunst, dem vermeintlichen Recht des Stärkeren bestünde, dann gäbe es inzwischen weder die Welt noch den Menschen. Fritz Reuters schöner Spruch ‚Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl.‘ heißt doch nicht, dass man sich nichts vornehmen soll, damit einem nichts fehlschlägt, sondern dass man, wenn man sich viel vornimmt, auch damit rechnen muss, dass nicht alles gelingt. Der Großteil der Fehlurteile und Fehler beruht nicht nur auf Theologie, wenn sie meint, Recht und Vorrechte zu haben, sondern auch auf Teleologie, die hinter den Ereignissen und Erscheinungen Zwecke vermutet, die sie letztendlich niemandem zuschreiben kann. Ein Artefakt hat einen Zweck, ein Fakt hat möglicherweise einen Sinn, den wir ihm zuordnen können. Am schwersten ist es vielleicht bei uns Menschen zu verstehen: ist der Lebenssinn uns mitgegeben als göttliches oder fatalistisches Etikett oder müssen wir ihn suchen und im besten Fall finden? Der berühmte Lebenssinn hat, soweit ich sehe, nur eine einzige Bedingung: das Leben desjenigen Menschen ist sinnvoll, das sich auf andere richtet.
Der alte Kutscher Daniel hilft auch der Mutter des Christkindes, Mariken, als sie aus ihrer Kate vertrieben wird und bei Schnee und Eis mit dem Baby in ein Vorwerk ziehen muss. Er zieht das Kind auf, nach dem Mariken stirbt oder in den Tod geht – die Umstände und die mögliche Intention sind hier kunstvoll verwoben. Und wie ein Symbol übergibt Daniel dann das Kind seinem Vater, der sich nach der 48er Revolution in seine alte Heimat zurückwagt, aber nicht, um da zu bleiben.
Beinahe noch deutlicher wird die Aktualität dieses unscheinbaren kleinen Büchleins beim zweiten von uns ausgewählten Thema, das man heute Migration nennt. Angeblich ist es dasjenige Thema, das die Gesellschaft heute am meisten spaltet. Inzwischen haben alle Parteien in den vorgeblichen Ruf des Volkes eingestimmt, dass die unkontrollierte Einwanderung gestoppt werden muss, die Populistinnen Weidel und Wagenknecht bleiben natürlich weit vorn. Aber warum sollte die Einwanderung gestoppt werden? Weder leiden wir an Geld- noch an Raummangel, im Gegenteil, wir suchen händeringend Fachkräfte. Diese kommen aber nicht, wie im Märchen die gebratenen Tauben, angeflogen. Man muss sie selbst ausbilden, und da hat Deutschland gute Karten, denn wir haben ein hervorragendes Ausbildungssystem, das sich allerdings zurzeit in derselben Krise befindet wie die Bahn, deren Schienennetz einst ebenfalls weltweit führend war. Wir sollten dringend überlegen, ob nicht unsere ständigen Abwehrdiskussionen Verdrängungen der teils bitteren tatsächlichen Krisen sind. Trotz aller Krisen und sinkenden Wachstumsraten sind wir soeben vom vierten auf den dritten Platz vorgerückt, was die Größe der Volkswirtschaft betrifft. Wir sind also nach den unterschiedlichen Giganten USA und China die dritten, der Grund ist allerdings – ich gebe es zu – das Abrutschen Japans vom dritten auf den vierten Platz. Weniger erfreulich ist, dass wir in der Ungerechtigkeitsquote gleichauf mit der fünftgrößten Volkswirtschaft liegen, nämlich Indien, das noch vor wenigen Jahren sprichwörtlich für seine Armut war. Die Schere zwischen arm und reich ist für meine Vorstellung ein nicht gelungenes Bild, weil es suggeriert, dass sich zwei gleich große Gruppen Menschen gegenüberstehen: die Reichen, die immer reicher werden, und die Armen, die immer ärmer werden. Gleich sieht man den Reichen aus der Nathanparabel[3] vor sich, der, obwohl er 99 Schafe besitzt, für seinen Gast das einzige Schaf seines armen Nachbarn schlachtet. Und da fällt uns, weil wir heute über Literatur reden, der ökonomisch dumme, rhetorisch wirksame Spruch des einst großen Bertolt Brecht ein: ‚Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahn sich an. / Da sagt der Arme bleich: / Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘ Aber wir ergänzen gerne: Doch der Reiche gibt zurück: Ich bin schuld? Das ist dein Glück! Tatsächlich wird die Gruppe der Superreichen, jenes sprichwörtliche eine Prozent der Bevölkerung, immer reicher[4]. Das ist die asymmetrische Schere. Unser Büchlein lamentiert nicht zum tausendsten Mal über die angeblich schädlichen und bösen Ankömmlinge, sondern zeigt in der Geschichte die Gründe für die Auswanderung: Hunger, Unterdrückung, religiöser Fanatismus der Staatskirche, Überbevölkerung durch effektivere Landwirtschaft und beginnende Industrialisierung. Zwischen 1848, genau da spielt unsere Story, und der Zeit nach dem ersten Weltkrieg sind mehr als sechs Millionen Menschen aus Deutschland nach Amerika ausgewandert. Es sind vermutlich genau dieselben sechs Millionen, die zu viel gewesen wären und die absolut erfolgreiche Industrialisierung belastet, wenn nicht gar verhindert hätten. Unser Weg auf den dritten Platz führte über die Migration! Subjektiv bleibt es natürlich falsch und böse, wenn die Adligen Mecklenburgs sagten: dann geht doch nach Amerika, wenn Honecker und Isaias Afewerki[5] sagten: wir weinen ihnen keine Träne nach und die Geldtransferleistungen der Flüchtlinge klammheimlich in die stets positive Bilanz einrechneten. Aber auch der liebevolle Knecht Johann mit seinem heiligen Zorn will nach Amerika, wo er Freiheit glaubt. Der nicht weniger liebevolle alte Kutscher Daniel dekliniert die Dialektik von Freiheit und Hüsung durch, wenn das auch sehr idealisiert wirkt, sollten wir doch überlegen, ob wir das schöne Wort ‚Hüsung‘ nicht ins Hochdeutsche migrieren können. Migrationen sind also Antworten auf Krisen, Umbrüche, Kriege, immer sind sie auch Aufbrüche, Herausforderungen. Die radikale Gruppe der Gegner der Ein- und Auswanderung – denn ein echter Nationalist kann auch nicht die Auswanderung befürworten – bleibt sich indessen immer gleich. Selbst der große Benjamin Franklin wetterte gegen diejenigen deutschen Einwanderer, die krampfhaft an ihrer Sprache und ihren Gewohnheiten festhielten. Auch die französischen und wallonischen Refugiés in unserer Gegend wurden beargwöhnt und diffamiert, weil sie mehr als hundert Jahre lang nur französisch sprachen, eigene Schulen und Kirchen hatten und wirtschaftlich nicht schlecht dastanden. Die türkischen Einwanderer der Wirtschaftswunderjahre, also die dritte Generation, fangen jetzt an, in Rücksicht auf deutsche Ämter und Nachbarn, ihre Namen ohne diakritische Zeichen zu schreiben, zunächst aber bei der korrekten Aussprache zu bleiben. Henry Kissinger, ein früher Flüchtling – er war 15 Jahre alt -, blieb immer seinem Fußballverein SPVgg Fürth treu. Das beliebteste Gegenargument: das sind alles Ausnahmen, kontern wir damit, dass wir sagen: ja, die Migranten sind die Ausnahmen, ohne die es die Regel nicht gäbe.
Ehm Welk hat seine hochdeutsche Übertragung des Reuterschen Versepos sicher im Zusammenhang mit dem Drehbuch für den in Ost und West erfolgreichen DEFA-Film von 1954 gemacht. Im Film gibt es nur eine propagandistisch aufgesetzte Szene, am Schluss, als nämlich Johann aus der selbstgewählten Verbannung zurückkommt und seinen Sohn holen will. Man darf nicht übersehen, dass dieser Film zeitgleich mit dem propagandistischen Machwerk des Thälmann-Films in Babelsberg entstand. Der Anfang des Films wirkt pathetisch, aus heutiger Sicht übertrieben schauspielerisch mit viel zu alt wirkenden Schauspielern. Aber alle emotionalen Szenen sind auch heute noch frisch und anrührend. Besonders wird der schon im Buch herausragende Menschenfreund Daniel, der alte Kutscher, in einer Paraderolle von Willy A. Kleinau dargestellt. Kleinau zeigt hier Qualitäten, die zu dieser Zeit sonst nur Heinz Rühmann hatte, etwa im Hauptmann von Köpenick, der zur gleichen Zeit im Westen entstand. Es mag Zeitgeist und Zeitmode gewesen sein, Güte und Leid in dieser Weise verkoppelt darzustellen, aber es gehören dazu auch herausragende Schauspieler. Hanns Anselm Perten glänzt ebenfalls als Gutsbesitzer, der sich selbst richtet, aber tragischerweise den Knecht Johann mit hineinzieht. Dramatisch und realistisch, vom ganzen Dorf wahrgenommen, wird vorher gezeigt, wie Johann das Müllerkind aus den Flammen rettet. Das Verhältnis zwischen Mariken und Johann ist einerseits eine schöne Liebe, andererseits offenbart es aber, dass damals jeder Mann den Patriarchen spielen und jede Frau sich anlehnen musste. Der Spiegel schrieb damals: „Ehm Welk wies überzeugend nach, dass die Liebe immer noch das Brot der Armen ist und offerierte dann als volkserotisches Filmsujet die plattdeutsche Ballade ‚Kein Hüsung‘ von Fritz Reuter. Zusammen mit seiner auch schriftstellernden Ehefrau Agathe, geborene Lindner, machte Ehm Welk aus der Reuter-Dichtung einen saftigen Defa-Volltreffer.“[6]
Wenn also Karl Marx mit seinem zeitgleich zu unserer Geschichte erschienenen Manifest[7] irrte, indem er glauben machen wollte, dass man nur die ‚Expropriation der Expropriateure‘ installieren müsse und schon würde alles gut, wenn also Johann Hinrich Wichern mit seinem ebenfalls als Manifest[8] verstandenen Gedankenspiel irrte, dass Armut das Ergebnis schwindenden Glaubens sei, dann ist die Botschaft der schönen, traurigen und anrührenden Geschichte erstaunlich aktuell und wunderbar tiefgründig. Jedes neugeborene Kind sollte als Chance und Herausforderung, also als Christkind, verstanden, geachtet, geliebt und gefördert werden. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für die nächsten zweitausend Jahre.
Ich schenke dem Museum Angermünde eine Erstausgabe von Ehm Welks Nacherzählung ‚Kein Hüsung‘, VEB Hinstorff Verlag Rostock, 1960, mit einem eingeklebten Originalbrief von Agathe Lindner-Welk. Anlässlich dieser Übergabe des ‚Objekts des Monats‘ am 22.03.2024, 15.00 Uhr, entstand dieser Text.
[7] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848
[8] Johann Hinrich Wichern, Thesen auf dem ersten evangelischen Kirchentag, 1848. Wichern verdanken wir aber wenigstens den Adventskranz und die Diakonie.
Dieser Text wird jedes Jahr am 8. November veröffentlicht
TATEN SIND VERWIRKLICHTE TRÄUME * TRÄUME SIND VERWIRKLICHTE TATEN
1
Woher wusste er, dass seine Tat schon am nächsten Tag in den Schlagzeilen aller europäischen Zeitungen stehen würde? Die Zeit ist nicht nur manchmal reif für Erfindungen oder Kriege, sondern auch für Fanale. Nicht alle Fanale jedoch werden gehört und gesehen. Sein Fanal ist von den Nazis willig aufgegriffen, von allen anderen, Europäern und Amerikanern, aber ignoriert worden. Die Nazis hatten endlich einen Beweis und die anderen, wer weiß, sahen sich in einem Vorurteil bestätigt. Aber in welchem? Wir alle wissen heute, dass es eine Verschwörung der Menschen aus dem schtetl[1] nicht gegeben haben kann. Vielmehr ist Grünspan ein Vorbote der Schulversagergeneration. Allerdings zählt dazu leider auch Hitler. Während man früher als Schulversager keine Chance hatte, ist das Widersetzen gegen die Welt der Erwachsenen bei manchen ein Synonym für Innovation, die, wie im Falle Hitlers aber auch ein Rückgriff sein kann. Grünspan dagegen wollte ein Signal dagegen setzen, dass der Staat sich das Recht anmaßen kann zu bestimmen, wer wo und wann sein darf oder soll. Die Freizügigkeit gehört zur Demokratie wie die Freiheit überhaupt, die Selbstbestimmtheit und die Intimsphäre. Er sah etwas verletzt, was zum Menschen gehört, aber damals noch nicht Allgemeingut war. Die Länder, die nicht so antisemitisch wie Deutschland und Polen waren, öffneten sich aber auch nicht sofort und vollständig für den zu erwartenden Flüchtlingsstrom, sondern gaben den Deutschen insgeheim Recht: ein Jude aus Polen zu sein bedeutete damals nichts Gutes. Fügt man dann noch Frau und Linkshänder hinzu, werden alle Vorurteile durch den Namen Curie hinweggefegt. Grünspan wollte zeigen, dass es unrecht ist, dass man erst zweifacher Nobelpreisträger sein muss, um überall geduldet zu werden. Dulden ist auch das falsche Wort. Jeder Mensch muss überall ganz selbstverständlich sein, dann wird die Welt bewohnbar. Der Streit zwischen Freiheit und Ordnung darf nicht Menschen opfern. Loyalität schließt den Tod nicht ein. Hätte Grünspan die heute zugängliche Literatur gelesen, so hätte er wissen können, dass in diesem Sinne seine Tat auch ‚falsch‘ war. Selbst wenn Tyrannenmord als Ausnahme vom Tötungsverbot bestehen bleibt, so kann man sich nicht beliebige Projektionsopfer wählen. Töten ist immer falsch, aber die Schuld am Töten kann man jetzt nicht Grünspan aufbürden, der intelligent genug war, aber nicht genug Zeit hatte, darüber nachzudenken. Grünspan wollte nicht gezwungenermaßen staatenlos sein, aber auch nicht freiwillig tatenlos. In bezug auf die Wahl seiner Mittel ist Grünspan ein Opfer des Zeitgeistes, aber für das, was er tat, gehört er auf die Liste der Weltinnovatoren. Grünspan ist der Vorkämpfer gegen jede Willkür der Behörden, die schon Hiob und Hamlet beklagten und die auch heute noch so viel Schaden anrichtet, obwohl die Behörden wissen können, dass sie Diener und nicht Herrscher sind. Auch ist er das letzte mögliche Signal gegen den Racheimpuls, der in jedem von uns als archaisches Element steckt, dem von Goebbels schon einen Tag nach Grünpans Tat brutal und alttestamentarisch nachgegeben wurde, der aber für immer geächtet ist durch die Unverhältnismäßigkeit. Das Leid wird durch Rache immer verstärkt, vergrößert. Dagegen verbessert sich das Gesamtsystem, wenn man etwas für andere tut. Das gilt sogar auch für die Grünspan-Initiative. Denn wir wissen heute, dass man Menschen nicht hindern darf, dahin zu gehen, wohin sie wollen. Leben – und wieviel mehr fliehen – heißt aber immer Risiko. Man kann das Leben genauso wenig optimieren wie Märkte, Regierungen und Wasserströme. Auch dafür ist Grünspan ein Zeuge. Er ging mit fünfzehn Jahren ohne Schulabschluss von seinen Eltern weg und es ist ihm alles gescheitert, außer in die Geschichte als leuchtendes Fanal einzugehen. In dem Punkt ähnelt er Gavrilo Princip. Auf den wenigen Fotos, die es gibt, sieht er nicht glücklich aus. Er ist gerade von der französischen Polizei verhaftet worden. Glücklichsein scheint nicht der Sinn des menschlichen Lebens zu sein, nur zu leben, ohne etwas zu tun, aber auch nicht.
Niemand von uns kann die Konsequenzen seines Handelns absehen, nur machen die meisten so wenig, dass man die Folgen vernachlässigen kann. Es wäre also fatal, wollte man die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath als voraussehbares Signal zum Holocaust deuten. Also etwa so: Hitler hätte sich nicht getraut sechs Millionen Menschen umzubringen, wenn Grynszpan[2] nicht vorher den Botschaftssekretär erschossen hätte. Das ist absurd, so kann es nicht gewesen sein, vielleicht war es nicht einmal so, dass die Nazioberen auf ein Signal gewartet haben. Dafür dass sie gewartet haben, spricht eigentlich nur der erste September 1939, wo sie den Anlass, das Signal auf perfide Weise selbst geschaffen haben. Auch zum neunten November 1938 kann man annehmen, dass Goebbels nachgeholfen hat, denn der Legationssekretär hatte außer den Schussverletzungen auch eine Krankheit, die er sich durch homosexuellen Geschlechtsverkehr zugezogen hatte. Wenn man ihn sterben ließ, und dafür spricht einiges, hatte man nicht nur einen Märtyrer mehr, sondern einen schwulen Nazi weniger. Indessen war Ernst vom Rath genauso wenig Nazi wie Grynszpan von der jüdischen Weltverschwörung beauftragt. Vom Rath orientierte sich an seinem Onkel Köster, dem deutschen Botschafter in Paris, mit seiner kritischen Sicht auf die Nazis. Dieser Köster wurde wahrscheinlich von Hitler in Paris belassen, um dem Naziregime einen pluralistischen Anschein zu geben. Später wurde er ermordet. Grynszpan wurde von der Verzweiflung seiner ausweglosen Lage getrieben. Er hatte nirgendwo eine Aufenthaltsgenehmigung. Als er hörte, dass seine Eltern und Geschwister nach Polen ausgewiesen worden waren, kaufte er sich vom ersparten Geld eine Waffe und ging in die deutsche Botschaft. Wahrscheinlich hat vom Rath ihn empfangen, weil er das genau so sah. Grynszpan ist ein Vorkämpfer der Freizügigkeit. Eigentlich wollte er dagegen protestieren, dass seine Eltern in ein Land ihrer Unwahl abgeschoben wurden, er aber nirgendwohin konnte, denn er war auch keine Pole mehr, Deutscher schon gar nicht, in Brüssel zeitweilig geduldet, in Paris illegal. Er war ein Europäer aus Hannover, der sich nach Geborgenheit sehnte, denn als er nach dem Einmarsch der Deutschen zufällig frei kam, begab er sich in die Obhut der französischen Behörden. Er war kein Anarchist. Was mag er dann im deutschen Gefängnis und im KZ Sachsenhausen getan und gedacht haben? Er folgte jedenfalls der Strategie seines französischen Verteidigers, indem er darauf bestand, dass er gar nicht hätte ausgeliefert werden dürfen und dass er vom Rath aus homosexuellen Kreisen kannte. Das rettete ihn vor einem Schauprozess mit Todesstrafe. Rettete ihm diese Argumentation auch das Leben? Vielleicht war es aber noch ganz anders. Grynszpan hatte sich eine Waffe gekauft, um den deutschen Botschafter zu erschießen. In der deutschen Botschaft angekommen, traf er auf Rath, den er kannte und der sich das Leben nehmen wollte, weil er diese furchtbare Krankheit hatte. Rath riet ihm, ihn zu erschießen und den Botschafter zu verschonen. So haben sie beide in einem letzten Einvernehmen ihre Probleme gelöst. Wäre Grynszpan die Reinkarnation von Hiob, so hätte er überlebt. Er wäre vielleicht der US-Finanzminister geworden oder gewesen. Später glaubte er nicht mehr an Fanal und Rache, sondern an Worte. Er sagte zum Beispiel: Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meine. Er war in Satzkonstruktionen geflüchtet, denen niemand folgen konnte und sie deshalb lieber bewunderte als kritisierte. Er hatte erkannt, dass Zinsen, Schulden und Wachstum nicht nur rein quantitative Parameter sind, sondern auch durch die Qualität der dahinter stehenden Leistungen und Waren bestimmt sind. Das alles hätte er nicht wissen können, wenn er nicht an jenem siebten November den Mann erschossen hätte, der erschossen werden wollte, aber damit gelichzeitig das Fanal für die Würde des Menschen geliefert hat. Er war der moderne Hiob, der Hüter der Brüder.
Hiob gehört zu den großen Erzählungen, die uns gleichzeitig bewegen und trösten sollen und auch können. Hiob sieht seinen Erfolg übertrieben groß und sein Leid erdrückt ihn. Sein Erfolg ist – mit Ausnahme seiner Kinder – Haben und sein Leid ist Krieg und Krankheit, also für die Zeit, in der er lebt: Sein. Er findet sich auserwählt für übergroße Not und Ungerechtigkeit. Aber er ist nicht auserwählt. Keiner ist auserwählt. Da er, wie wir alle, alles richtig gemacht hat, trifft ihn jede Strafe zu unrecht. Überhaupt: warum glaubt er denn, dass er bestraft wird. Oder: glaubt nicht jeder an seine Unschuld? Würde jeder die Schuld bei sich suchen, wären die Täter schnell gefunden.
Jede Strafe ist unrecht. Die spiegelnden Strafen waren bloße Rache, sie vermehrten das Leid, statt es zu vermindern. Auch heute noch glaubt eine knappe Mehrheit, dass Strafe gerecht sei. Daraus, dass die Untat ungerecht ist, folgt nicht, dass die Strafe gerecht sei. Gerecht wäre vorbeugendes Verhindern der Untat und liebevolle Wiedereingliederung des Täters. Wenn eine Wiedergutmachung am Opfer nicht möglich ist, so erhöht sie doch die Bilanz des Guten in einer Gesellschaft. Das universelle Tötungsverbot muss noch mehr durch Waffenverbote und -ächtung unterstützt werden. In Europa und Japan nimmt die Zahl dieser Untaten drastisch ab, während sie in Ländern mit Armut und Waffen erschreckend und fast antik hoch bleibt.
So ist es auch mit dem Lohn, dem Verdienst oder Gewinn, den man sich aus seinen Taten erhofft. Wir würden alle Hiob sozusagen überwinden, wenn wir es verstünden, Gutes zu tun, um es sofort zu vergessen. Stattdessen erwarten wir Dank und Lohn. Es schmerzt, wenn der Verdienst zum Bettler gemacht wird. Aber der wirkliche Gewinn liegt immer im Zugewinn an Seelenfrieden. All die dilemmatischen, schier unlösbaren Probleme der Menschheit, sie nähern sich mikrometermäßig ihren Lösungen, wenn wir anderen helfen, ohne zu fragen und ohne Lohn zu erwarten. Es gibt keinen böseren Verdienst als Finderlohn. Der Lohn der Treppe ist das oben, nicht noch etwas.
Die höchste Instanz zur Beurteilung unseres Lebens ist Gott, aber er gab uns ein Gewissen. Und deshalb muss ein jeder Mensch mit seiner Schuld leben. Niemand kann sie ihm nehmen und niemand nimmt sie ihm. In den griechischen Tragödien, die zur gleichen Zeit entstanden wie das Buch Hiob, geraten die Menschen unschuldig in schuld. Auch Hiobs Leid geht auf die Wette Gottes mit seinem Widersacher, dem Satan, zurück, liegt also nicht in Hiobs Leben. Viele Täter erschrecken vor ihrer Untat. Sie wissen nicht, wie sie dazu gekommen sind. Es gibt immer nicht nur einen Grund, warum etwas geschieht. Vielmehr benötigt man, um ein Ereignis zu erklären, mehr Gründe als man je finden kann. Das geht soweit, dass man eigentlich gar keine Warumfragen stellen kann: niemand kann sie beantworten. Zu groß ist die Masse der Gründe und Gegengründe, der Tatsachen und Rechtfertigungen.
Wir müssen in diesem Geflecht von Taten und Untaten, von Schuld und Sühne leben, wir haben keinen anderen Ort als diese Welt. So gesehen gehören Hiob und Grünspan in die große Reihe der Märtyrer. Das sind Menschen, die standhalten, obwohl sie wissen, dass sie scheitern, unter der Last fremder Schuld zusammenbrechen werden, die das auf sich nehmen, was andere ganz offensichtlich falsch machen. Aber die anderen sind das herrschende System, sie glauben erst recht Recht zu haben. In diesem Netzwerk von Taten und Untaten hat niemand recht. Der Fehler ist nicht die einzelne Tat, sondern das bestehen auf ihr, das Rechthabenwollen, gefolgt vom Wahrheitpachten. Dann kommen schon die Kreuzzüge und dreißigjährigen Weltkriege. Gott ist keine Burg, in der man Recht hat. Gott ist innen, nicht außen.
Das Leben folgt keiner Rechenkunst. Kein Kalkül ist möglich. Während der Pest müssen die Uhrmacher schweigen. Wir werden von dem, was wir Glück nennen, genauso überrascht, wie von dem, was uns Unglück scheint. Jähe Wendungen des Lebens sind genauso wenig vorhersehbar wie lange Strecken der Langeweile. Deshalb brauchen wir Hoffnung, Erzählung, Schlaf, Droge, Ablenkung, Trost. Die Hoffnung wird am meisten kritisiert, manche glauben gar, dass nur Narren hoffen. Hoffen hängt mit Wahrscheinlichkeit zusammen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Lottogewinn ist zum Glück genau so klein wie für den Blitzschlag. Die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass wir jemanden erfreuen können, ist groß, wenn wir nur genug dafür tun. Jeder hofft zurecht, dass er ein besserer Mensch werden kann. Niemand wird zum Narren, der hofft und harrt, erzählt und tröstet, schläft oder sich betäubt, wenn die Schläge des Schicksals zu hart scheinen. Wenn Sinus das Kreuz des Lebens ist, dann ist Cosinus die Lust des Strebens.
Das Leben ist kein Kalkül. Es hat demzufolge mit Zahl und Geld nichts zu tun. Das Geld ist nur eine Projektion der Zeit, die wir zur Verfügung haben und für etwas ausgeben. Genauso wenig ist das Leben digital abbildbar, wenn uns das auch Netz und Filme und Spiele immer wieder suggerieren wollen. Das Leben bleibt das Leben aus Fleisch und Blut, fragil, verletzlich, kostbar. Das Leben hat Würde und muss seine Würde behaupten, nur die Dinge haben einen Preis. Die besten Dinge aber sind die Geschenke, die Gaben, die ebenfalls keinen Preis, sondern eine Würde haben. Der schönste Satz, den ein Mensch zu einem anderen sagen kann, ist deshalb: du musst dich nicht bedanken, denn du bist das Geschenk. Das Leben ist kein Kalkül, und das einzige, was keine Inflation hat, ist das Wunder.
Liebe ist die weiteste und größte Lösung aller unserer Probleme und unseres Schicksals. Sie eröffnet neue, weite Horizonte, weil sie sich anderen Menschen zuwendet. Wenn die maximale Kommunikation dadurch zustande kommt, dass ein liebendes Paar in einem leeren Zimmer schweigt, dann schließt dies aber auch die gesamte Menschheit aus. Deshalb ist Liebe, wie jeder weiß, mehr als die individuelle Liebe zwischen zwei Menschen. Liebe, die die Menschheit einbezieht, ist Nächstenliebe oder Solidarität. Jedem Menschen ist das Kindchenschema eingeboren, viele haben das Helfersyndrom. Wer kalt ist, wird erfrieren. Wem kalt ist, wird geholfen. So funktioniert Gemeinschaft, ohne die wir nicht sein können. Gehe in ein fremdes Dorf irgendwo auf der Welt: man wird dir Tee bringen und deine Schuhe trocknen! Alles, was du brauchst, um keine Angst zu haben, ist Liebe, aber alles, was du brauchst, um zu lieben, ist, keine Angst zu haben. Liebe ist aber auch geben, ohne nehmen zu wollen. Nicht zufällig stammt einer der schönsten Sätze des Weltdenkens aus einer Liebestragödie: the more i give, the more i have: je mehr ich geb, je mehr ich hab. [Shakespeare, Romeo und Julia]
Die tiefste Lösung aber für den Menschen ist der Glaube. Mit ihm und sich ist der Mensch allein. Wir glauben an etwas, das größer ist als wir, und wir bauen Häuser, die mehr sind als Schutz vor Regen und Sonne. Mit dem Tod aber können wir nur leben, weil wir nicht an ihn glauben. Es ist nicht wichtig, wie wir das, woran wir glauben, nennen, wenn es nur größer ist als wir selbst und die Summe von unseresgleichen. Hiob und Grünspan stellen sich einen Gott vor, den es nicht geben kann, der ihr Leben verwettet und verspielt. Das ist menschlich, aber nicht göttlich. Nur Ultraorthodoxe können sich den Teufel als Tatsache, aber den Frieden als bloße Metapher vorstellen. Tiefer Friede kommt aus tiefem Glauben. Das ist die Tiefe des Menschen. Glaube ist immer einsam. Gruppe dagegen ist Therapie und auch oft nötig. Die Frage, ob Hiob wirklich glaubt oder nur aus opportunistischen Gründen seinen Glauben bekennt, ist ebenso unbeantwortbar wie universell und unnütz. Wir wissen letztlich nicht, ob jemand, der sagt, dass er uns liebt, nicht sich und seine Befriedigung meint. Wir müssen es glauben, wir wollen es glauben, wir sollen es glauben. Aber genauso wenig wissen wir, wenn wir annehmen, dass wir glauben, ob wir uns nicht Vorteile bloß von der Einhaltung der Regeln, der Traditionen und Rituale versprechen. Wer – außer Grünspan – wäre kein Opportunist?
Hiob ist die Parabel für die Inflation schlechter Nachrichten. Aber sind es auch schlechte Dinge? Ist Hiob zum Schluss nicht stark und demütig, und ist freiwillige Demut nicht der Stärke gleichzusetzen? Hiob belehrt uns, aber wir wollen ihm nicht nacheifern, im bösen nicht, aber auch im guten nicht. Aber jeder von uns kennt einen: der den Schmerz ausgehalten hat, der das böse Schicksal angenommen hat, genauso wie vorher das gute. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, der unser Leben verwetten könnte, wenn er wollte, und der den Weg jeder einzelnen Ameise vorbestimmt. Aber wir wissen und glauben, dass es unsere Aufgabe ist, nicht aufzugeben, wieder aufzustehen, dem Nachbarn zu helfen, Gutes zu tun. Es ist gleich gültig, ob wir die Aufgabe als von Gott gegeben annehmen oder mit der Muttermilch der Menschlichkeit in der Vatersprache der Güte aufgenommen oder sogar beides, das ist gleich gültig, wenn wir nur mehr tun als haben zu wollen und sein zu sollen. Wir müssen mehr sein wollen: Geber und Gabe gleichzeitig.
Dass die Lehrerzimmer samt ihren Schulen der Gesellschaft den Spiegel vors Gesicht halten, die Gesellschaft aber allzu gern und allzu lang die Augen verschließt, das ist trivial, wird aber seit Melanchthons Zeiten fast täglich beklagt. Doch darüber bemerkenswerte Kunstwerke zu machen, die ihrerseits den Schulen Spiegel sind und uns vielleicht, vielleicht zu besseren Eltern, Schülern und Lehrern machen, das ist so selten wie wünschenswert. İlker Çataks Drama ‚Das Lehrerzimmer‘ gehört auf jeden Fall dazu. Die junge Carla Nowak, topfit und engagiert, lehrt an einem Gymnasium Mathematik und Sport, hört, dass an ihrer neuen Schule gestohlen wird, sieht jemanden Geld aus der Kaffeekasse entnehmen und hat eine Idee aus dem neunzehnten Jahrhundert: den Täter in flagranti zu überführen. Sie präpariert ihr Portemonnaie und ihren Laptop und die Täterin geht in die Falle. Aber wir sind nicht mehr in der Vergangenheit. Die vermutliche Täterin, die Sekretärin Friederike Kuhn, verschanzt sich hinter ihrer Würde und dem Mangel an Beweisen. Sie inszeniert sich nicht als die arme Täterin, die Not leidet und Essen für ihre Kinder braucht, sondern als die gestresste, böswillig verleumdete Unschuldslämmin. Sie kann aber auch Psychopathin oder Kleptomanin sein, die nur durch die Existenz ihres Sohnes gebremst wird. Sohn Oskar, Mathe-As und Lieblingsschüler von Frau Nowak, entfaltet durch sein bloßes Dasein das Dilemma der überforschen und sichtlich überforderten Lehrerin samt ihrer Direktorin Dr. Bohm. Fast wie aus dem Baukasten erscheinen der cholerische Zyniker Liebenwerda, der vorauseilend gehorsame, überangepasste stellvertretende Direktor und die empathische Kollegin, die immer im richtigen Moment zur Stelle ist. Aber dieser Baukasten erinnert uns nur daran, dass Geschichten eben konstruiert sind, das Leben dagegen wie ein neuronales Netz von tausend Inputs getrieben, tausend nicht vorhersehbare Outputs produziert, pro Millisekunde, versteht sich. Das Schicksal in unserer Geschichte nimmt seinen Lauf, indem der kleine Oskar, es handelt sich um eine siebte Klasse, emotional auf der Seite seiner Mutter steht, bis zum Verbrechen, motivational aber auf der Seite seiner Lehrerin, denn in ihr sieht er seine Zukunft. Er genießt ihre Zuwendung, aber er misstraut ihrer Loyalität.
Das hat mit Schule nichts zu tun, die Schule ist hier nur das Abbild oder Paradigma jeder sozialen Gruppe oder gar gesellschaftlichen Gesamtheit. Selbst im Klassiker aller vermeintlichen Schulfilme, dem ‚Club der toten Dichter‘, geht es nur vordergründig um Schule und Unterrichtsmethoden, denn die beziehen sich auf Gegenstände, hier speziell auf Poesie und Prosa. Aber schnell wird klar, dass die Vater-Sohn-Tragödie von Neil, der Schauspieler werden will, aber vom Geist seines marionettenhaften Vaters in den Tod getrieben wird, die Lehrmethoden an Wichtigkeit weit übertrifft. Selbst die ein bisschen überromantische und klischeehafte Liebesgeschichte überragt die Schule, und es scheint so, als ob der zunächst nur tappende und suchende Todd Anderson, der dann mit seinem Rap über sich selbst hinauswächst, ein autobiografisches Bild des Verfassers Tom Schulman und der eigentliche Anlass für die Entstehung dieses Meisterwerks gewesen sein könnte. Die Gesellschaftskritik dieses Films steht soweit über der Schulkritik, dass man sich heute fragen kann, wie überhaupt die Vereinigten Staaten ein so innovatives, hocheffektives und uneinholbares Land geworden und geblieben sein können, mit so einem erstarrten, an Großbritannien angelehnten Elitenschulsystem. Kurz könnte man glauben, dass es doch auf Autorität und Faktenvermittlung ankäme. Aber diese Sicht ignoriert, dass es sich um eine Eliteschule handelt, dass fast alle Schüler aus Familien stammen, die ihren Kindern auch weiterhin alle Wege offenhalten können und dass der individuelle Spielraum schon allein aus der Tatsache erhellt, dass einer der Absolventen ein solch gültiges, fast schon klassisches Kunstwerk daraus zaubern konnte. So wie Goethes Werther trat auch dieses Meisterwerk zum exakt richtigen Zeitpunkt seine Reise in die Herzen der Menschen an: am Ende des Kalten Krieges, an dem wir alle, wenn nicht an das Ende der Geschichte, so doch allzu gern an den ewigen Frieden glauben wollten. Vor allem aber wollten wir an einen Bruch mit den verstaubten Traditionen glauben, alles würde sich bessern und auf Dauer gut werden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks wies den Weg in eine lichte Zukunft, aber wir übersahen dabei, dass dieser Zusammenbruch auch ein Sieg der anderen Seite war: ‚Mr. Gorbachev, tear down this wall‘ und die Mauern brachen und Millionen jubelten, aber andere Millionen sannen auf Rache, Revanche und Revision. Ein kleiner Oberstleutnant fuchtelte in Dresden mit seiner Pistole in der Weltgeschichte herum, und schon zehn Jahre später, von uns im Freiheitstaumel unbemerkt, hatte er es geschafft, in seinem korrupten Riesenreich zu herrschen und alles umkehren zu wollen.
Aber wir hatten noch etwas anderes übersehen: Wenn wir Freiheit ernst meinen, dann müssen wir auch eine wirklich offene Gesellschaft sein. Arbeitskräfte, Asylsuchende und Freiheitsträumer waren und sind uns willkommen, bringen aber nicht nur den schönen Götterfunken der Freude mit. Von diesen Problemen handelt ein weiterer, leider wenig beachteter Schulfilm, ‚Die Klasse‘ von Laurent Cantet. Er belichtet das Problem der Demokratie. Gerade der Lehrer, der sich am meisten öffnet, der das Chaos einer Multikulti-Klasse am besten erträgt, wird das Opfer verletzter Emanzipation. Souleyman aus Mali, der nicht glauben kann, dass sein Lehrer seine Fotos wirklich gut findet und als Selbstportrait akzeptiert, kann den Widerspruch zwischen seiner ihn liebenden Mutter, seinem streng traditionellen Vater und der Demokratie und Freiheit der Schule nicht anders lösen, als er es aus seinen bisherigen Konfliktlösungen kennt: mit brutaler Gewalt, mit dem Recht des Stärkeren, der in dieser Szene eben er ist und nicht sein Vater und schon gar nicht sein Lehrer. Auch die Schulkonferenz lastet dem Lehrer sein Fehlverhalten an, das darin bestand, zwei Schülervertreterinnen als schlampig im Sinne von unordentlich bezeichnet zu haben, was diese selbstverständlich in ihre Sprache übersetzen: Prostituierte oder Promiskuitive. Dieser Film zeigt die teils harte, aber auch wieder nicht unwitzige Realität in einer Pariser (oder Berliner) Problemschule. Manchmal dringt der Lehrer kaum durch, dann wieder erreicht er einen Teil der Klasse mit seinen guten Aufgaben und seiner verständnisvollen Zuwendung. Auch seine Geduld ist bewundernswert. Aber zum Schluss wird er als ein Vertreter des ungeliebten Systems verraten und geopfert. Es gibt jedoch eine versöhnliche Schlussszene: am letzten Schultag freut sich der multikulturelle Haufen über die liebevoll gedruckten und gebundenen Arbeitsergebnisse. Man spielt zusammen Fußball.
Die Verrechtlichung und demokratische Codifizierung fast jeden Handelns verbirgt die Tragödien und Begabungen. Der Mensch tritt hinter dem Gesetz und der Regel zurück, die er für sich, zu seinem Schutz geschaffen hat. Inzwischen verstehen auch immer weniger Menschen, Schüler, Lehrer, Eltern, Großeltern die Sprache dieser justiziablen Codifizierung. Das wird in den beiden jüngeren Filmen durch die tatsächliche Mehrsprachigkeit, besonders der Eltern, deutlich. Souleyman muss seiner Mutter die Worte des Lehrers und dem Lehrer die Worte der Mutter übersetzen und man sieht in seinem Gesicht das Ringen mit der und um die Wahrheit. Translation ist immer eine Chance zur Neuinterpretation. Alis Vater, der mit dem Verdacht gegen seinen Sohn, er wäre der Dieb, nur in seiner Muttersprache Türkisch fertig werden kann, muss erst aufgefordert werden, ins Deutsche zu wechseln, und da sagt er, und niemand ist erschrockener als sein Sohn: Ali klaut nicht. Und wenn er klaut, breche ich ihm die Beine.
Dagegen wirkt die kleine zierliche Hatice wie die personifizierte leidende Vernunft, die es jedem, auch der Mathematik, recht machen will, aber nicht kann. Sie ist eine wunderbare Metapher für unseren Gewinn durch Migration.
‚Das Lehrerzimmer‘ zeigt die Gleichzeitigkeit des Kollaterals der Ereignisse linear umgestülpt in achtzehn Schritten, die jeder traditionellen Dramatik wider-, aber der Wirklichkeit entsprechen: Es wird immer schlimmer. Schon als Frau Kuhn unter vier Augen zur Rede gestellt wird, zeigt sich der Schrecken. Sie springt in eine anscheinend vorgeübte psychische Rolle. Die Schulleiterin erkennt: Oskar ist glasklar, wir sind die Verwirrten. Ja, wir haben die Wirklichkeit mit unserem Netz von Gesetzen, Regeln, Handlungsanweisungen, Arbeitskreisen, überhaupt Gremien überzogen und verwirrt. Kaum einer traut noch seinen Gefühlen oder spontanen Intentionen. Es gibt kaum noch Initiativen und wenn, werden sie zerredet und bis zur Unkenntlichkeit verschriftlicht, schon das Wort, genauso wie ‚beschult‘ oder ‚bestuhlt‘, ist ein Ungetüm. Lehrkraft, Elternteil, Ortsteil all das sind die sprachlichen Opfer der Verrechtlichung. Kommt es dann doch zu empathischen Reaktionen wie durch die Lehrerin Carla Nowak gegenüber dem begabten Oskar, dann findet sich gleich ein wohlmeinender Kollege, der warnt: ‚Du musst den Jungen vergessen!‘
Die schönste Metapher in İlker Çataks Meisterwerk und bestem Schülerfilm seit dem ‚Club der toten Dichter‘ ist, neben Hatice, der Zauberwürfel, der perfekte Trost für einen verletzten Mathematiker. Interessant, dass noch vor dreißig Jahren Poesie als Lösung galt, jetzt aber Mathematik, vor allem in der Anwendung als IT. Aber der Schein trügt: was uns hilft sind die Geschichten im Buch, im Theater und im Kino. Danke dafür!
In Deutschland gab es im zwanzigsten Jahrhundert einige, teils heftige Paradigmenwechsel. Sowohl 1918 als auch 1945 nannten die Menschen den Systemwechsel ‚Zusammenbruch‘ statt Aufbruch. Trotzdem ging das Leben weiter. Am erstaunlichsten war, und das zeigt die Trägheit jedes Systems, dass wenige Wochen nach der absoluten militärischen und politischen Niederlage erstens die Rentenzahlungen wieder aufgenommen werden konnten, und zweitens aber der Schulunterricht. 1945 gab es sogar zwei verschiedene Modelle: im Osten wurden alle belasteten Lehrer, soweit sie erkennbar waren, entlassen und so genannte Neulehrer im Schnellverfahren ausgebildet, im Westen dagegen setzte man auf den angeborenen Opportunismus der Beamten. Aber auch die Aufbrüche von 1933 und 1989 sind in ihrer Tiefe nicht zu unterschätzen. Die Lehrerschaft hängt zwar finanziell und geistig am jeweiligen Staat, hat aber auf der anderen Seite ein lebendiges, stets fragendes, auf Zuwendung und Sicherheit angewiesenes Gegenüber, die Schüler. Ohne Eid und Schwur kümmern sich zu allen Zeiten die Lehrerinnen und Lehrer überall um die ihnen anvertrauten Kinder. Dies gilt auch in Perioden der Kritik. Selbst die völlige Verkehrung des Eltern-Lehrer-Kinder-Verhältnisses durch staatliche Übergriffe (Honecker-Effekt) oder Helikoptereltern (double income, one kid) können an dem insgesamt positiven Bild kaum etwas ändern. Es gab immer auch verheerende Beispiele schwarzer Pädagogik wie Prügelorgien, Demütigungen und Suizide auf beiden Seiten der didaktischen Barrikade. Und trotzdem: trotz wachsender Weltbevölkerung und in einigen Ländern wachsender Zuwanderung bleibt das Gesamtklima der Schule stabil. In Deutschland leiden wir zusätzlich noch unter quälender Untätigkeit der im Föderalismus gefangenen Bildungspolitik, deren Wahn zu glauben, dass Bildungsreform gleich Schulreform ist, nur dazu führte, dass es inzwischen etwa siebzig Schultypen gibt. Auch das seit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mehr als umgekehrte Verhältnis der Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern besonders in der Grundschule ändert nichts an der positiven Grundierung der Schule.
Sie beruht vermutlich auf dem von Konrad Lorenz 1943 entdeckten Fürsorgeprinzip, dessen Auslöser er Kindchenschema nannte. Entgegen seinen teilweise sozialdarwinistischen Ansichten aus der Nazizeit beschrieb er an der berühmten Graugans eher antirassistisches und solidarisches Verhalten, wofür er 1973 den Nobelpreis erhielt. Dagegen ist die von ihm befürchtete ‚Verhausschweinung‘ des Menschen, seine Verwahrlosung und Kriminalisierung nicht nur nicht eingetreten, sondern hat sich als Nachkriegsverhalten herausgestellt, das dem Wohlstand, der Demokratisierung und Liberalisierung wich.
Auch in frühen Gesellschaften gab es schon eine Fürsorge-Delegierung etwa in der Großfamilie, bei der Jagd oder bei Initiationsriten. Schule ist so gesehen eine uralte Institution. Niemand wird bestreiten, dass die Schule für extrem Begabte und extrem Unbegabte teilweise schwierig zu durchlaufen ist, so dass diese Minderheiten oft trotz und nicht wegen der Schule das Leben bestehen. Niemand wird bestreiten, dass es unbeliebte, inkompetente und böswillige Lehrerinnen und Lehrer gibt. Aber ebenso wird kaum jemand bestreiten, dass er oder sie einen Lieblingslehrer und/oder eine Lieblingslehrerin hatte. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass in der Schule, in welcher Form auch immer, ein zweites, ebenfalls von Konrad Lorenz entdecktes, imprinting stattfindet. Da Schule meist in der Jugend stattfindet, verbinden sich die Erinnerungen an die Schule symbiotisch mit den typischen Jugenderlebnissen und werden oft als sehr positiv empfunden. Selbst so scharf ablehnende und schulkritische coming-of-age-Romane wie ‚Unterm Rad‘ und ‚Der Fänger im Roggen‘ beruhen auf dem klassischen bürgerlichen Bildungsideal, davon abgesehen, dass sie nicht etwa outlaw-Lektüre, sondern absolute Klassiker des Bücherkanons sind.
Vor einiger Zeit hingen in Mecklenburg-Vorpommern überall Plakate, auf denen stand, dass Bauer der wichtigste Beruf der Erde sei. Aber irgendwo hat der Bauer auch schreiben gelernt, irgendwohin geht er, wenn er krank ist, irgendjemand holt seinen Müll. Solche rankings sind natürlich unsinnig. Aber es ist schon sinnvoll, wenn wir uns, besonders durch Geschichten, hin und wieder an unsere und unseres Nachbarn Stellung in der Arbeitsteilung erinnern.
Insofern ist der kleine Oskar aus der siebten Klasse des Gymnasiums im Film ‚Das Lehrerzimmer‘, dessen Titel eine Fortsetzung von ‚Frau Müller muss weg‘ befürchten ließ, die Metapher für die neuen Widersprüche und die alten Stärken der Uralteinrichtung Schule. So zerrissen das Lehrerkollegium auch erscheinen mag – und in der Realität auch oft ist -, so zeigt sich doch: Ziel des Tuns der oft verächtlich ‚Lehrkräfte‘ genannten Wunderheiler ist der Schüler Oskar. Er wird seine Mutter durchschauen oder im besten Fall sogar bessern. Die Geschichte zeigt auch, dass wir oft, meist sogar, nur einen Bruchteil eines Vorgangs erkennen können. Er wird, sollte er Mathematiker werden, ab seinem siebzehnten Lebensjahr nicht mehr mit uns kommunizieren können, aber mit siebenundzwanzig den berühmten Satz des… bewiesen oder widerlegt oder entdeckt haben. Ziel ist aber auch Hatice, dieses liebenswürdige Geschöpf des Ausgleichs und des sozusagen ewigen Friedens. Aber auch mit den zeitweilig als Ekel erscheinenden Mitmenschen müssen wir auskommen, und viele Lehrer sind da leuchtende Vorbilder. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, die Schule ist der sprechendste Ort für diese These.
Der Film ‚Das Lehrerzimmer‘ lässt sie alle sprechen. Eine Geschichte bricht das Schweigen der Dinge und Prozesse. Aber eine Geschichte ist oft auch nur ein Blitzlicht auf einem weißen Blatt. Wir gehen nach Hause und überlegen von diesem Moment an neu.
Vielleicht ist das ganze Leben nichts anderes als ein Wechselbad von Regeln und Freiheitssehnsucht. Jedenfalls glauben die Fanatiker an die Ordnung, die sie eben damit zerstören, und die Freidenker nehmen die Ordnung hin, obwohl sie die Freiheit behindert. So geht der Kampf seit Jahrhunderten hin und her.
Dabei kommt es immer wieder zu kontroversen Konstellationen: das Gedankenwerk des größt-denkbaren Freidenkers (‚wenn du deine Feinde liebst, hast du keine mehr‘, ‚wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein‘) wird in riesige Kathedralen und auf morsche Katheder verbannt und von einer krakenartigen Hierarchie steinalter Männer verwaltet. Solange sie die Macht und Kraft dazu hatte, verbrannte und erwürgte sie jeden einzelnen Gegner. 1209 wurden die Katharer aus Carcassonne vertrieben und erschlagen, 1336 wurden in der uckermärkischen Kleinstadt Angermünde Waldenser verbrannt, die Bogumilen in Bosnien gingen spätestens 1481 im Islam der türkischen Eroberer auf. Mit dem Aufscheinen der Moderne im neunzehnten Jahrhundert stand der altertümlich an der alten Ordnung festhaltende Klerus vor einer neuen Herausforderung, und seine Antwort war paradigmatisch und hieß Pius IX. Er war kein Visionär, noch nicht einmal im negativen Sinne, kein Fanatiker. Aber er glaubte fest an alles Alte. Gott spielte dabei eigentlich keine Rolle. Er setzte das Dogma von der unbefleckten Empfängnis der Maria durch. Statt also endlich die Kirche aus dem Bett herauszuhalten, schob er sie tiefer hinein. Das Ergebnis ist der massenhafte Missbrauch. Weiter, und noch wichtiger, prügelte er gegen eine schweigende Mehrheit das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes zusammen mit dem Jurisdiktionsprimat durch. Gemeint war zwar nur die theologische Lehrmeinung, aber sein Satz, dass, wer dem widerspräche, ausgeschlossen würde, ist zum Programm der Ordnungsfanatiker geworden. All die Lager und Gefängnisse des zwanzigsten Jahrhunderts sind Orte der Exkommunikation. Auf der anderen Seite: wer alle ausschließt, steht zum Schluss alleine da. Uns sollte nicht die Pervertierung des Christentums kümmern, die darin begründet liegt: Ausschluss statt Integration, sondern überhaupt die Desintegration als die verkehrtest mögliche Methode zur Aufrechterhaltung der Ordnung.
Die Ordnung macht nur Sinn und ist nur aufrechthaltbar, wenn sie freiwillig ist. Peitsche und Freiheit schließen sich aus, ja sogar schon Peitsche und Leben. Schwarze Pädagogik kann nur in einer Welt der Gefängnisaufseher enden. Kleriker, Mathematiker und Karussellbetreiber können die Welt nicht verstehen oder gar lenken, weil sie Regelwerke und Wegweiser und letztlich Gefängnisse bauen und sich mit ihnen im Kreise drehen.
Die gegenwärtige Hochkonjunktur des Autoritarismus ist eine Fehlwahrnehmung. Die sagenhafte Urordnung mag Freiheit gewesen sein, das Paradies. Aber alle sichtbaren Ordnungen vor uns sind hierarchisch und autoritär, weshalb die Ordnungsfanatiker glauben, dass der Urzustand Ordnung war. Aber das ist evolutionär kaum denkbar. Die Frage ist also, ist Freiheit Fiktion, Fakt oder Ideal? Die Ordnung kann kein Ideal sein, weil das jede Entwicklung und Widersprüchlichkeit, die Konkurrenz, den Wettbewerb, letztlich die Fiktion ausschlösse. Erfindung und Tatsache sind im Ideal vereint, das der Findung dient, aber nicht mit ihr identisch ist. Das Ideal ist der Wegweiser, der Weg aber ist Freiheit. Das lehrt schon die Gemeine Stubenfliege (musca domestica) am Fenster.
Was hat nun dieser unsägliche und selbstverständlich unselige Papst mit uns zu tun? Er kann uns triumphieren lassen: die Tage der Diktatoren sind gezählt, wenn auch leider nur einzeln. Die Autokraten, die Beherrscher lediglich der Regeln und der Zitate, schädigen bedauerlicherweise nicht nur ihre vermeintlichen Feinde, sondern erfreulicherweise auch sich. So wie Pius IX. ausdrücklich den Ausgang aus der Kirche öffnete, so zerstören alle Autokraten und Hierarchen den inneren Zusammenhalt der Gesellschaften, denen zu dienen sie lediglich vorgeben. Tatsächlich hat keiner aus dieser Klasse ein tausendjähriges Reich begründet, wovon sie aber alle geträumt haben. Alexander Dugin zum Beispiel, der Hausphilosoph Putins, glaubt, dass die chinesische Zivilisation ‚den Triumph des Klans, des Volkes, der Ordnung und Struktur über jegliche Individualität‘* darstellt. Aber ein paar Seiten später wird Russland zum ‚bedeutendsten Pol des großen Erwachens‘, das seine imperiale Mission wiederentdecken muss. Wir zitieren das nur, um die eigenartige, personalisierte Geschichtsauffassung autoritärer Herrschaft zu zeigen. Einerseits schreibt Dugin, dass der russische Kollektivgeist sich bewusst für den Byzantinismus entschieden hat und bemerkt nicht die unfreiwillige Ironie. Andererseits beschwört er die wiederum bewusste Entscheidung für eine entliberalisierte und entglobalisierte russische Welt. Dugin glaubt sich als Lenin der Gegenwart, vergisst aber dessen Schicksal.
Im Gegensatz zu den Despoten und ihren Zitateverwaltern können wir nicht die Zukunft voraussagen. Wir sehen aber ein deutliches Auf und Ab und Hin und Her zwischen Ordnung und Freiheit, Autokratie, die Allwissenheit voraussetzt und imitiert – man beachte die handschriftlichen Notierer, die dem genialen Führer des nordkoreanischen Volkes, Kim Jong Un, auf dem Fuße folgen -, und Liberalismus, der bisher immer mit Wohlstand, Bildung und Demokratie einherging. Das wirtschaftliche Versagen aller Diktaturen rührt aus dem Mangel an Freiheit, der der Feind jeder Idee ist. Wer Kollektivismus zur Staatsdoktrin macht, muss sich über Orwellschen Überwachungswahn und kollektiven Schlendrian nicht wundern. Die Mängel der Demokratie – Langsamkeit, Entscheidungsschwäche, Unübersichtlichkeit – resultieren aus ihrem Erfolg. Der Despot muss schnell zurückschlagen und kann alle Fehler (mit neuen Fehlern) korrigieren. Die Demokratie muss es sich leisten, mehr als hundert Jahre an einem Gesetz zu arbeiten, denn sie will alle mitnehmen. In einer Krise ist das allerdings gefährlich. Wenn man beklagt, dass der Demokratie Menschen als Wähler oder Befürworter verloren gehen, dann muss man aber auch bedenken, dass in fast allen Autokratien Menschen erschossen oder vergiftet, hingerichtet oder wenigstens inhaftiert werden.
Papst Pius IX. ließ übrigens im Vatikan vermeintliche Spione hinrichten, er deckte den letzten Raub eines jüdischen Kindes, das zwangsgetauft wurde. Dabei blieb er ein freundlicher alter Mann, aber eben auch der oberste Katholik, der so böse war. Es wird immer ein Rätsel bleiben, wie man behaupten kann, an Yesus zu glauben und dann zum Vorbild für Despoten und Schlächter zu werden. In meiner Bibel steht: VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN. Aber der böse Pius muss wohl eine andere Bibel gehabt haben.
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*DUGIN, Das große Erwachen gegen den Great Reset, London 2021, S. 42
Vor fünfhundert Jahren wurden die fünftausend Prenzlauer von über hundert Geistlichen betreut. Das waren natürlich nicht nur liturgische Dienste, sondern auch erzieherische, soziale und seelsorgerische. Prenzlau hatte damals, nach der Stadt Brandenburg, die höchste Anzahl von Kirchen im Land Brandenburg, nämlich sieben. Die Institution Kirche war einst das, was heute der Sozialstaat, das Bildungswesen, Kunst und Kultur sind. Trotzdem und obwohl es keine größere Einwanderung gab, war die Bevölkerung nicht homogen. Seit 1244 gab es in Brandenburg Juden, in Prenzlau seit 1309, die als fremd angesehen wurden, weil sie einen anderen Glauben hatten und eine fremde, wenn auch sehr verwandte Sprache benutzten. Es gab Roma, die ihre fremdländischen Sitten geradezu feierten und in deren Händen der Pferdehandel, die Kesselflickerei und die Unterhaltungsmusik lagen. Es gab die Jenischen und die Sinti, wenn auch mehr im Süden und in der Schweiz. Und es gab Rotwelsche, das waren outlaws, die sich ebenfalls einer Geheimsprache, eben des Rotwelschen bedienten. Sie traten als Landstreicher und in Räuberbanden auf. An die Häuser machten sie geheime Zeichen, die Zinken, die ihren Nachfolgern mitteilten, ob etwas durch Betteln oder Stehlen zu holen sei. Auch die Straßentheaterleute, die Spieler und Gaukler, waren fahrendes Volk. Sie alle wurden als Wohltat und als Bedrohung wahrgenommen. So wie heute auch alle Fremden.
Die Welt mischt sich immer wieder einmal neu. In Prenzlau befand sich wenige Meter von der Marienkirche entfernt, ungefähr da, wo die immer noch vom letzten Krieg gezeichnete Jakobikirche heute eine Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge aus der ganzen Welt unterhält, ein slawisches Heiligtum. Mal nahm man an, dass die Slawen sich dem einwandernden Deutschtum willig assimilierten, weil sie es als technisch überlegen erlebten, dann wieder überwog die Ansicht, dass sich die Slawen erbittert der deutschen Ostexpansion und der damit verbundenen Zwangschristianisierung widersetzen. Kein Mensch kam bisher auf die Idee, dass es weder die Slawen noch die Deutschen gegeben hat. Es gab ganz sicher Slawen, die mit den Deutschen kooperierten, es gab die Anführer des großen Slawenaufstandes von 948 sowie die weinenden Mütter am Straßenrand, und es gab ganz sicher Slawen, denen alles ganz egal war. Es gab Deutsche, die den Osten kolonisieren und christianisieren wollten, was sich nach christlicher Ansicht ausschließt, es gab Deutsche, die einfach vor ihrem gewalttätigen Vater geflohen sind, andere wieder fanden die Mädchen der Slawen attraktiv, es gab Deutsche, die waren gar keine Christen, andere wieder waren gar keine Deutschen. Das war die Lage vor tausend Jahren.
Am Ende des zweiten Weltkriegs brennt die Marienkirche, einer der wuchtigsten und schönsten Kirchenbauten Nordeuropas, nieder, nicht von alliierten Bombern getroffen, sondern sozusagen mit diffuser Täterschaft entzündet. So wie auch viele Dorfkirchen in der Umgebung kann die einheimische Bevölkerung, ähnlich wie die Massenselbstmorde vor allem von Frauen in Demmin, in einer Mischung aus Angst und Selbstbestrafung, die Kirche als mächtigstes Symbol der gesamten Vergangenheit (außer der slawischen) selbst in Brand gesteckt haben. Wahrscheinlicher ist natürlich, dass SS oder HJ oder beide die Kirche als letzte Selbstverteidigung geopfert haben. Das wäre sinnlos gewesen, aber der ganze Krieg war sinnlos. Anklam wurde am selben Tag von der Nazi-Luftwaffe zerstört, weil es sich kampflos ergeben wollte wie die Nachbarstadt Greifswald, warum soll nicht Prenzlau von der SS geopfert oder bestraft worden sein? Jahrzehntelang wurde behauptet, dass die ankommenden Russen die Kirche und die Stadt nicht ertragen konnten und sie deshalb sinnlos (sinnlos?) zerstört haben. In der Zwischenzeit lebten in Prenzlau neben der assimilierten ehemaligen slawischen Bevölkerung natürlich die Deutschen, aber auch zeitweilig fast ein Viertel Juden, dann aber im achtzehnten Jahrhundert auch ein Drittel Franzosen. Immer gab es viele Polen, denn Polen war nicht nur nie verloren, sondern immer auch ganz nah, ob nun mit oder ohne Grenze. 1929 kam eine große Gruppe von wolgadeutschen Mennoniten, die auf dem Roten Platz in Moskau so lange demonstriert hatten, bis sie nach Deutschland ausreisen konnten. Sie kamen ausgehungert und verwahrlost in Prenzlau an und die Überlebenden wanderten weiter nach Paraguay aus. Nach dem letzten Krieg kamen viele Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, zu Fuß auch solche aus der Batschka, der deutschen Insel in Kroatien. Bevorzugt kamen auch Siebenbürger Sachsen und Rumänen nach Prenzlau. In den neunziger Jahren gab es so viele Russlanddeutsche in Prenzlau, dass der Zeitungskiosk im Kaufland zwölf russischsprachige Zeitungen führte. Im Jahr 2015 hat Prenzlau ziemlich geordnet und fast vorbildlich etwa 1000 Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, untergebracht, in der deutschen Sprache unterrichtet und ihnen den einen oder anderen Sinn für ihre Freizeit und Freiheit gegeben.
Wer definiert jetzt bitte, wer oder was ein Prenzlauer oder ein Deutscher ist? Jedes Land ist ein ständiges Auf und Ab, ein Kommen und Gehen, so wie es in einer Familie auch ist. Ernest Renan, ein eher rechter Autor, nannte die Nation ein fortwährendes Plebiszit.
Viel merkwürdiger als die verschiedenen Gruppen der Alt- und Neubürger – inzwischen sind die Stettiner und Batschkadeutschen Altbürger und Salinger, eine Familie auf dem vorbildlichen jüdischen Friedhof im Süßen Grund, das klingt gut, ist aber zwischen der Bahnlinie und der Bundeswehrkaserne, die – ich finde es falsch, das so zu nennen – laut Uckermarkkurier – eine transsexuelle Kommandeurin hat, Salinger ist ein weltberühmter, toter, äußerst skurriler Dichter in den USA, viel merkwürdiger sind die neuen Nationalisten, die ständig auf ihr Land kotzen möchten. Es ist zu vermuten, dass sie sich auf das berühmte Zitat eines berühmten Berliner Juden beziehen, der, als die Nazis die Macht übernahmen, gesagt hat, dass er nicht so viel essen könne, wie er kotzen möchte. Er hat es wohl eher als Berliner gesagt, aber vielleicht als Jude gedacht. Es ist schwer zu glauben, dass er ein jüdischer Maler war, denn er hat keine jüdischen Sujets gemalt. Die Bundeswehrkommandeurin ist auch nicht in Prenzlau, um sexuelle Abenteuer zu erleben – das dürfte auch sehr schwer werden -, sondern um die NATO-Dienststellen in Stettin mit Nachrichtentechnik zu versorgen. Es werden neuerdings Attribute verteilt, die nicht mitteilungsrelevant sind.
Die neuen Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, sondern die Vergangenheit, haben genau die tausend Jahre als Richtschnur gewählt, die auch Hitler und Himmler vorschwebten. Wie wir alle wissen, haben sie dieses Ziel verfehlt. Der Krieg ging verloren, wir sagen zum Glück, aber selbst wer es als Unglück empfindet, muss es eingestehen. Demzufolge muss man doch fragen dürfen, welche Vergangenheit sich die Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, zurückwünschen. Im Kaiserreich gab es bittere Not, Hunger und Kinderreichtum, von dem die neuen Nationalisten annehmen, dass er ein Geschäftsmodell der Flüchtlinge sei. Die Neudeutschen haben nicht nur keine Kinder mehr, einige von ihnen halten Kinder auch nicht für etwas beglückend Schönes, einen Lebenssinn vor allen anderen, sondern für ein Geschäftsmodell. Gleichzeitig schimpfen sie auf den Kapitalismus. Sie halten uns – als Deutsche – für dumm, obwohl unsere Volkswirtschaft die viertstärkste der Welt ist. Ständig preisen sie Polizeistaaten mit ihren Unrechtssystemen und fordern strenge Bestrafungen nach dem Vorbild Saudi Arabiens, Irans und Chinas, obwohl sie und wir alle in einem der sichersten Länder der Welt mit sinkender Kriminalität leben. Die Kriminalität sank auch 2015 und vor allem 2016 weiter, obwohl angeblich so viele potenziell kriminelle Neubürger hinzukamen.
Nach der neuerlichen Aufzählung der Menschen, die in einer relativ kleinen Stadt wie Prenzlau in den letzten tausend Jahren hinzukamen und wegwanderten – ich erinnere an New Prenzlau in Queensland und die superreiche Familie Salinger -, kommt man eher zu dem Schluss, dass die ständige neue Mischung von Menschen normal und wünschenswert ist, jedesmal aber mit Vehemenz von einer winzigen verbohrten Minderheit vergeblich bekämpft wird. Natürlich kann man Nörgeln nicht verbieten, Polizeistaaten versuchen es immer wieder, aber man kann es als lästig empfinden. Die mutigen Menschen leben in den Flüchtlingsheimen, nicht draußen.
Nach acht Jahren sind alle Voraussagen eingetroffen: die weltweite Migration hält an, und ein sehr kleiner Teil davon betrifft auch die Festung Europa, die sich ungerne aufstören lässt in ihrem Reichtum, in ihrer Bequemlichkeit, die schnell zur Behäbigkeit wird. Die ultralinken Kapitalismuskritiker, also die Kinder der behäbigen Europäer, schreiben gerne mal an die Bahnhofswände: your comfort zone will kill you. Nun wird bei uns in Deutschland wieder der Platz knapp, in Berlin werden abermals Turnhallen geopfert. In der kleinen Stadt Prenzlau steht ein Bürogebäude fast leer. Es mag nicht besonders gut geeignet sein als Erstaufnahmeeinrichtung. Aber die Gelegenheit, das neben dem Asylbewerberheim gelegene Kasernengebäude am Südend, damals vor mehr als zwanzig Jahren gleich mit zu erwerben und langsam zu sanieren, dann stünde es jetzt zur Verfügung, diese Gelegenheit ist verpasst worden. Gern warten die Staatsbürokraten auf die Spekulanten, um sich von ihnen dann vorführen zu lassen. Was nun vorgebracht wird, sind keine wirklichen Argumente, sondern die seit dem Mittelalter virulenten Ängste und Vorurteile. Zum Beispiel soll es in der Grabowschule, die es sicher schwer hat, Klassen mit einem Ausländeranteil von 70% geben. Das ist für die Lehrer herausfordernd. In solchen Klassen müssten mindestens zwei Lehrer oder die Klassen müssten geteilt sein. Aber komischerweise kommt niemand von den Obernationalisten auf die Idee, dass es bei 30% Schülern die Klasse und wahrscheinlich die ganze Schule gar nicht mehr geben würde. Ein paar Dörfer weiter gibt es einen sehr schönen Spielplatz. An seiner Stelle stand da einst eine Plattenbauschule. Und die Dorfbewohner entblöden sich nicht zu jammern, dass man ihnen die Schule genommen hätte, obwohl man von diesem Spielplatz den Schulbus kommen sehen kann. Ihm entsteigen vier Kinder, im nächsten Bus vielleicht noch einmal vier. Der Zusammenhang wird – nicht böswillig, sondern leichtfertig und absolut gedankenlos – geleugnet. Der Merksatz dafür scheint zu lauten: Damals war alles richtig. Heute ist alles falsch. Und die Partei, die genau das sagt, wird gewählt. Es ist nicht schwer vorauszusehen, dass die Wagenknechtpartei mit ihrem Programm KONZERNEZERSCHLAGEN&MIGRATIONSTOPPEN ebenfalls Erfolg haben könnte. Allerdings glaube ich, dass Wagenknecht, deren rhetorische Fähigkeiten man früher mit dem Titel Maulheldin qualifizierte, erneut an den organisatorischen Schwierigkeiten scheitern wird. Irgendwann geht das Paar Lafontaine-Wagenknecht ins Guinness-Buch der Rekorde mit den meisten zerschlagenen Parteien pro Kopf ein. Statt in talk shows sind sie dann nur noch in Satiresendungen zu sehen. Auch die AfD hat zehn Jahre und fünf Führer gebraucht, um das heutige Niveau zu erreichen.
Obwohl der größte, widerlichste und verbrecherischste Sozialdarwinist gescheitert und suizidal geendet ist, haben weiterhin alle Autokratien und auch die Parteien, die eine Autokratie anstreben, die Vorstellung von der sozusagen automatischen demografischen Lösung aller Probleme. Obwohl sich immer wieder zeigt, dass die meisten demografischen Herausforderungen Bildungsprobleme sind, obwohl selbst die intendiert gutwilligsten und gleichzeitig praktisch böswilligsten Eingriffe in die Demografie – Indira Gandhis Zwangssterilisationen und Deng Xiaopings Einkindehe – katastrophal gescheitert sind, gibt es weder bei den Autokraten noch bei ihren Nachplapperern ein Einsehen. Fast jeder Mensch ist gut bildbar, man muss ihn nur genügend und effektiv fördern. Ich halte den berühmten Spruch ‚fördern und fordern‘ für zumindest verkürzt, wenn nicht falsch. Immer wieder zeigt sich, dass ein Kind für seine Entwicklung maximale Förderung braucht. In Südkorea, einem äußerst reichen und sehr erfolgreichen Land, zerbricht die relativ größte Anzahl Jugendlicher an vielleicht gutgemeinten, aber weit überzogenen Forderungen. Die beste Förderung von Kindern ist LEGO & LESEN.
Indessen ist Prenzlau nicht der Mittelpunkt der Welt, deren Probleme hier auch nicht gelöst werden können. Der Bundespolitik muss man vorwerfen, dass sie zu wenig unternimmt, um den Kommunen, Landkreisen und Ländern zu helfen. Unter helfen darf man nicht nur Geld, sondern muss man auch Geist verstehen, Argumente, Erklärungen, die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten. Dann würde endlich dem Eindruck widersprochen, dass auch die gegenwärtige Bundesregierung den Dingen einfach ihren Lauf lässt, in Analogie zu Kohls und Merkels ‚aussitzen‘. Allerdings darf man die Motivation von Merkels Satz ‚Wir schaffen das‘ nicht unterschätzen, er hat leider auch die Gegenkräfte zum Gegenteil ermuntert. Aber besteht der allgemeinste Irrtum nicht darin, stets das Gegenteil nicht genügend mitzudenken? Die Weltpolitik scheint im Moment nicht zu koordiniertem Verhalten befähigt. Sie ist, wie im Kalten Krieg, nun aber mehrfach gespalten: G7, G20, Brics, EU, AU, NATO. Zwar gibt es viele Überschneidungen, aber auch harte Abgrenzungen. Nur die Schwäche Russlands verhindert höchstwahrscheinlich einen dritten Weltkrieg.
Neuerdings gibt es in Prenzlau auch Ukrainerinnen und Ukrainer, im Gymnasium gibt es sogar eine ukrainische Klasse. Sie werden noch weniger angefeindet als die Flüchtlinge von 2015/2016. Das ist ganz im Sinn der alten Migrationstradition dieser kleinen Stadt, die sich endlich auch aus dem Grauingrau der DDR erhoben hat. Selbst der Dreke-Ring wird bunt. Dagegen wehrt sich die WIRWOLLENNACHGESTERN-Partei. Aber das Rad der Geschichte lässt sich bekanntlich nicht aufhalten. Es dreht sich wie das Mühlrad aus dem Lied: di redern drejen sich, di joren gejen sich…, das vielleicht Nathan Mamlock aus der Steinstraße 15 vor sich hin gesummt hat, als er wieder einmal von seinen Mitbürgern, die gern bei ihm im Hinterstübchen ein Glas zu viel tranken, denunziert worden war.
Foto: rochusthal
Neue Prenzlauer vor den slawisch-deutsch-christlich-jüdisch-französisch-polnischen-russland- und batschkadeutschen Orten, deren Ururenkel womöglich einst Meier oder Schmidt heißen werden.
Der Text von 2016 wurde überarbeitet, aktualisiert und erweitert.
Wir Menschen neigen seit jeher dazu, unsere Gemeinschaften mit ideologischen oder sachlichen Schutzschilden zu versehen. Die Fragilität gesellschaftlicher Gruppen und Territorien bestätigt deren Notwendigkeit und die Geschichte bestätigt den Erfolg. Große Schutzglocken sind die sozial orientierten Religionen, von denen allerdings jede einzelne ihre Historizität abstreitet und sich auf eine direkte göttliche Gründung beruft. Das widerlegt die Ringparabel. In der Literatur taucht sie zuerst in Boccaccios Decamerone auf, die berühmteste Version legt Lessing seinem weisen Nathan in den Mund. Er will damit der ewigen Gretchenfrage, in diesem Fall des sogar historisch belegbaren Sultans Saladin ausweichen. Der braucht in Lessings Stück Geld für seinen Religionskrieg gegen die Kreuzfahrer. Der Legende nach, die allerdings nicht von Lessing kolportiert wurde, soll er die Kreuzfahrer statt durch eine Schlacht mit einer Kopfprämie vertrieben haben. Legendär ist jedenfalls seine Herrscherweisheit, die Lessing durch den erfundenen Hausphilosophen bekräftigt. Aber auch der junge Kreuzritter, der aus Versehen ein vermeintlich jüdisches Mädchen aus dem brennenden Haus rettet, erweist sich letztendlich als klug und aufgeklärt.
Einen Hausphilosophen hielt sich auch der sagenhafte König David. Es war der Prophet Nathan, der dann später auch dafür sorgte, dass von den vielen Söhnen Davids der weiseste, der auch der Sohn von jener Bethseba war, um die es in der Nathan-Parabel geht, König und Nachfolger seines Vaters wurde. Er erbaute den Tempel in Yerusalem, der bis heute ein Streitpunkt der Bevölkerungen ist, er ist durch seine richterliche Weisheit sprichwörtlich geworden und er hat in der Bibel drei Bücher hinterlassen, die nicht nur zitierbar sind, sondern auch tatsächlich zitiert werden.
Der Prophet Nathan hat uns die Erkenntnis hinterlassen, dass wir selbst unsere Schuld benennen und die Initiative ergreifen sollten: DU BIST DER MANN ODER DIE FRAU, die gefordert sind. Wir können weiterdenken: UND HEUTE IST DER TAG, an dem wir beginnen sollten. Die Ringparabel dagegen, der fiktive Nathan, fordert uns auf, nicht auf vermeintlichen Wahrheiten und Herkünften zu bestehen, sondern unserer von Vorurteilen freien Liebe, der Kraft des Zauberrings zu folgen. Das hört sich einfach an, ist aber die schwierigste soziale Frage nach der des Hungers.
Beide sagen uns: GETAN IST, WAS DU TUST, NICHT, WAS MAN DIR TUT.
DIE NATHAN PARABEL
[2. Samuel 12] [Sure 38, 21-27]
Als David noch ein halbwüchsiger Junge war, besiegte er den Riesen Goliath, den stärksten Mann der Philister, die Israel angegriffen hatten. David schleuderte mit einem Katapult einen Stein und zerschlug das einzige Auge des Riesen. Der König Saul, der ihm seinen Erfolg neidete, gab ihm dennoch seine jüngste Tochter Michal zur Frau. Nach Sauls Tod wurde David ein großmächtiger König, ein bedeutender Feldherr, der aber auch die Psalmen schrieb, auf seiner Kithara spielte und den Frauen zugetan war.
Eines Abends sah er von seinem Palast eine schöne Frau auf dem Dach ihres Hauses nackt baden. Es war Bathseba, die Frau des Generals Uria. Er wollte sie haben und schickte seine Diener, sie zu holen. Da sie noch schöner und begehrenswerter war, als er zunächst gesehen hatte, behielt er sie bei sich und schlief mit ihr. Als sie ihm nach einigen Wochen sagte, dass sie schwanger sei, erkundigte er sich nach ihrem Mann Uria. David befahl, Uria in eine solch aussichtslose Lage bringen zu lassen, dass er im Kampf sterben müsste. So geschah es.
Aber der Prophet Nathan wollte dem König erklären, dass sein Verhalten nicht akzeptabel sei und erzählte folgende Geschichte:
In einer Stadt lebten zwei Männer, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte 99 Schafe, der Arme hatte nur ein einziges Schaf, das er sehr liebte. Es lebte in seinem einzigen Zimmer mit ihm zusammen und er holte täglich frisches Futter für das Schaf. Eines Tages bekam der Reiche Besuch aus einer anderen Stadt. Um ein Festessen zu bereiten, ließ der reiche Mann aber nicht eines von seinen vielen Schafen schlachten, sondern er holte das einzige Schaf des armen Mannes, schlachtete und bereitete es zum Festessen.
An dieser Stelle unterbrach der König David seinen Propheten Nathan und rief aufgeregt: ‚Dieser reiche Mann, wenn er in meinem Land lebte, wäre des Todes. Er muss verurteilt werden!‘
Da sagte Nathan: ‚DU BIST DER MANN. Du hast deinem General Uria die Frau genommen und ihn töten lassen, obwohl du mehr als genug Frauen hast. Du musst Buße tun. Aber ein Sohn von dir und dieser Frau wird nicht nur der nächste König werden, sondern ein weiser Mann der Weltgeschichte.‘
David weinte über seine Fehler und fastete tausend und einen Tag und enthielt sich aller Frauen und Freuden.
DIE RINGPARABEL
[Boccaccio, Decamerone] [Lessing, Nathan der Weise, III,7]
Nathan war ein alter Kaufmann in Yerusalem. Er wurde der Weise genannt, weil er weder Rache noch Täuschung und Betrug guthieß. Die Kreuzritter hatten ihm seine Frau und seine sieben Söhne erschlagen, aber er hatte ein christliches Baby als Pflegekind aufgenommen. Als diese Tochter groß war, brannte in Nathans Abwesenheit das Haus nieder, und ein gefangener Kreuzritter rettete Recha und verliebte sich in sie. Sultan Saladin, der Herrscher Yerusalems, brauchte für seine Kriege Geld, wollte aber Nathan nicht direkt um einen Kredit bitten. Deshalb riet ihm seine Schwester, eine List anzuwenden, um Nathan in Schwierigkeiten zu bringen. Saladin fragte also Nathan, welche der drei abrahamitischen Religionen – nach Vernunftgründen – die beste sei. Nathan erkannte die Falle und erzählte folgende Geschichte:
Es war einmal ein Mann, der einen Ring mit der Kraft besaß, seinen Besitzer vor Gott und den Menschen beliebt zu machen. Aber als der Mann alt wurde, wusste er nicht, welchem von seinen drei Söhnen er den Ring vererben soll. Denn sie waren ihm alle drei gleich lieb und er versprach in seinen letzten Tagen jedem der drei Söhne den Ring. Insgeheim ließ er von einem Goldschmied zwei täuschend echte Kopien anfertigen, so dass bei seinem Tod jeder der drei Söhne einen Ring und den Segen erhielt. Die Söhne bemerkten das nach einiger Zeit und gerieten in einen heftigen Streit, bis einer der drei vorschlug, sich gegenseitig zu verklagen und einem Richter die Entscheidung zu überlassen.
An dieser Stelle unterbrach Saladin den weisen Nathan und fragte – zu Tränen gerührt – ‚Was lässt du nun den Richter sagen, Nathan, was?‘
Der Richter sprach: Die Kraft des Rings wird selbst entscheiden, wer der richtige ist. Wenn jeder von euch, sich selbst aber nur am meisten liebt, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger und alle drei Ringe sind unecht, weil der echte vielleicht verloren ging. Wenn jeder seinen Ring den echten glaubt und seiner von Vorurteilen freien Liebe folgt, so wird in tausend tausend Jahren ein weiserer Mann entscheiden können, was gut und besser und am besten war.
Die Religionen unterscheiden sich in Äußerlichkeiten, nicht aber vonseiten ihrer Gründe, sagte Nathan, niemand kann verlangen, dass du deinen Vätern und Müttern weniger glaubst als ich den meinen. Der Mann, dachte Saladin, hat recht.
Der obdachlose Bettler trat von hinten an mein Auto, während ich den Einkauf in meinen Kofferraum sortierte. ‚Können Sie mir eins fünfzig geben?‘, fragte er mit leiser Stimme. Ich fragte zurück: ‚Warum gerade eins fünfzig?‘ ‚Ach‘, sagte er, ‚das ist Zufall. Nichts ist zu wenig.‘ Ich musste lachen: das ist der Spruch an meinem Auto. ‚Aber stimmt denn das?‘, fragte er weiter. ‚Ja, natürlich, sonst hätte ich es nicht dran geschrieben.‘ ‚Haben Sie auch einen Schlüssel?‘ Vielleicht stellte er sich vor, dass er bei so viel Glück – ich hatte ihm zwei meiner Einkaufswagen-1-Euro-Stücke gegeben – nun auch noch mein Auto klauen könnte? Aber dann fragte er abschließend, und ich weiß, dass das keine Pointe ist, ob er meinen Einkaufswagen einsortieren könne, denn das tue er hier auf diesem Parkplatz. ‚Ist das in Ordnung?‘
Ein Paradigmenwechsel ist nur insofern ein Ende, als er auch ein Anfang ist. Alles, was früher galt, gilt auch heute, nur mit einer anderen Wertigkeit, in neuen Zusammenhängen. Man kann mit einem Faustkeil oder mit einem Dreschflegel noch genau das gleiche tun wie früher, nur tut man es jetzt wesentlich seltener. Hegel nannte das Aufgehobensein. Das ist auch eine schöne Erklärung für wahren Konservatismus: die Tradition wahren, das Alte aufheben, ohne das Neue zu verachten. Inzwischen ist aber, da wir erkannt haben, dass jede Innovation auch einen neuen Grad von Zerstörung in die Welt bringt, eine neue Denkgröße hinzugetreten: die Nachhaltigkeit, die relativ neue Vorstellung, dass nicht mehr verbraucht werden kann, als nachwächst oder sich regeneriert. So können wir überlegen, ob der Faustkeil in einer semimobilen Brechanlage funktional gut aufgehoben ist oder ob diese soviel Energie verbraucht, wie durch die neue Straße, die mit den gebrochenen Steinen als Unterbau entsteht, eingespart wird. Dann hätte diese Gleichung eine fette Null als Lösung, das ist der Traum vom Gleichgewicht, aber in Wirklichkeit verbrauchen wir in Deutschland soviel Energie wie ganz Afrika. Das ist ein Verhältnis von achtzig Millionen zu über einer Milliarde Menschen und nicht durch das schlechte Wetter hierzulande hinreichend erklärt. Das ist signifikant nicht nachhaltig, selbst nicht mit Windrädern, denn diese müssen her- und hingestellt und später entsorgt werden, sie beeinträchtigen zudem die Lebensqualität, wenn auch weit weniger als Kohle- oder Kernkraftwerke.
2
Der kleine Kalkant
Die Orgel als Sozialidylle
Erst musste er die Glocken läuten, dann wirkte er als Kalkant an der Sonntagsmusik in seinem Heimatdorf mit. Kalkant, das klingt heute eher nach einem Menschen, der etwas kalkuliert, was wir ja alle tun. Das war aber der Bälgetreter, ein Junge, der vor der Konfirmation, die seine Kindheit im Elternhaus beendete, in der Kirche den Schöpfbalg der Orgel bediente, damit der Lehrer, der auch Kantor war, die Gemeinde begleiten konnte. Vielleicht war der Lehrer auch so gut, dass er jeden Sonntag mit einem Stück konzertierte und brillierte. Zwar brillierte der Kalkant nicht, trotzdem war er unentbehrlich und vergaß auch später nicht, was er da, vielleicht ein bis zwei Jahre lang, getan hatte, wie er glaubte, für Gott, aber, wie wir meinen, auch für die Demokratie, die Kunst und für sein eigenes Verständnis.
Was er nämlich, wenn er diese Tätigkeit beendete, verstanden hatte, war nicht die Musik, die für ihn wahrscheinlich unverständlich bleibende Musiksprache Bachs oder Regers, sondern das Komplementäre seines Tuns: wenn er den Balg nicht trat, konnte der Kantor nicht spielen, spielte der Kantor nicht, musste er auch nicht den Schöpfbalg bewegen. Die Orgeln im frühen neunzehnten Jahrhundert waren alle Meisterwerke der Mechanik. Es gibt einerseits den Weg der Luft von überall durch den Balg in die Pfeife, andererseits den Impuls des Gedankens über die Finger, die Tasten, die Abstrakten ebenfalls zur Pfeife. Dort treffen sich Luftstrom und Gedankenstrom und erzeugen im besten Falle Musik. Die Abhängigkeit des Musikers, der sich als Tastenwanderer und Spintisierer sehen mochte, vom kleinen Jungen, der seine frühe Kraft in den Dienst der Allgemeinheit stellte, diese Abhängigkeit in einem kohärenten System war gegenseitig.
Weil es einem hierarchischen Staats- und Erziehungssystem nicht gelungen ist, den Bälgetreter von der Notwendigkeit und der Sprache dieser Musik zu überzeugen, ist die Luftbeschaffung mechanisiert und die Musiksprache für Bälgetreter krass vereinfacht worden. Zwar gab es auch schon vorher neben der erbauenden die rein unterhaltende Musik und Kunst überhaupt, aber eben daneben und eher als Ausnahme. Die Reproduktionsmöglichkeiten der Kunst und der wachsende Wohlstand führten zur massenhaften Ausbreitung rein unterhaltender Musik, deren Herkunft und Abhängigkeit dem Laien verborgen bleibt, dem Musiker aber eine Selbstverständlichkeit ist: man hört im Jazz den Choral und die Polyphonie, man sieht im Instrumentarium die türkische Militärmusik, zum Beispiel die Percussion, man fühlt in der Klangnachahmung des Synthesizers den Leierkasten und die Kinoorgel. Und die hatte der Dorfschullehrer auch schon erfunden, wenn er den Kindern eine Geschichte erzählte und die dazugehörigen Geräusche auf der Orgel produzierte. Der Lehrer selbst war ein Medium und musste zaubern können.
Aber das sich ergänzende Miteinander bestand nicht freiwillig, sondern in einem autoritären Zwangssystem, auch wenn es den Menschen damals als ganz natürlich und wunderbar erschien. Der Kaiser im Märchen fiel gedanklich mit dem Kaiser in Berlin oder Wien oder Moskau oder Istambul zusammen!
Man könnte Technik auch immer als den Versuch deuten, menschliche Abhängigkeiten und Kraftverschwendung durch Apparaturen zu ersetzen. Denn der kleine Kalkant war nicht immer zuverlässig, einmal war er krank, das andere mal hatte er seinen komplementären Termin schlicht vergessen, beim dritten Mal musste er zu einem ersten Date hinterm Hollerbusch eilen.
Die heutigen Windmaschinen erzeugen einen gleichmäßig hohen Winddruck. Spezialisten für alte Musik spielen schon wieder an Orgeln, deren Winddruck von speziell geschulten, natürlich nicht mehr halbwüchsigen Kalkanten hergestellt wird. Die heutigen Windmaschinen erzeugen aber auch oft einen Höllenlärm, der gedämpft werden muss oder störend bleibt. Kurz: ein jeder Vorteil bringt auch neue Nachteile mit sich, ein Lehrsatz, den wir allzugern vergessen. Auch das Fahrrad war einst erfunden worden, um die Abhängigkeit des Menschen vom Pferd zu mildern. In jenem Jahr ohne Sommer, 1816, starben viele Pferde selbst Hungers oder wurden dem Hunger der Menschen geopfert. Während der Freiherr von Drais als Ersatz für das Pferd das Fahrrad ersann, dachte der junge Justus Liebig, später Freiherr von Liebig, schon über organische Chemie und Düngung, zunächst aber über Knallerbsen nach. Ganz sicher arbeitete er auch als kleiner Kalkant.
Was früher als Kraftverschwendung gedeutet wurde, könnte heute in ein Fitnessprogramm einbezogen sein. Man stelle sich diesen Genuss dickleibiger älterer Damen und Herren vor: sie trainieren sich Pfunde ab und wunderbare Musik an, wenn sie als Kalkanten statt als bloße Zuhörer zum Konzert gehen. Danach besteigen sie ein Fahrrad, das nicht durch einen Elektromotor trittverstärkt, sondern durch einen Dynamo ausgenutzt wird. Die so gewonnene Energie wird zuhause ins Mikrokraftwerk eingespeist. Ein Vorgefühl von diesem späteren Glück kann man schon sommers in der Uckermark sehen: so viele Fahrradfahrer eilen zu Orgelkonzerten!
Das gilt alles nur für kleine Dorforgeln und Fahrräder. Die neue Orgel im Dom zu Speyer hat ein offenes 32-Fuß-Register, für das man soviel Wind braucht, dass eine ganze Schulklasse kalkantisch eingesetzt werden müsste. Das Register heißt Contraposaune, sollte aber zu Ehren der Stifter der Orgel, der Fabrikantenfamilie Quandt, in Quandtarde umbenannt werden. Und weil die Familie nicht nur Automobile der Sorte BMW, sondern auch Waffen produzierte und Zwangsarbeiter beschäftigte, regte sich dagegen demokratischer Protest. Alles Gigantomanische ist kontraproduktiv.
Die Dorforgel wäre aber mit ihrem nahen Verwandten, dem Fahrrad, schon von vornherein demokratisch, wenn sie nicht in so undemokratischer Zeit gestanden hätte. Die Renaissance der Dorforgel in Orgelkonzerten und ganzen Konzertsommern ist also nicht nur unserem Dauerwunsch nach Musik geschuldet, sondern auch der Sehnsucht nach einfachen, aber demokratischen Verhältnissen, nach gegenseitigen Abhängigkeiten, die wohltuend solidarisch sind. Viele Menschen glauben sich heute in einer kalten, fremden Welt, weil sie das Solidarsystem genauso wenig wahrnehmen können wie die Winderzeugung beim sommerlichen Orgelkonzert. Eine kleine Orgel ist heute so demokratisch, sozialromantisch, ökologisch und nachhaltig wie ein Fahrrad.
Bleibt nur noch zu hoffen, dass die Glocken von einem einsamen Rentner, der seinen Lebenssinn darin wiederfindet, oder willigen Hartzvieristen, der einen kleinen Teil dessen, was er der Gesellschaft schuldet, zurückzugeben hofft, geläutet werden, und nicht von einer gott- und seelenlosen energieverbrauchenden Maschine.
3
In einem winzigen Dorf in der menschenleeren Uckermark wird am Reformationstag 2014 eine neue alte Orgel eingeweiht. Früher, im neunzehnten Jahrhundert, war die Orgel eine Schnittstelle zwischen elitärer Kultur und dem so genannten einfachen Volk. Diese Kultur war nicht insofern elitär, als dass sie niemand hätte verstehen können, sondern in dem Sinne, dass sie, mangels Reproduzierbarkeit, selten zu hören und zu sehen war. Wenn sie allerdings stattfand, waren an ihr mehr eingeborene Personen beteiligt als heute. Wir nehmen einmal an, der Dorfschullehrer von Woddow oder Bagemühl hätte sich zum Reformationstag 1814 vorgenommen, einen Bachchoral aufzuführen. Den kräftigsten Schüler hätte er als Kalkanten eingesetzt, die schönsten Stimmen hätten gesungen. Viele hätten mitgemacht. Mädchen denken immer, dass sie gut singen können, Jungen denken meistens, dass sie es nicht können. In einem Bachchoral gibt es keine Hierarchie, alle Stimmen sind gleichverpflichtet, die Orgel muss so laut sein, dass sie jeder hört, aber so leise, dass sie nicht die zarten Stimmen der angeblich groben Dorfkinder übertönt. Wie sollen die Kinder nicht die Schönheit dieses Chorals empfunden haben? Und wie soll das im Gegensatz zur Kirmesmusik gestanden haben, wie man damals Pop nannte? Nur in einer Hierarchie gibt es oben und unten, gut und schlecht. Nach zwei verheerenden Kriegen, die eine Hierarchie der Nationen stützen sollten, brach die internationale Hierarchie zurecht zusammen, aber nicht Freiheit war das Ergebnis, sondern zunächst Chaos. Vandalismus kann nie Freiheit bringen, aber vielleicht doch Befreiung. Gutshäuser wurden angezündet, Kirchen geplündert. Die Gutsherren und die Kirchenfürsten hatten sich zu sehr ins Zerstörungsgeschäft gemischt. Die Pfeifen der Woddower Orgel, wir wissen noch nicht einmal, wer das Werk einst gebaut hatte, wurden, nachdem sie Kindern zum Gespött dienten, als Altmetall verscherbelt und der Rest als Altholz verbrannt. Die Kirche verfiel, ihr Inventar, darunter ein wertvoller mittelalterlicher Altar, wurde ausgelagert. ‚Ach wie flüchtig, ach wie nichtig…‘ ächzten die Fugen des Feldsteinbaus.
Inzwischen war in Berlin durch denselben Krieg zum fünften Mal jene Kirche zerstört worden, die an der ältesten Stelle dieser nicht so sehr alten Stadt gestanden hatte, die Petrikirche. Aber im Gegensatz zu Woddow kam der Krieg nicht als fremdes unverstandenes Schicksal auf Berlin, sondern er war von hier als böses Schicksal für viele Millionen Menschen ausgegangen. Von der ältesten Gemeinde blieb ein Schutthaufen übrig, aber auch Hoffnung in einem Gemeindehaus. Für den weiteren Verfall wird gerne der durch die Diktaturen geförderte Atheismus verantwortlich gemacht, denn das haben wir alle in Hierarchien und Diktaturen gelernt, dass es leichter ist, von äußeren Ursachen auszugehen. In jeder Schuldzuweisung liegt ein falscher Trost. Zum Schluss wurde auch dieses Gemeindehaus verkauft, so dass, nachdem die Petrikirche einst die größte Orgel Berlins besessen hatte (Carl August und Carl Friedrich Buchholz, IV, 60, 1860), die letzte kleine Orgel heimatlos übrig blieb.
Und man möchte beinahe glauben, dass auf wunderbarem Weg sich diese beiden Geschichten trafen. Die Orgel scheint für die gerettete Kirche von Woddow wie gemacht, hier erst entfaltet sie ihren wahren Klang, ungedämpft durch Querelen und Hölzer. Aber für wen wurde die Kirche gerettet? Zunächst wurde sie für die Retter gerettet, die Bewohner des Palindromdorfes und der umliegenden Orte. Sodann aber auch für willkommene Gäste, seien es Verwandte und Bekannte, Touristen und Migranten. Gerade in diesen Dörfern kamen vor dreihundert Jahren französische Glaubensflüchtlinge an, die vielleicht nicht in jedem Falle willkommen waren, zumindest haben sie selbst auch lange gefremdelt, aber dann haben sie sich so sehr integriert und assimiliert, dass ihre Nachkommen heute noch nicht einmal mehr ihre eigenen Namen französisch aussprechen. Die Uckermark ist also auch ein Landstrich der Migration. Vielleicht sollten wir wieder ausrufen, dass Flüchtlinge, aus welchem Grund und Land auch immer, hier jederzeit willkommen sind. Vielleicht wird Woddow dann die erste Moschee mit einer Orgel, noch besser aber: keine Moschee und keine Kirche, sondern ein Haus für alle Menschen haben. Die einen beten – in welchem Kult und in welcher Sprache auch immer – zu Gott, die anderen beraten, was man Gutes für die nächsten Generationen tun kann. Dann hätte die alte Feldsteinkirche von Woddow dieselbe Bestimmung wie der Ort der Petrikirche, wo gerade jetzt ein Tempel der drei monotheistischen oder abrahamitischen Religionen entsteht, das HOUSE OF ONE. Um die Ecke haben übrigens zwei berühmte Pfarrer gewohnt: Gotthold Ephraim Lessing erdachte dort den weisen Nathan und den weisen Saladin und den weisen Tempelherrn, der aus der Hierarchie aussteigt wie aus einem falschen Mantel, und Johann Peter Süßmilch, der übrigens tatsächlich auch Pfarrer an der Petrikirche war, erdachte dort die Statistik als Beschreibung des perfekten göttlichen Wirkens. Er war nicht nur einer der Begründer der Demografie, sondern auch der erste Denker, der Evolution und Glauben zusammenbrachte, ein gottnaher Mathematiker.
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Die Nachhaltigkeit einer mechanischen Orgel erklärt sich aus ihrem Material, Kiefernholz, Eichenholz, Kupfer, Blei, Zinn und Zink, wie aus ihrer robust mechanischen Bauweise und Zweckbestimmtheit. All das wirkt in Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit zusammen. Eine Orgel besteht sicher hundert und zweihundert, oft dreihundert und vierhundert Jahre. Sie muss allerdings gepflegt und benutzt, gewollt und gemocht sein. Solange die Kirche das Monopol und den Primat im menschlichen Lebenslauf hatte, war also auch die Orgel, wo sie überhaupt vorhanden war, allgegenwärtig. Bis in das Denken und die Sprache hinein war sie zu hören: Kinder wie die Orgelpfeifen, denen man die Flötentöne schon beibringen wird, wo du nicht bist, Herr Organist, da schweigen alle Pfeifen, alle Register ziehen, den Riemen auf die Orgel werfen, die Pfeife spricht oder ist blind, zu der Orgel gehören andere Bälge, draußen orgelt der Wind. Fast jede Orgel hat viele Generationen von Menschen erlebt, fast jede Kirche hat mehrere Generationen Orgeln gehört. Konkurrenz hat die Orgel in dieser Beziehung zum Menschen nur im neunzehnten Jahrhundert vom Harmonium und vom Wohnzimmerklavier bekommen. Ansonsten steht sie einzig da: das Musikinstrument, das die meisten Menschen in vielen Jahrhunderten begleitete. Nachhaltigkeit ist also keineswegs nur eine Materialfrage. Vielmehr kann man von einer Prägung der abendländischen Bevölkerung sprechen. Sprechen die Glocken mehr als Signal, so kann die Orgel Gefühle kommentieren und sogar hinterfragen. Die Symbiose des europäischen Menschen mit der Orgel wies aber auch in die Zukunft: Jeder kleine aufmerksame Kalkant wusste schon im neunzehnten Jahrhundert, was programmieren ist: eine Melodie oder Harmonie als Software und eine Flöte oder Trompete als grundlegende Hardware zusammenbringen. Dieses Prinzip wurde in der weitgehend verachteten Drehorgel noch weitergeführt, so dass man sagen kann, der Lochstreifen des Zuse-Computers ist die legitime Tochter der Walze von Drehorgeln oder der Lochplatten von anderen mechanisch-automatisierten Instrumenten.
Ist die Musik uns emotional am nächsten, so ist es das Haus rational. Beide treffen sich im Ton. Die mit Abstand meisten Orgeln stehen in Gotteshäusern. Es gab eine ganz kurze Periode von Kinoorgeln, die allerdings schnell durch den Tonfilm abgelöst wurde. Dennoch ist die Verwandtschaft der Kultorgeln in Kirchen und Kinos nicht zu übersehen. Die Allgegenwart des christlichen Kultus erscheint im zwanzigsten Jahrhundert abgelöst durch die Allgegenwart narrativer Medien. Wenn man noch die unvermeidliche Globalisierung hinzudenkt, ist die Angst vor Synkretismus unverständlich bis lächerlich. Alle Reinheitsvorstellungen sind notwendig absurd. Es gibt keine hundert Prozent. Alle Balken brechen nach dem Muster der Eulerschen Knickfälle und alle aufeinandertreffenden Systeme bilden Schnittmengen nach Venn, auch er übrigens ein Pfarrer.
Kultische Häuser sind einerseits Versammlungsstätten, Orte der Gruppen. Andererseits aber zeigt ihre Anzahl, ihr Raum und der Ort, auf dem sie stehen, an, dass sie gleichzeitig Symbole der Transzendenz sind. Jeder Mensch fühlt, dass es eine höhere Kraft als ihn selbst und die Summe von seinesgleichen gibt. Selbst wenn wir das moralische Gesetz, das Kant unter dem gestirnten Himmel spürte, als Kindchenschema oder gar als biochemische Schutzreaktion der Arterhaltung deuten, ist uns klar, dass dahinter eine höhere Rettungsmacht steht, die sozusagen naturwidrige Wunder vollbringt: der gefürchtete Wolf zieht ein Menschenbaby auf und umgekehrt. Der Wolf löst gleichzeitig Furcht und Nähe aus. So ist auch das Verhältnis von Technik und Leben: sie schließen sich gleichzeitig ein und aus. Heute ist uns erst klar geworden, wer in diesem Wettstreit letztendlich obsiegen wird. Ganz ähnlich wirken die von uns so genannten Gotteshäuser auf uns, weil wir wollen, dass etwas so auf uns wirkt. Wir spüren Gott, weil wir im gotischen Dom oder in der prächtigen Moschee Gott spüren wollen und sollen, der Architekt baut, was wir alle fühlen. Wir alle fühlen hinter den Feldsteinmauern, die durchaus auch den Regeln von Feuchte und Moder gehorchen, das Übernatürliche.
Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Alle Hochrechnungen sind letztlich falsch. Als man von Telepathie träumte, wurde das Telefon erfunden, kurz darauf die die Television. Zwar spinnen wir Luftgespinste (empty visions), wie es in einem der schönsten Lieder heißt, aber selbst der felsenfesteste Fundamentalist wird zugeben müssen, dass doch nicht nur eine erstaunliche Anzahl von leeren Visionen Wirklichkeit wurde, sondern auch auf höchst erstaunlichen Gebieten. So sind wir selbst als Körper hochmobil, aber noch schneller sind unsere Gedanken. In wenigen Sekunden sind sie in Amerika oder Australien. Aber braucht sie dort jemand, fragte schon Samuel Morse?
Je schneller unser Leben zu sein scheint, desto mehr Entschleunigung benötigen wir. Man kann nach Schweden fahren oder in die Feldsteinkirche Woddow gehen, denn alles, was früher galt, gilt auch heute, wenn auch mit einer anderen Wertigkeit.
5
Also, wozu brauchen wir diese Orgel?
So wie das Kreuz die Zusammenführung zweier Linien ist, so ist die Orgel in gewisser Weise ein Symbol für das Abendland, für alles, was gestern war und von dem wir fürchten, dass es morgen nicht mehr sein wird. Unsere eigene Angst vor der Vergänglichkeit, von der die Fugen des Feldsteinmauerwerks singen, wird in der Bewahrung aufgehoben. Unser Leben hat nur Sinn auf andere Menschen hin, so wie wir von anderen Menschen leben, leben wir auch für sie. Wenn wir also etwas bewahren, tun wir es gerade auch für andere Menschen, Generationen und sogar Nationen.
Und obwohl diese Feldsteinkirche, die nach 69 Jahren Schweigen wieder eine Orgel hat, ein doppeltes und dreifaches Symbol für das Abendland ist, ist sie gerade durch ihre Leere, durch ihr Verwurzeltsein im leeren Raum, in einer Landschaft, die nahezu menschenleer ist, offen für alles Neue, ob es nun Flüchtlinge sind oder elektronische Gedankenstützen und Gefühlsreproduzenten. In der Feldsteinkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert wohnte schon immer die Hoffnung und wohnt sie wieder. Nur wenige Touristen eilen durch unser abgelegenes Brüssower Land. Aber wenn in jedem Jahr einer darunter ist, der hier Entschleunigung und Trost findet, Stille und einen neuen Gedanken, dann hat es Sinn gehabt, die Schukeorgel opus 278 aus dem verkauften Petrigemeindesaal der fünfmal zerstörten ältesten Kirche Berlins, dort wo jetzt das HOUSE OF ONE gebaut wird, ganz in der Nähe vom Geburtsort des weisen Nathan, in das fast schon verlassene Dorf in der menschenleeren Uckermark zu bringen, in die Kirche, die schon aufgegeben und vergessen war, an die Stelle der Orgel, an die sich niemand erinnert…
Jedes Dach ist ein Obdach und jede Melodie ist Heimat.
Die Rohstoffe früherer Zeiten waren namen- und sinngebend für ganze Epochen der Menschheit: Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, aber auch das Industriezeitalter mit seiner unseligen Triade Eisen, Kohle, Stahl, denn der Eiffelturm und das Kreuzbergdenkmal mögen uns rührend und anmutig vorkommen, sie sind aber auch harte Kennzeichen der gnadenlosen Ausbeutung der Natur, die wir jetzt distanziert Umwelt nennen. In diesem Industriezeitalter sind die großen Städte entstanden. Die größten Städte sind aber entstanden, als die Verteilung der Industrieproduktion schon längst abgeschlossen war und die Menschen in den weniger entwickelten Ländern trotzdem in die Städte drängten, weil sie dort auf das gleiche bessere Leben hofften wie die Menschen, die um 1800 nach Liverpool oder Wuppertal gingen. Statt des besseren Lebens ist ein Kult um den Müll entstanden. Der Wohlstand ruft, aber die Abfälle antworten. Kinder, jene reinen Wesen der Hoffnung und der Neugier, müssen gerade da zuhauf vegetieren, wo die Hoffnungslosigkeit herrscht. Zwar hungern jetzt weit weniger Menschen als 1950 oder 1900, aber je mehr wir von der Welt wissen, desto mehr erschreckt uns die althergebrachte Ungerechtigkeit. Unser Focus ist auf das Leid gerichtet. Das ist auf der einen Seite natürlich gut und stärkt unsere Empathie und zum Beispiel auch Spendenbereitschaft, auf der anderen Seite erhöht es aber auch den Abschottungsreflex, der aus der Angst entspringt, morgen wieder mit bloßen Händen dazustehen. Dabei sollten uns die Ruinen des Römischen Reiches daran erinnern, wie lange Reichtum vorhält, weit über den Untergang hinaus. Wer bereit ist, auch das immaterielle Erbe mitzuzählen, der wird im lateinischen Alphabet und in der lateinischen Sprache den Reichtum des Römischen Reiches sogar fortleben sehen. Wir müssen uns also keine Sorgen um uns machen. Wir werden schon nicht verschwinden.
Da in der Stadt Politik und Kunst gemacht werden, aber auch fast alle Gegenstände, erscheint es dem Städter so, als ob die Stadt mit sich selbst leben könnte. Kein Städter glaubt, dass außerhalb der Stadtmauern etwas Wichtiges passiert. Er kennt die Natur vom Spaziergang und vom Urlaub, aber er hält sie nicht für notwendig. Die wichtigen Events finden in der Stadt statt. Unter einem Event versteht der Städter aber nicht, wenn in seiner Nachbarschaft ein Blogger ein neues Wort gefunden hat und in die Welt hinaus sendet, oder ein Physikprofessor einen neuen Botenstoff für das Smartphone entdeckt zu haben glaubt. Der Physikprofessor ist für den Städter vielmehr jener Veganer, der in einen Gummimantel gehüllt auf einem zehntausend Euro teuren Fahrrad fährt und als einziger in der Straße eine durch drei Etagen gehende Maisonette-Achtraumwohnung hat, in der zwei Steinway Flügel stehen. Unter einem Event versteht der Städter vielmehr ein Vergnügen, das er sich selbst bereitet, indem er in große Stadien zu Ballspielen und Konzerten geht, indem er stundenlang nach Karten ansteht, um in Riesendiskotheken und Clubs die Nähe zu suchen, die ihm zuhause fehlt. Selbst Fernsehsendungen hält er für tatsächliche Ereignisse. Wir leben, es ist fast trivial zu sagen, zu mehr als der Hälfte in Filmen statt in der Realität. Zählt man zu den Filmen noch die Videosequenzen, so ist ihre fast totale Wirkung besonders auf die natives – die mit ihnen aufgewachsenen – nicht zu überschätzen. Die Stadt befasst sich also fast nur noch mit sich selbst. Sie ist ein tautologischer Ort, aber kein unbekannter. Ihre Entdeckung folgt den filmischen Spuren, die vorher schon gelegt waren. Schon vor Jahrzehnten gab es in abgelegenen afrikanischen Dörfern Fernseher, die mit Notstromaggregaten, wie wir sagen würden, betrieben wurden. Den Menschen damals in Afrika kam es aber so vor, als ob man elektrischen Strom nur dafür brauchen würde, alte amerikanische und europäische Serienfilme zu sehen. Bis heute gibt es keine nennenswerte, also identitätsstiftende Filmproduktion. Millionen afrikanischer Jungs wollen Fußballer werden, wofür sie auch oft ungeheuer begabt sind. Nur muss man befürchten, dass sich der Bedarf in engen Grenzen hält. Wenn wir also nicht gewollt hätten, dass sich das, was und wie wir tun, nicht verbreitet, hätten wir weder das Fernsehen noch das Smartphone erfinden und verkaufen dürfen. Ihre Relativierung, die bei uns – wenn auch mit mäßigem Erfolg – gelingt, setzt eine Bildung außerhalb tautologischer Kreise voraus. Die mediale Parallelwelt ist einerseits Finsternis gegenüber der wirklichen Welt, andererseits aber die Verwirklichung der romantischen Idee von der Poetisierung, der Durchdringung des ganzen Lebens durch Geschichten. Wir haben dabei einen Halbanalphabetismus hingenommen, indem wir die großen Geschichten lieber nachspielen statt zu lesen. Was dabei an Einbildungskraft verloren geht, wird durch die pure Masse vielleicht ersetzt. Noch deutlicher ist es in der Kunst, die noch elementarer wirkt als die großen und kleinen Narrative, die Musik. Man könnte unser Zeitalter mit Fug und Recht das musikalische nennen. Noch nie vorher ist Musik so alltäglich und allgegenwärtig gewesen, wie gerade jetzt. Fast könnte man sagen, dass die Musik in einem quasiosmotischen Prozess von der medialen Welt in die autochthone Welt überwechselt, ohne dass sie mechanischer Instrumente bedarf. Gleichzeitig gibt es aber eine erfreuliche Renaissance gerade dieser mechanischen Instrumente und die Allgegenwart der Musik besteht keineswegs nur aus Pop und Fahrstuhlmusik, sondern auch aus Bach und Beethoven und dem Silentnighttyp.
Die Menschen in den Millionenstädten nehmen also ihre Herkunft aus der Erde nicht mehr ernst. Sie halten sich für schaumgeboren. Da sie sich nur mit sich selbst beschäftigen, glauben sie, dass es auch nur sie selbst gibt. Um sie herum herrscht Menschenleere. Der Massencharakter ihrer Behausungen ist ihnen zwar klar, aber in der Menschenleere können sie nicht den Sinn des Ursprungs entdecken. Menschenleere ist ihnen Sinnleere. Kein Paradox ist ihnen nah. Zu dieser Entfremdung, schon aus Verehrung für die Familie Feuerbach verwenden wir gerne dieses Wort, hat sicher die Industrialisierung mitsamt der Entpersönlichung der Landwirtschaft beigetragen. Zudem ist die Erde, früher als Mutter bezeichnet, mit Chemie vollgepumpt worden, was ihre Fruchtbarkeit dankenswerterweise so erhöhte, dass der Hunger besiegt werden konnte. Gleichzeitig ging aber ihr unverwechselbar erscheinender Charakter als Mutter, als Ernährerin, als Allgebärerin verloren. Zudem sind die Rohstoffe, die unser Zeitalter bestimmen, unsichtbar. Während die Kohle in einem fast pathetisch zu nennenden Vorgang zutage gefördert wurde und sogar die Sprache bis heute beeinflusst, weiß niemand, woher die Seltenen Erden in seinem Telefon oder woraus die Plastikteile unserer Legowelt stammen. Statt nach der reinen Milch der Vernunft sehnen wir uns nach der kommentierten und tausendfach reproduzierten Nachricht über das, was wir schon wissen.
2
Auf dem Land beginnen hinter der Haustür die Ferien, wo der Städter Agenturen und Fluglinien zwischenschalten muss, mindestens aber eine U-Bahn. Der Städter glaubt sich in einem Versorgungscontainer, der ihn – außer dass er ihn zu versorgen hat – nicht weiter interessiert, aber auch der Landbewohner will auf nichts verzichten und nimmt deshalb Transportwege und Energieverschwendung in Kauf. Allerdings bleibt ihm immer noch mehr Zeit und Geld als dem Städter, da es auf seinen Wegen und in seinen Einkaufszentren keine Unterhaltung oder Ablenkung gibt.
Durch die Minimierung der Landwirtschaft auf der einen und Verlandschaftlichung der Städte auf der anderen Seite kam es zu einer ungeahnten Annäherung. Sie passierte so schnell, dass die Begriffe der Unterschiede, die es nicht mehr gibt, bestehen blieben. Die Urbanisierung hatte zwei große Schübe, und während der erste, der mit der Industrialisierung einherging, die Städte verstädterte, brach der zweite Schub ebendiese Verstädterung wieder auf. Gärten entstanden an den Rändern der Städte, die Gartenstadt wurde zum Ideal. Man wollte sie doppelt verwirklichen: in der Stadt und auf dem Land. Der Versuch, das Land mit einer ähnlichen Struktur wie die Stadt zu überziehen, ist allerdings gescheitert. Man kann in die Stadt zwar einen Garten zwängen, aber man kann den Garten, das Land, nicht auf den U-Bahn-Komfort zwingen. Der Vorteil des Landlebens bleibt ideal.
Stadt und Land haben sich so angenähert wie Mann und Frau (‚Bubikopf‘, ‚Erziehungsjahr‘, ‚Quote‘), Körper und Seele (‚psychosomatisch‘) Himmel und Erde (‚Fliegen‘, ‚Raketen‘), rechts und links (‚Lügenpresse‘). Mit dem Vorrücken der Demokratie verschwinden Hierarchie und Bipolarität. Diese Annäherung, die auch eine Auflösung altbekannter Sicherheiten darstellt, macht einer autoritätsgläubigen Menge von Menschen Angst und ermutigt eine liberale Elite. Immer wieder beschwören fundamentale Konservative die vermeintliche Ewigkeit von Fakt, Begriff, Ordnung, Sprache, Definition und Identität. Aber die Welt zieht einfach weiter, und die Felsen beben. Der Tsunami von Lissabon am 1. November 1755 musste, bevor er die Aufklärung brachte, erst die Gewissheit von katholischer Staatskirche hinwegfegen. Freiheit beruht auf Bewegung, die oft einem Tsunami gleicht.
Selbst Jugendliche, wenn sie autochthone Landbewohner sind, betonen die Ruhe, die man auf dem Land hat. Sie ahmen mit dieser Argumentation die Erwachsenen und die Zugezogenen nach. Jugendliche suchen nicht Ruhe, sondern Aufregendes. Aber sie wissen, dass sie ohnehin bald verschwunden sein werden. Unter dem Alibi der Ausbildung finden sie ein aufregenderes Leben als in der so genannten Heimat. Im Internet sieht man sie beruhigt ihre Sehnsucht feiern. Wenn sie das Haus ihrer Großeltern erben, lassen sie es verfallen, bevor sie es verkaufen. Nichts bringt sie in die Ruhe zurück, nie mehr wollen sie zwanzig Kilometer fahren, weil sie vergessen haben, Zigaretten zu kaufen.
Das Land ist, außer für die ein bis zwei Bauern pro Dorf und diejenigen traditionellen Bewohner, die zu alt sind, etwas Neues anzufangen, nur für ehemalige Stadtmenschen interessant. Sie verdienten oder verdienen genügend Geld, um die vorhin schon erwähnten höheren Transport- und Energiekosten aufzubringen. Sie versprechen sich ein selbstbestimmteres Leben, als es in der Stadt möglich ist. Sie träumen von der Reinheit der Natur, obwohl sie von einer Landwirtschaft umgeben sind, die immer mehr zur Monokultur strebt und ihre Bodenprobleme mit Überdüngung löst. Es gibt zu viele Füchse. Aber weil es auch zu viele Rehe gibt, gibt es zu viele Jäger. Falls sie die zu vielen Ferienwohnungen mieten, gleicht sich ihre Anwesenheit durch die Zahlungen wieder aus. Sie stören die Landschaft beinahe mehr als die Windräder. Die Windräder sind allerdings der Preis oder besser der Tribut, den die menschenleeren Gegenden für ihr Privileg der Einsamkeit bringen müssen. Fährt man durch den äußersten Westen Westdeutschlands, so sieht man, dass der Preis, den diese Landschaften zahlen mussten, weitaus höher ist. Hier im Osten sind es eigentlich nur der Verfall und die Windräder, die den Menschen als Strafe auferlegt sind. Die Kreise werden immer größer und leerer. Lange war die Uckermark der größte Landkreis, ebenso groß wie das Saarland. Jetzt ist es der Kreis Mecklenburgische Seenplatte, er ist doppelt so groß wie das Saarland, das aber fast fünfmal so viele Einwohner hat.
Der Landbewohner bildet sich seine Selbstständigkeit weitgehend ein. Er geht in den gleichen Supermärkten einkaufen wie sein Gegenüber in der Großstadt. Der Vorteil des Landlebens bleibt Idealismus.
Der Städter kritisiert den Landbewohner wegen dessen Mangel an Struktur und vor allem Kultur. Der Landbewohner kritisiert den Städter wegen dessen Anonymität und Einsamkeit. Im Winter sieht der Landbewohner seine Nachbarn manchmal tagelang nicht, das ist die Finnlandisierung Europas. Der Stadtbewohner allerdings kennt angeblich seine Nachbarn namentlich nicht. Trotzdem kommt der namentlich nicht bekannte Nachbar sofort mit Enteisungsspray angerannt, wenn der Städter im Winter morgens die Frontscheibe seines Autos nicht vom Eis befreien kann.
Trotz der Kritik an den Städten bleiben sie bevorzugte Wohnorte. Trotz der Kritik an der Kulturlosigkeit des Landes bleibt auch das Land von bestimmten Menschen bevorzugt. Seit wir also genügend Geld haben, können wir wählen. Die Menschen in den ärmeren Ländern müssen dableiben, wo sie sind, und das bleiben, was sie sind. Es ist zwar eine Frage des Geldes, aber auch ein Problem des Inhalts. Ganz ähnlich wie die Medien kann die Stadt dem Menschen zwar Angebote machen, aber wenn er nicht genügend Bildung oder Offenheit hat, dann kann er sie nicht annehmen und er ist dazu verurteilt, lebenslänglich fernzusehen. Auf dem Land ist es umgekehrt notwendig, dass man über genügend Bildung und Offenheit verfügt, um den Dörfern und Landschaften Angebote zu machen, damit sie nicht nur attraktiv, sondern bewohnbar bleiben.
3
Um Lebensqualität geht es auch in dem immer wieder auflebenden Streit um Ost und West, um Makel oder Bonus der Herkunft, das deutsch-deutsche Festival des Tribalismus, der ewigen teutonischen Unzufriedenheit.
1989 und 1990 handelten ganz gewöhnliche Subjekte ein und derselben Spezies, nur brach auf der einen Seite ein taumelndes System zusammen und auf der anderen Seite fing ein stabiles System die Trümmer auf. Und dann zeigte sich, dass ‚der Westen‘ eine ostdeutsche Erfindung war und ‚der Osten‘ eine westdeutsche, denn auf jeder Seite gab es Entdecker und Ignoranten, Innovateure und Obskuranten. Erzählt werden seitdem die Geschichten der Aneignung und Schmähung. Es ist, auch ganz unabhängig von Deutschland und den Deutschen, Mode geworden, sich als Opfer zu sehen und zu präsentieren. Nicht erzählt wird die Geschichte der vielleicht einen Million Frauen, die nach 1990 still und leise in den Westen gingen, arbeiteten und heirateten und sich keinesfalls als Opfer sehen. Nicht erzählt werden die Biografien der beiden Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin aus dem Osten. Noch nicht einmal erwähnt werden die vier (von fünf) bedeutendsten deutschen Maler: Baselitz aus Baselitz bei Kamenz, Richter aus Dresden, dessen Gemälde schon einmal je 100 Millionen Euro auf die Geschichtswaage bringen, weswegen er zu den 500 reichsten Deutschen zählt, Neo Rauch und Jens Bisky, beide aus Leipzig.
Außerdem kann man die kleine DDR nicht mit der alten großen Bundesrepublik, sondern allenfalls mit dem etwa gleichgroßen Bundesland Nordrhein-Westfalen vergleichen. Aber bis heute klafft da eine große Leistungslücke, denn der Osten Deutschlands, früher Mitteldeutschland genannt, weil es einen noch ärmeren Osten gab, war nur ausnahmsweise und inselhaft industriell, etwa in Chemnitz oder Bitterfeld. Regionale Unterschiede gibt es in vielen Ländern, in den USA, sprichwörtlich in Italien, und sogar umgekehrt in Belgien, wo die Wallonie der einst reiche, nun aber ärmere Teil ist, und die einst verhöhnten Flamen heute den Wohlstand produzieren und hüten.
Wenn man die Frage interessant findet, warum so viele Ostbürger den Mauerbau und die betonierte Teilung hingenommen haben, muss man gleichzeitig auch die Gegenfrage zulassen, warum so viel mehr Westbürger ebenfalls nichts gegen Mauer, Stacheldraht und Entwürdigung an der Grenze taten, von Kennedy bis Adenauer und von Meyer aus der Wollankstraße bis Schulz aus Bochum. Martin Luther King, der im September 1964 darauf bestand, auch in Ostberlin zu predigen (und die Ostberliner bestanden darauf, dass er das in zwei Kirchen tat), fand einen schönen Vergleich: während er und die Seinen versuchten zwischen Afro- und Euroamerikanern zu versöhnen, tun es hier die Menschen eben zwischen den beiden Ideologien Christentum und Kommunismus. Das will heute niemand mehr hören.
Die meisten handelnden Subjekte der Wiedervereinigungsjahre waren überrascht und überfordert von der Fülle der Ereignisse, Meinungen und Fehlentscheidungen. Ein großer Teil der Volksmassen zog sich hinter dem Wort ‚Wahnsinn‘ zurück. Viele glaubten aber auch, dass hinter den sich überschlagenden Tatsachen ein Plan aufscheinen könnte. Honecker glaubte, dass Gorbatschow ihn verraten hätte, ein kleiner sowjetischer KGB-Offizier namens Putin nahm an, dass er die aufsässigen Dresdner mit seiner Pistole zur Ordnung rufen könnte. Später stritt er das ab. Im Herzen der CDU war man sicher, dass sich die Präambel des Grundgesetzes von selbst verwirklicht hatte, während die Bürgerrechtler in der Gethsemanekirche in Ostberlin annahmen, dass ihr Gebet erhört worden war. Die SPD zögerte wie seit hundert Jahren, nur die kleine stellvertretende Pressesprecherin der letzten Regierung wusste, dass sie es noch bis ganz oben auf das Treppchen schaffen würde.
Wenn auf jeder Ebene an jedem Tag tausend Entscheidungen getroffen werden müssen, müssen mindestens 800 Fehlentscheidungen darunter sein. Niemand kann alles richtig machen. Im Westen änderte sich fast nichts, im Osten änderte sich alles. Die staatlichen Betriebe wurden von der Treuhand privatisiert, immerhin wurde der erste Treuhandchef erschossen und es fand sich sogar ein zweiter. Man hätte auch das ganze Staatsvermögen an sieben Oligarchen übergeben können. Das wäre einfacher gewesen, aber natürlich nicht auf Dauer. Schließlich, nach dreißig Jahren sehen wir: solche grundstürzenden Veränderungen brauchen Zeit. Andererseits ist Deutschland nach wie vor die viertstärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Vielleicht liegt der Erfolg unseres schönen Landes gerade darin, dass wir, seine Einwohner, immer unzufrieden sind. Und vielleicht liegt der tiefe Sinn der Migration nicht nur in der Verbesserung des Lebens der Migranten, sondern auch in der Erfrischung und Erbauung der Zielländer, und das würde für uns viel Gutes bedeuten, die Chance, die so schwer zu erkennen ist.
Vielleicht ist der Streit zwischen Ost und West müßig und überflüssig wie der Kampf zwischen Stadt und Land und Mann und Frau. Wie das Leben selbst verlaufen diese Auseinandersetzungen als Berg-und-Tal-Bahn, als ewige Sinuskurve, als kleistsche Asymptote. So wie der nicht so traurige und gar nicht verzwergte DDR-Bürger sich die DDR akkommodierte, auch mithilfe von Milkaschokolade und Jakobskaffee aus den Westpaketen, so tobt der Streit ohne Tsunami fort und fort.