LIFE IS MY ROOM FROM WOMB TO TOMB

ZWEI BERLINROMANE, DIE KEINE SIND

Jeweils wenige Straßen in Berlin sind die Landschaft von zwei höchst unterschiedlichen Romanen. Beide Bücher wirken eher dokumentarisch, ihre Fiktion tritt hinter der offensichtlichen und meisterhaften Recherche zurück. So kompliziert und novellenhaft die Plots sein mögen, so greifbar, ja fast plakativ sind die Orte der Handlung: die Utrechter Straße im Wedding und das Großgebiet von der Linien- bis zur Rykestraße in Mitte und Prenzlauer Berg. Und die letzte Gemeinsamkeit: beide leiden etwas unter unübersichtlichem Personal, obwohl Seilers STERN 111 einen eindeutigen und sogar autobiografisch gestimmten Protagonisten hat. Allerdings werden in beiden Büchern die Geschichten hinter den Gesichtern bis in die Einzelheiten geradezu entblößt.

Regina Scheers GOTT WOHNT IM WEDDING liest sich wie eine allwissende Reportage über ein durchschnittliches Mietshaus. Der Leser ahnt natürlich, dass vieles schon deshalb Erfindung sein muss, weil kein Mensch alle diese Einzelheiten der Geschehnisse, Geschicke und Gedanken wissen kann. Allzu oft ist der Berliner Arbeiterbezirk als eindeutig definiert dargestellt worden. Das Lied, in dem das festgehalten wurde, wird selbstverständlich auch zitiert: DER ROTE WEDDING MARSCHIERT. Aber schon wenige Jahre danach marschierte der braune Wedding, dann der türkische, dann der studentische. Die Halbwertzeiten halbieren sich, die Botschaften verkommen zu Palimpsesten. Zwei historische Scheusale stammen aus dem Wedding: der wenig bekannte und gut getarnte Spitzennazi Artur Axmann, nach Baldur von Schirach Reichsjugendführer, er war es, der Hitler einen Tag vor dessen Tod noch die letzten verfügbaren Hitlerjungen vorführte, bevor sie zur Schlachtbank gejagt wurden, und der allseits noch erinnerte Erich Mielke. Beide hatten arme Eltern und erhielten deshalb Stipendien, um im Gymnasium lernen zu können. Beide lernten scheinbar nichts, denn auf den plumpen Sozialdarwinismus als Quintessenz ihres Verbrecherlebens hätten sie auch ohne Stipendium kommen können.

Die beiden Freunde Leo und Manfred, dessen Vater der Besitzer des Hauses ist, müssen in den dreißiger Jahren in die Illegalität gehen. Wenn man bedenkt, dass im heutigen Wedding der schöne Satz gesprayt wird KEIN MENSCH IST ILLEGAL, dann kann man daran erkennen, wie langsam die Geschichte fortschreitet, wenn sie überhaupt fortschreitet. Das sieht man auch daran, dass es schon einmal ein Buch über eine Sintifamilie im Wedding gab, nämlich EDE UND UNKU von Alex Wedding, die Vorurteile gegen die Roma, die seit 600 Jahren unsere Mitbürger sind, aber kaum weniger wurden. Wenngleich es auch viele so genannte U-Boote gab, Menschen, meist jüdischer Herkunft, die untertauchen mussten, weil sie nicht mehr fliehen konnten, so zeigt der Roman doch, dass ihre Überlebenschancen höchstens 50:50 waren. Leo überlebt, Manfred wird in einer Falle verhaftet und ermordet. Die in der Gegenwart steinalte, kaum noch bewegliche Frau Gertrud ist mit allen den Schicksalen im Haus und nur wenig darüber hinaus verknüpft. Sie liebte Manfred und er sie, aber beide bemerkten nicht die Falle aus Eifersucht und Antisemitismus. Freiheit und Demokratie haben aber auch Schmuddelecken. So kommt es, dass in der Gegenwart das Haus zum Spekulationsobjekt verkommt. Menschen ohne Genehmigungen leben dort und zahlen an Subsubunternehmer überteuerte Mieten, die ihnen aber keinen vertraglichen Schutz gewähren.

Seilers STERN 111 ist dagegen beinahe ein Entwicklungsroman, denn der Protagonist Carl sucht seinen Sinn, ja sein Leben. Dagegen stellt sich erst am Ende heraus, dass seine Eltern ein Ersatzleben gelebt hatten und ihren wahren Lebenssinn kannten und verfolgten. Dafür ist das Akkordeon zunächst unverständliche Metapher, dann aber naturnotwendiges Attribut eines ungeahnten und ganz unspießigen Lebens.

Es hört sich trivial an, wenn wir verkünden, dass jeder Zusammenbruch einen Aufbruch enthält oder zumindest von ihm gefolgt wird. Aber wir sollten bedenken, dass die Akteure jeweils den Ausgang ihrer Epoche nicht kennen können. Der Untergang der DDR hätte auch ein Orkus werden können, ein Bürgerkrieg unter Beteiligung der Sowjetunion, ein gewaltsam niedergeschlagener Aufstand, an dessen Ende ein schon zerstörtes Land in Chaos versinkt. Erich Mielke hätte die Macht übernommen und aus der biederen DDR ein Nordkorea ohne Ende gemacht haben können. Dass die Staatssicherheit der größte Unsicherheitsfaktor war, weil er auf Misstrauen gründete, zeigte sich in ihrem schmählichen Untergang und in der letzten Rede ihres unsäglichen Chefs aus dem Berliner Wedding. Aber weil das so unglaublich war, glauben es auch wirklich viele Menschen bis heute nicht und vermuten überlebensstrategische Geld- und Menschenströme im Untergrund, wahrscheinlich noch unter der U-Bahn. In den Reihen der Stasi waren sicher Profiteure, die im Untergang gewannen. Aber was haben sie gewonnen? Sie erhielten zum Lohn den Kapitalismus, den sie vier Jahrzehnte lang verteufelt hatten. Dagegen konnte der gesamte Ostberliner Untergrund mit seiner Harmlosigkeit, seiner Originalität, seiner Verschränktheit auf der einen Seite mit der kurz aufblühenden Prostitution, auf der anderen Seite mit der als Ordnungsmacht gedachten Sowjetarmee, deren klägliche Reste für sich zu retten versuchten, was für sie zu retten war. Eine Großmacht erkennt man an ihrem Bruttosozialprodukt, nicht am Militarismus – so verständlich er in diesem Fall gewesen sein mag – und nicht an den Losungen an den Häusern. Denn auch für die gilt unser schöner Satz, dass das Schicksal der Botschaft das Palimpsest ist. Genauso trivial ist es zu sehen, dass im Zusammenbruch eines großen Systems – also Staat, Gesellschaft, Industrie, Bürokratie – konkrete Menschen tatsächlich zusammenbrechen. Die lost people der DDR beziehen heute Hartz IV und wählen AfD, nachdem sie früher DIE LINKE gewählt haben. Aber es gibt diese verlorenen Menschen auch in Bochum und Dortmund, wo das zusammengebrochene System nicht der Staat, sondern die Industrie war.

Menschen aber, die im Zusammenbruch den Aufbruch wagen, werden in dem meisterhaften STERN 111 beschrieben. Zwar sind es nur die linken Chaoten, die Wohnungs- und Hausbesetzer, die Kellergastronomen und SAMISDAT-Schriftsteller, aber der wirtschaftliche Aufbruch folgte auf dem Fuße und verlangte nicht weniger Mut. Das sieht man schon daran, dass die beschriebenen Stadtteile damals alternativ-verfallen und abgeschrieben waren und heute zu den angesagtesten Wohngegenden gehören, das Gebiet von der Linienstraße in Mitte bis zur Rykestraße im Prenzlauer Berg und zur Richard-Sorge-Straße im Friedrichshain. Aber man muss gar nicht die zumeist aus dem Westen stammenden Investoren meinen, sondern vor allem die einheimischen Handwerker und Handelsleute, die aus eigener Kraft zum Aufschwung beigetragen haben, vor allem auch zu ihrem eigenen. Der Roman straft die Jammerer und ihre Parteien Lügen. Er ist ein literarisches Meisterwerk.

Literarisch ist GOTT WOHNT IM WEDDING nicht so überzeugend, wir nannten die Sprache oben schon ‚journalistisch‘. Aber er hat, vielleicht ohne es zu merken, die vielleicht sogar größere Vision zu bieten. In jeder Straße sind die Geschichten der Häuser enthalten und jedes Haus beherbergt die Geschichten der Menschen, die in ihm gewohnt haben, wohnen und wohnen werden. Und da zeigt sich, dass es in einem beliebigen Haus in Mitteleuropa die Vielfalt der ganzen Welt gibt. Es besteht selbstverständlich eine Korrelation zur Größe der Stadt: die Vielfalt nimmt in Abhängigkeit zur Gesamtbevölkerung zu oder ab, wenngleich heute auch viele Dörfer, da sie mehr Wohnplatz als Produktionsort sind, nicht mehr homogen erscheinen. Auch der Berliner Stadtteil Wedding, der früher einmal ein Dorf mit einer heiltätigen Quelle (‚GESUNDBRUNNEN‘) war, hat seine homogene Einfältigkeit aufgeben müssen und dabei gewonnen. Einfalt ist ein gutgemeint-freundliches Synonym für Dummheit. Vielfalt dagegen bündelt nicht nur die Argumente, sondern auch die Kontraargumente, und kommt zu kreativen Synthesen, durch Denken, durch Arbeiten, durch Erfinden, durch Ergänzen und nicht zuletzt durch Heiraten.  Ich lese den Roman als Spiegelbild einer idealen multikulturellen Gesellschaft. Natürlicherweise hat sie Defizite und Inflationen. Damit müssen wir leben. Nicht nur niemand ist perfekt, sondern auch nichts, auch nicht der sympathischste Stadtteil. Und so spannend wie das wirkliche Leben ist auch dieser so sorgfältig recherchierte und komponierte Roman.     

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