CAMERON CARPENTER IN EBERSWALDE

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Als Scholz* in Prenzlau war, gab es Kaffee und Kuchen. Der Kaffee war alle, der Kuchen gut (siehe dort). Als Carpenter in Eberswalde war, am Dienstag, roch es nach Kaffee, aber es gab keinen. Statt dessen genossen die Menschen die Feld-, Wald- und Wiesenatmosphäre des schönen, mit Kunst aufgepeppten Parks, in dem der LKW mit der elektronischen Orgel parkte. Die Orgel klang etwas übersteuert, was ihr den Beigeschmack eines Rockkonzertes gab. Aber der Meister, er schien die ganze Zeit etwas genervt, spielte reinen Bach, wenn auch verspielt und verziert. Er ist einerseits ein Rockstar, andererseits ein zeitgenössischer Barockmensch. Es gibt Kirchenorganisten, die seinen Stil als effekthaschend und unernst kritisieren. Aber die sind einfach nur musikgeschichtsvergessend. Beethovens mitfühlender Freund Mälzel konstruierte Panoramen und Musikautomaten, für die Großmaestro reinen Lärm komponierte. Die Firma Hupfeld in Leipzig, einst die größte Klavierfabrik der Welt, baute in ihren besten Zeiten Orchestrion-Musikautomaten, automatische Klaviere und Kinororgeln, deren Rasseln, Klappern, Quietschen und Tuten seinerzeit viele Menschen erfreute. Stellen Sie sich vor, wie Charles Marie Widor auf seiner riesigen Cavaillé-Coll-Orgel Bach spielte, nämlich genauso wie seine eigenen Orgelsinfonien: bombastisch. Und stellen Sie sich zuletzt vor, wie der gerade achtzehnjährige Bach selbst, soeben zum Stadtorganisten und Musikdirektor des damals hochbedeutenden Mühlhausen ernannt, mit seiner exaltierten Fugen- und Verzierungskust die selbst ernannten heiligen Stadtväter und Musikbeamten verschreckte.

Carpenter, der schon embryonal genial war, wie seine Mutter berichtet, verziert gerne, steuert den einen oder anderen Ton durch extrem schnelle Läufe an und macht einen Triller schriller als den anderen. Er war vom Beifall genervt, den einige Zuschauer zwischen das Es-Dur-Präludium BWV 552 und die dazugehörige sehr lange und sehr kunstvolle dreiteilige Fuge setzen wollten. Aber er hatte an dem Tag auch schon vor einigen Seniorenresidenzen gespielt. Eberswalde war zudem der letzte Tag einer Deutschland-Tournee nicht nur des guten Willens, sondern der Solidarität mit den durch das Corona-Virus eingesperrten und aller Freude beraubten alten Menschen.

Geschmack ändert sich. Was zählt, ist die Freude, die Mitmenschen bereitet wird. Die Zeit zählt mehr als das Wort von eingeschnappten Kritikern. Vielleicht ist Carpenter – so wie auf ganz anderem Gebiet Robert Wilson – einer der neuen Mittler zwischen dem, was wir unter strenger klassischer Musik verstehen, und dem, was als Rock und Pop gezählt wird, eine Unterscheidung, die ohnehin nicht taugt.

Die angeblich für die Kammer geschriebenen Goldbergvariationen kamen jedenfalls sehr gut und gar nicht übersteuert über die Wiese gelaufen, allerdings in einem atemberaubenden Tempo. Aber vielleicht hat der kleine Goldberg, der sie dem russischen Botschafter in Dresden immer vorspielte, auch so rasend gespielt und  damit seinen Ruf als bester Bachschüler und bester Cembalist seiner Zeit begründet. Und auch sein Freund, der älteste Bachsohn Wilhelm Friedemann, war ein schillernder Effektsetzer und brillanter Virtuose auf der Orgel, durchaus vergleichbar den Großkünstlern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts von Pagagnini und Liszt bis Lang Lang und Daniel Hope.

Eberswalde, einst eine der ersten blühenden Industriestädte Deutschlands, in der DDR als Garnisonsstadt für 50.000 russische Soldaten heruntergewirtschaftet, ist nun ein kleines nachhaltiges Hochschulstädtchen. Dadurch überwiegt, wenn auch nicht gerade bei solchen Konzerten, im Stadtbild die studentische Jugend. Zusammen mit dem Wasser der Kanäle und dem Wald des Urstromtals geben sie der Stadt eine Leichtigkeit und Frische, wie sie im Osten eher selten ist.

Zu diesem fast jungfräulichen und damit deutlich verkannten Charakter der Stadt passt auch ihr ebenfalls lange verkannter bekanntester Bürger, der Arzt Werner Forßmann, der 1929 im Selbstversuch als erster den Rechtsherzkatheter legte. Er scheint dies aus einer Voraussicht der heutigen äußerst häufigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen gewagt zu haben. Der Dank kam spät in Form des Nobelpreises 1956 und der Umbenennung seiner einstigen Wirkungsstätte auf seinen Namen im Jahre 1990.

 

*wer ist Scholz?

2 Gedanken zu “CAMERON CARPENTER IN EBERSWALDE

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