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Diese Frage meint ja nicht den Ort oder das Land unserer Herkunft, die bei Inländern meist eindeutig erkennbar sind, sondern will die Übereinstimmung unserer Wahrnehmung mit der Wirklichkeit diskreditieren. Insofern ist dieses Scheinargument seelenverwandt mit der vermeintlich erkenntnisbringenden Zeugenschaft. Wer dabei gewesen ist, glaubt, Bescheid zu wissen und bringt das gern als Beweis ein. Auch Verwandte und Bekannte reichen dem Scheinargumentvorbringer als Zeugen und Beweislast aus. Warum, fragt schon Nathan den Saladin, soll ich meinen Vätern weniger glauben als du den deinen? Aber so ist es nicht. Auf der einen Seite kann keiner, der dabei gewesen ist gleichzeitig die Wahrheit gepachtet haben, andererseits vertrauen wir zurecht auch wildfremden, wenn wir sie als Mitmenschen erkannt haben.
‚Wo leben Sie denn‘, fragt also jener, der glaubt, es besser zu wissen. Dass Deutschland besonders seit der ….krise* nicht mehr lebenswert sei, rief ein lebhafter Rentner bei reichlich Kaffee und Kuchen in die Runde seiner Altersgenossen. Als er zurückgefragt wurde, was der denn so schrecklich an seiner Heimat finde, widersprach als erster der Gastgeber und rief aufgebracht, dass solche Fragen zwar erlaubt wären, aber doch zu sehr polarisieren könnten. Aber der lebhafte Greis ließ sich nicht hindern, auf die polarisierende Frage zu antworten. Erstens, sagte er, gäbe es in Deutschland keine vollständige Demokratie, denn nur die Hälfte der Abgeordneten sei vorher namentlich bekannt. Zweitens gäbe es, trotz aller Versprechungen der Politiker, keine gleichen Lebensbedingungen in den verschiedenen Landesteilen. Und drittens täusche die Regierung über die Untauglichkeit der Elektroautos hinweg, deren schiere Menge dazu führen werde, dass er mit seinem Diesel, einst über dreißig Minuten an der Tankstelle würde warten müssen.
Man kann den Inhalt der Fragen leicht abtun, gehen sie doch nicht nach Deutschland aus, sondern nach seinem Wahlsystem, das vielleicht schwer zu verstehen, aber auch wieder nicht leicht abzulehnen ist, nach demografischen Entwicklungen, vor denen die Politik gern die Augen verschlossen hat, die aber nichts mit böswilliger Absicht und nichts mit Ost und West, noch nicht einmal mit Deutschland zu tun haben, und schließlich nach der Fragwürdigkeit der politischen Einflussnahme auf die Wirtschaft.
Vielmehr ist die Hochrechnung des bösen Ausgangs, wie sie in allen letzten Krisen von einer zunächst erstarkenden neuen Rechten als neue oder vielleicht uralte Argumentationsmethode favorisiert wird, interessant. Man muss seinen Blick zunächst so weit wie möglich subjektivieren, was auch schlichten Gemütern meist recht gut gelingt. Die meisten Menschen interessieren sich nicht für die meisten Menschen. Sodann fällt es uns nicht schwer, den bösen Ausgang eines Trends vorauszusagen, denn Ängste hat jeder. Ängste widersprechen auch gerne unseren Erfahrungen von Urvertrauen, Zuwendung und Hilfsbereitschaft. In unseren Gegenden haben die fast alle Menschen eine Mutter, und wer sie nicht hatte, ist doch aufgefangen worden. Leider kann man zwar doch tiefer fallen als in Gottes Hand, wie ein ganz dummer Buchtitel einer populistischen Autorin falsch verspricht, aber es sind hier und heute ganz wenige, die tiefer fallen. Will sagen: die Theodizee ist nicht nur nicht gelöst, sondern nicht lösbar, außer man sieht jegliche Evolution als identisch mit Gotten Willen. Merkwürdig ist aber auch die neuartige Umkehr der Theodizee: man kritisiert jetzt gerne, dass schlechten Menschen gutes widerfahre.
Jeder kann argumentieren, wie es ihm gefällt und Erfolg zu bringen verspricht, jedoch sollte er sich nicht wundern, wenn ein anderer mit dem gleichen Recht gegenteilig argumentiert. Da hilft es nicht zu fragen: WO LEBEN SIE DENN?
*hier können Sie ihre allerschockierendste Lieblingskrise einfügen