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Die kleine Stadt ist ausgestorben. Auf dem Markt, wo einst das Rathaus stand, sitzen ein paar ratlose Jugendliche und klappern mit ihren Bierflaschen, begleitet vom Bass ihrer Box. Kein Fußgänger ist zu sehen, nur ein verwundeter Radfahrer. An einer Litfasssäule hängt ein Plakat:
hier steht noch alles doch ist alles leer
das mittelalter dünstet hohl in gassen
das neugebaute kann kein auge fassen
die glocke dröhnt und leichtes wird hier schwer
die stadt zum zweiten letzten mal verlassen
so viele schulen und kein schüler mehr
zerstörung ruinierung ohne heer
ein sattes innen aber ohne sassen
von ferne scheint die kirche asymmetrisch
doch innen durch die orgel voll verstrahlt
und kein tabu stört diesen letzten fetisch
an den wir selber singend sicher glauben
und während gottes mühle schneller mahlt
zerfällt ein fachwerkhaus mit seinen gauben*
Die Thomas-Müntzer-Straße stadtauswärts sieht aus wie eine Hausaustellung. Am Ende ist ein riesiges, aber nicht eingefriedetes Haus tatsächlich zu verkaufen. Es ist weder eine Villa noch ein Mietshaus. Es such vielleicht eine Gemeinschaft.
Die Straße verrät ihr Geheimnis noch nicht. Sie wird von einer Bahnlinie gekreuzt, das Bahnwärterhaus ist verlassen, der Bahnwärter, der vielleicht sein Kind verlor, ist durch Automaten ersetzt. IN DEUTSCHLAND ALLES AUTOMATIK. Dann kommt das Geheimnis der Straße: auf einem großen Stein ist eingemeißelt, dass hier einst vierundzwanzig deutsche Soldaten erschossen wurden. Aber von wem? Die Endmoräne, jetzt kommt das wirkliche Geheimnis, hat eine Berg- und Talbahn geschaffen, die den Radfahrer maßlos freut und spaßlos ärgert, eine Sinuskurve wie das Leben, wie das Kreuz des Lebens.
Schließlich rollen wir in ein Dorf, in dem eine einizge Frau, ebenfalls auf dem Fahrrad, zweimal an uns vorbeifährt, während wir das kunstvolle Mauerwerk der Dorfschmiede bewundern, die aber wohl eine Gutsschmiede gewesen sein wird. Jedoch ist das Gut samt seinen letzten Besitzern, die man auf dem Friedhof bewundern kann, verschwunden. Von der Dorfstraße, noch vor der Kirche, biegt die ehemalige Gutsstraße ab, immer noch gesäumt von Scheunen, in denen aber nichts Essbares mehr gelagert wird. Vor einer liegt Schrott, vor einer anderen steht ein alter Verkaufswagen: THÜRINGER ROSTBRATWURST, er hat sich wohl letztmalig verfahren. Zwei Biertrinker winken fröhlich herüber. Aber am Ende der Allee steht das spätbarocke Schloss, so heißen hier die Gutshäuser, dessen neue Putzfarbe gerade dabei ist, erneut abzufallen, seine letzten Besitzer, die auf dem Friedhof, kauften es von einem verarmten Grafen von Schwerin, der wie wir mit dem Fahrrad kam, um im Rucksack die hunderttausend Reichsmark Kaufpreis abzuholen.
Jetzt steht ein Schild KUNST OFFEN vor dem Schloss, das aber verschlossen ist. Der neue Besitzer sitzt im Garten in der spärlichen Frühlingssonne. Er ist ein Künstler, der sowohl ziemlich konventionelle Bilder malt, aber auch konstruktivistische, vor allem aber höchst originelle Skulpturen macht, die nur aus der Außenhaut bestehen, die entweder aus Kupfer oder aus Gips ist. Aber auch die zunächst für konservativ gehaltenen Bilder sind doch siebenfache Selbstbildnisse. Vielleicht macht der Künstler demnächst eine Membranskulptur von der kleinen leeren Stadt, in die wir im frischen Abendwind zurückrudern und die nun noch leerer als leer ist. Ein dicker Junge schläft mit seiner Bierflasche in der Hand auf dem Markt.
*Stordeur, 36 Sonette, epubli